Friedrich Mildenberger, Abraham und wir – einige systematisch-theologische Reflexionen (1980): „Solange und soweit unser Bemühen um die Bibel das Werk ist, dessen wir uns rühmen – jeder kanns besser, und der Dogmatiker natürlich sowieso besser als der Exeget, aber miteinander können wir’s doch am allerbesten – solange wird nichts Rechtes daraus. Aber vielleicht begegnet uns Abraham wieder, wenn wir uns herausrufen lassen aus unserer idololatria Chaldaica und uns wieder auf den Weg machen, um hinter die historischen und hermeneutischen, die wissenschaftlichen und religiösen Horizonte zu kommen, in denen wir die Bibel gerade nicht erfassen können.“

Abraham und wir – einige systematisch-theologische Reflexionen

Von Friedrich Mildenberger

Meine Überlegungen sollen nicht in der schweren dogmatischen Rüstung Sauls daherschreiten. Hoffentlich treffen sie trotzdem oder auch deswegen. Ich versuche, unser Problem so anzugehen, daß ich einige Reflexionen zu den drei Fragen vortra­ge:

Wo begegnet uns Abraham? Wie begegnet uns Abraham? Wann begegnet uns Abraham?

1. Wo begegnet uns Abraham?

Die Antwort ist zunächst einmal leicht gegeben: In der biblischen Geschichte. Da ist Abraham eine vertraute Gestalt, wenigstens für den, der Kindergottesdienst, einen Religionsunterricht alter Art (als bibelzentrierten Unterricht) und ähnliche kirchliche Veranstaltungen regelmäßig besucht hat. Was bleibt aber von solcher Begegnung als Lebenswirklichkeit, wenn wir genauer zusehen? Da ist die feine Art, in der Abraham mit Lot auseinanderkommt, als ihre Leute in Streit geraten: „Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken“ (Genesis 13,9). So soll das sein unter Brüdern! Es ist eine eindrückliche Moral, dem anderen so den Vortritt und die Wahl zu lassen. Freilich ist das dort beschwer­lich, wo man dieses Exempel dann vorgehalten kriegt oder auch sich selbst vorhält; denn so selbstverständlich ist eine derartige Konfliktlösung ja nicht, daß man sich ohne weiteres an diese Regel hielte. Da ist die Erinnerung an die Fürbitte für Sodom; allerdings zuletzt doch eine hoffnungslose Sache, denn die zehn Gerechten finden sich eben nicht. Da ist die Erzählung von Isaaks Opferung, unheimlich und unverständlich. Und daß hier in dem zum Opfer des Sohnes bereiten Abraham Gott selbst vorgebildet sein sollte, der seines einzigen Sohnes nicht verschont hat, das bringt einem Verstehen auch nicht viel näher. Wie Abraham, so hat doch erst recht Gott selbst seinen Sohn wiederbekommen durch die Auferweckung. War es also mit dem Opfer ganz ernst? Da ist dann die Verheißung an Abraham: „Du sollst ein Segen sein“ (Gen 12,3) und mit ihr die Frage, ob das auch für uns gilt. Das wäre dann die Aufforderung: „Du sollst ein Segen sein, wie Abraham“ und also wieder eine moralische Applikation. Schließlich ist da die Erinnerung an den Choral: „Alles, was Odem hat, lobe mit Abrahams Samen“. Aber wer soll das noch verstehen? Und die Anmerkung im württembergischen Gesangbuch zu diesem Vers: „Römer 4. Die im Glauben Abrahams Kinder sind“ ist ja auch nicht so erhellend, daß sich da nun ein spontaner Lebensbezug zu dem Vater Abraham einstellen müßte.

Wo begegnet uns Abraham? Das Fazit einer ersten Bestandsaufnahme ist eher kümmerlich. Wir begegnen diesem Abraham in der biblischen Geschichte. Aber da begegnet er uns als moralisches Exempel, doch nicht nur in seiner Auseinanderset­zung mit Lot, sondern auch in seiner Fürbitte für das sündige Sodom und auch in seiner Eigenschaft als der Gesegnete, der ein Segen sein soll. Gewiß ist damit systematisch-theologisch noch nicht viel gewonnen. Aber das Ergebnis einer solchen Anamnese, das sich an kirchlich vermittelte Begegnungen erinnert und zunächst einmal die theologische Beschäftigung mit Abraham ausklammert, ist doch auch nicht ohne Gewicht. Es könnte sein, daß da mit dem Vater des Glaubens mehr abhanden gekommen ist als eine biblische Interpretation einer biblischen Gestalt. Es könnte sein, daß uns Abraham so gleichgültig geworden ist, weil uns der Glaube Abrahams fremd geworden ist. Zugehörigkeit zur Gemeinde realisiert sich mora­lisch. Ist das der Grund, weshalb uns Abraham zuerst und vielleicht nur moralisch kommt – im paränetischen Kontext, wie man auch sagen kann, damit es besser klingt? Das hieße dann ja nicht nur, daß wir in unserem Verstehen Abrahams hinter Mose und Paulus Zurückbleiben, sondern daß unser Glaube, unsere Christlichkeit, Zugehörigkeit zu dem, was wir als Heil ansehen, eine höchst problematische Sache ist.

Aus diesem Stück kirchlicher Erfahrung, das nicht gut anders denn als Erfahrung eines Defizits zu bezeichnen ist, soll jetzt zunächst eine hermeneutische Konse­quenz gezogen werden: Die Bibel, um deren theologisches Verständnis wir uns bemühen, und das Leben – und zwar Leben des Glaubens in der kirchlichen Gemeinschaft – sind nicht zwei Größen, die je für sich erfaßt werden könnten. Ein Verstehen, das sich nicht mit einem bloß philologisch-historischen Erfassen der biblischen Texte begnügt, verlangt eine Begegnung mit der Sache, mit dem Heil, von dem da die Rede ist. Das läßt sich nicht erzwingen. Dazu braucht es den lebendigmachen­den Geist. Sonst bleibt, bei aller historischen und philologischen Kunst, die Bibel tot. Ich denke dazu an 2. Korinther 3. Sicher hat da auch der Buchstaben­dienst seine doxa. Aber dabei bleibt nun doch die Decke, die das Geistleben der Schrift verhüllt. Und solange es bei solchem buchstäblichen Erfassen der Bibel bleibt, ist auch das Neue Testament eine palaia diathēkē, das alte Buch aus der längst vergangenen Zeit. Das buchstäbliche Erfassen holt da nicht aus dem toten Text den lebendigen Geist heraus. Vielmehr ist unser Verstehen darauf angewiesen, auf den Geist zu warten, der lebendig macht. Und dieser Geist weht ja bekanntlich, wo er will (und sicher nicht nur in unseren Studierstuben und gerade dann, wenn wir an einer Exegese sitzen). Es könnte sein, daß uns allen gerade angesichts des theologisch unverzichtbaren Projekts einer Biblischen Theologie zunächst einmal die Einsicht recht gut bekommt, daß auch da Warten und Aufmerken not tut, weil das lebendige Wort, nach dem wir fragen, von anderswoher seine Lebendigkeit nimmt als aus uns. Wir können allenfalls – das ist mir immer ein eindrückliches Bild unserer historischen Methodik gewesen – wie Odysseus in der Unterwelt den Schatten von unserem Leben so viel mitteilen, daß sie uns auf unsere Fragen antworten. Aber sobald wir sie festhalten wollen, entziehen sie sich wieder und sinken in den Tod zurück. Als einen solchen historischen Schatten können wir Abraham natürlich jederzeit beschwören. Aber wir sind dann nicht mit Abraham zusammen in jener eschatologischen Situation, in der sich uns in ihm das lebendige Heil erschließt (Römer 4,23).

Ich habe die Frage danach gestellt, wo wir Abraham begegnen. Das ist eine Frage, die nicht durch religiöse Erfahrung allein zu beantworten ist, aber auch nicht allein durch den Verweis auf die biblischen Texte, in denen von Abraham die Rede ist. Wir begegnen Abraham im lebenschaffenden Geist, In dem er zum Vater aller Glaubenden wird. Das ist eine theologisch korrekte Antwort, und vielleicht müssen wir uns damit vorläufig begnügen. Dort, wo das geschieht, da kann es zu einer Biblischen Theologie kommen, die solches Geschehen dann reflektiert und begrifflich ausarbeitet. Es scheint mir zunächst einmal unumgänglich, das festzuhalten, damit wir mit unserem theologischen Projekt nicht zu kurz greifen. Das hieße, die Bibli­sche Theologie im Raum der Historie anzusiedeln, an der Grenze zum Hades, wo wir darüber bestimmen, wer wann zu Worte kommen darf, weil wir gerade ihm jetzt unsere Lebendigkeit leihen. Wir sollten freilich auch nicht zu weit greifen mit diesem Projekt, indem wir meinten, wir müßten darum nun das Leben des lebenschaffenden Geistes selbst herausbringen. Über den Geist und die Freiheit, die der Geist eröffnet, verfügen wir nicht. Geduld, Aufmerken und Warten ist da alles. Wir können allenfalls uns auf eine zweifache Ortsbestimmung einlassen, die uns anweist, wo wir in diesem lebenschaffenden Geist auch dem Vater Abraham begegnen können: Dieser Ort ist unsere Gegenwart, und dieser Ort ist die Schrift. Schrift, unsere Gegenwart erschließend, Gegenwart, durch die Schrift erschlossen. Ich nehme in dieser Ortsbestimmung auf, was im neutestamentlichen Referat als die Zusammengehörigkeit von Volk Gottes und Schrift betont worden ist.

2. Wie begegnet uns Abraham?

Daß wir nicht über den Ort unserer Begegnung mit Abraham verfügen – und Begegnung mit Abraham steht ja dafür, daß wir durch den lebenschaffenden Geist in die Heilsgemeinde eingefügt werden das bedeutet nun nicht, daß darum Willkür des Behauptens an die Stelle einer verständigen Kommunikation treten müßte. Wir setzen hier ja voraus, daß die Freiheit, in die der Geist versetzt, die eschatologische Freiheit der Kinder Gottes ist. Da ist dann Friede, nicht das chaotische Durcheinander (vgl. 1.Korinther 14,38) – wozu ich ganz im Vorbeigehen doch auch bemerken möchte, daß unsere behauptete Wissenschaftlichkeit nicht die Exegese, aber erst recht nicht die Dogmatik davor schützt, gegenwärtig ein trauriges Bild solcher akatastasia abzugeben. Friede, das hieße hier dann Übereinkunft, minde­stens Verständigung. Und dazu werden wir uns untereinander befragen, gerade auch durch die Zeiten hindurch, wie man eigentlich Abraham begegne, da doch andere, Paulus und die paulinischen Gemeinden, aber vorher schon Israel, das sich von Abrahams Glauben erzählte, diesem Abraham heilsam begegnet sind. Solche Begeg­nung muß doch wohl ihre Eigenart haben, die wir wenigstens ein Stück weit erfassen können. Wenn wir uns darauf einstellen, dann steigt vielleicht doch auch die Chance, daß wir mit Abraham zusammenkommen. Und er wird uns dann, so ist zu vermuten, gerade nicht moralisch kommen. Denn das Moralische ist unstrittig. Aber um Abraham und also um den Ort des Heils wird gestritten, wie uns Paulus ausweist. Dabei lasse ich nun die alt- und neutestamentlichen Ausführungen anstehen, obwohl die natürlich maßgeblich an den hier notwendigen Überlegungen mitbeteiligt sind. Ich greife vielmehr an einer kleinen Ecke die reformatorische Begegnung mit Abraham auf. Nicht bei den Heroen der ersten Generation, dort, wo der reformato­rische Durchbruch noch unmittelbar gegenwärtig und der Enthusiasmus der neuen Heilserfahrung ungebrochen war. Sondern dort, wo man versuchen mußte, diese Heilserfahrung in eine Lehre zu fassen und als schriftgemäß gegen die Angriffe des Katholizismus zu verteidigen, der sich seinerseits im Trienter Konzil neu formiert hatte.

Das Thema ist hier die iustificatio sola fide. Wie steht es eigentlich mit diesem rechtfertigenden Glauben? Das Tridentinum hat hier selbst seinen Anspruch auf die Schrift angemeldet und erklärt,

„was es bedeutet, daß der sündige Mensch durch den Glauben und ohne eigenes Verdienst gerechtfertigt wird. Der Apostel sagt, daß der Mensch ‚durch den Glauben‘ und ‚ohne Verdienst‘ (Röm 3,22.24) gerechtfertigt werde. Diese Worte sind so zu verstehen, wie es die katholische Kirche stets einmütig festhielt und erklärte. ‚Wir werden durch den Glauben gerechtfertigt‘: so heißt es deshalb, weil der Glaube Beginn des Heils für den Menschen, Grundlage und Wurzel jeder Rechtfertigung ist; ohne ihn kann ja niemand Gott gefallen (Hebr 11,6) und ‚ohne Verdienst‘ gerechtfertigt: so heißt es deshalb, weil nichts von dem, was der Rechtfertigung vorausgeht, weder Glaube noch Werke, die Gnade der Rechtferti­gung verdient. Denn wenn sie Gnade ist, dann ist sie nicht aus Werken, sonst wäre die Gnade, wie der Apostel sagt, eben nicht Gnade (Röm 11,6)“ (Neuner-Roos 803, DS 1532).

Sicher grenzt man sich dabei dann auch von der inanis haereticorum fiducia, dem eitlen Vertrauensglauben der Häretiker, ab. Aber die reformatorische Lehre vom Glauben muß nun gerade begründet dem widersprechen, daß dort die Schrift recht verstanden und ernstgenommen ist und also dort die Heilsgemeinde sich konstituiert. Das ist gar nicht so einfach, denn nicht nur führt das Tridentinum reichlich Bibelstellen an, sondern man will auf katholischer Seite besser glauben und die Schrift höher achten. Dabei ist solcher Glaube dann ein gehorsames Fürwahrhalten dessen, was göttlich offenbart ist, und man kann den Evangelischen als Konsequenz vorhalten, „es sei ein Glaubensartikel, daß der Hund des Tobias mit dem Schwanz wedelte“ (als Behauptung der Jesuiten auf dem Regensburger Reli­gionsgespräch von Johann Gerhard mitgeteilt, Loci XVI, 129). Aber wenn das zu glauben ist, dann kann doch gewiß solcher Glaube nicht der rechtfertigende Glaube sein!

Dagegen muß man sich bei den Evangelischen wehren; und kommt dabei dann zur differenzierenden Bestimmung dessen, was solcher allgemeine Glaube und im Unter­schied dazu der Rechtfertigungsglaube sei. Ich führe aus Martin Chemnitz, Examen concilii Tridentini, an:

„Diesen Einwand gebrauchen die Papisten, um gegen offen­kundige Zeugnisse der Schrift mit einigem Schein dafür zu streiten, die Verheißung der unverdienten Barmherzigkeit um Christi willen sei nicht der eigentliche und vornehmste Gegenstand (obiectum) des rechtfertigenden Glaubens. Das wiederum behaupten sie deshalb, um zu begründen, daß der Glaube seine Kraft und Macht (vim et virtutem) zu rechtfertigen nicht von seinem Gegenstand habe, den er ergreift, sondern daß er durch die Liebe verwandelt werden müsse. Denn der Glaube rechtfertigt ja nicht deshalb, weil er im Verstand den Fall der Mauern Jerichos begreift; darum, so lehren sie, müsse eine andere, bessere Tugend, nämlich die Liebe, sich dem Glauben zugesellen, durch deren Wert er verwandelt werde (formetur) und so rechtfertige. Die Widerlegung dieses Einwandes ist einfach und klar. Wir bestreiten gar nicht, daß es unterschiedliche Glaubensgegenstände gibt; im Gegen­teil, der Glaube im allgemeinen Sinn (fides in genere) hält sich bei all dem auf, was in Gottes Wort durch Gott offenbart ist. Aber hier steht doch in Frage, was der Gegenstand sei, auf den sich der rechtfertigende Glaube eigentlich und hauptsäch­lich richtet (proprie et principaliter intuetur), wenn er Vergebung der Sünden, Versöhnung, Kindschaft (adoptionem) usw. suchen, finden, ergreifen und empfangen will“ (1,291).

Die reformatorische Erfahrung des rechtfertigenden Glaubens muß hier also so formuliert werden, daß deutlich wird: nicht in dem glaubenden Subjekt liegt die rechtfertigende Kraft dieses Glaubens, sondern in der Verheißung, die der Glaube ergreift, in Christus, an den er sich hält.

Das geschieht in Form von Distinktionen, wie sie die Methode dieses theologi­schen Denkens bestimmen. Da wird die fides in genere mit ihrem Gegenstand, dem göttlichen Wort überhaupt, von der fides iustificans unterschieden. Sicher ist diese fides dann ein Sachverhalt, den die Reflexion auffindet und der psychologisch beschrieben werden kann. Aber so ist der Glau­be gerade nicht rechtfertigender Glaube.

„Man muß den Glauben in doppelter Hinsicht bedenken. Erstens als qualitas in nobis, nämlich als eine Kenntnis im Verstand und als eine Zustimmung im Willen (notitia in mente, assensus in voluntate). Aber in dieser Hinsicht rechtfertigt der Glaube keinesfalls … Zweitens relate: Sofern er nämlich auf Christus blickt und ihn mit all seinem Gehorsam und seiner Gerechtigkeit ergreift. Joh 3,16 Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden usw. Römer 3,26 Daß er gerecht sei und gerecht mache den, der da ist des Glaubens an Jesus. Aus diesen und einer Fülle derartiger Zeugnisse geht klar hervor, daß der Glaube nicht rechtfertigt, sofern er eine Beschaffenheit in uns ist, sondern sofern er sich auf Christus richtet, der allein unsere Gerechtigkeit ist“ (Matthias Hafenreffer, Loci theologici 1603, 672f).

Die Blickrichtung geht also weg von dem Glaubenden, hin auf Christus. So ist rechtfertigender Glaube zu verstehen, relate, als die Bindung an Christus bzw. an die promissio evangelica. Aber da kommt dann wieder der papistische Einwand, den man nicht ignorieren kann: Es verändert sich doch etwas, wenn einer zum Glauben kommt, wenn die Gnade in ihm wirksam wird. Das muß sogar geschehen, wenn das Vertrauen auf den rechtfertigenden Gott nicht eben eine inanis fiducia, ein „eitler Vertrauensglaube“ sein soll, der im Gericht zuschanden wird. In der Tat ändert sich etwas; das können und wollen die Evangelischen nicht bestreiten. Aber gerade hier geht es um die ganze Wahrheit des reformatorischen Evangeliums, das gegen diesen Einwand festgehalten werden muß: so wenig der Glaube, betrachtet als eine qualitas in nobis, rechtfertigt, so wenig ist diese unbestreitbare und tatsächliche Verände­rung etwas, worauf irgendwelche Ansprüche Gott gegenüber gegründet werden könnten. Und hier begegnet der Vater Abraham, kommt in dieser Verlegenheit den Evangelischen zu Hilfe – Abraham, wie ihn die Schrift bezeugt. Nicht die festge­stellte Veränderung rechtfertigt vor Gott, sondern allein der Glaube.

„Das klarste Zeugnis ist das, das sich im Römerbrief im 4. Kapitel findet, wo Paulus, als er den Abraham als allgemeines Beispiel der Rechtfertigung anführen will (propositurus), den er deshalb den Vater des Glaubens nennt, so in der Be­schneidung wie in der Unbeschnittenheit, diesen Abraham nicht in der frischen Bekehrung nimmt, als er eben aus dem chaldäischen Götzendienst heraus berufen wird, Genesis 11. Josua 24. Dann könnte die ausschließende Partikel (ohne Werke) auf die Werke beschränkt werden, die er vor seiner Bekehrung, noch nicht wiedergebo­ren, als Götzendiener getan hatte. Aber wenn er nun von seiner anfänglichen Berufung an Gott im Glauben gehorsam gewesen war, eine geraume Zeit lang, vom 11. bis zum 15. Kapitel der Genesis, da war er gewiß erneuert im Geiste seines Gemütes und geschmückt mit vielen hervorragenden Werken und Früchten des Geistes. Hebr 11. Und hier nun, sozusagen mitten im Fortgang der guten Werke Abrahams, wirft Mose im alten und Paulus im neuen Testament die Frage auf: was begründete denn damals die Rechtfertigung Abrahams, die Erbschaft des ewigen Lebens? Auf eben diesen Abraham, der schon wiedergeboren war in geistlicher Erneuerung und mit vielen guten Werken geschmückt, wendet Paulus diese Sätze an: Dem, der nicht Werke tut, glaubt aber an den, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube als Gerechtigkeit angerechnet. Auf diesen Abraham wendet er auch diesen Satz an: David sagt, die Seligkeit gehöre dem Menschen, dem Gott die Gerechtigkeit zurechnet ohne Werke. Ganz gewiß aber war zu jener Zeit der schon wiedergeborene Abraham nicht ohne gute Werke, sondern hatte viel Gutes durch den Glauben vollbracht, wie der Brief an die Hebräer im 11. Kapitel bezeugt. Und dennoch nimmt der Heilige Geist durch Paulus dieser Erneuerung Abrahams durch sein Tun und die Werke offenkundig das Lob und den Ruhm der Rechtfertigung vor Gott zum ewigen Leben weg und entzieht sie ihm. Er tut das an jener Stelle, wo er Abraham vorstellt nicht nur als einzelne Person, sondern als Vater des Glaubens und allgemeines Beispiel der wahren Rechtfertigung: es ist nämlich nicht nur wegen Abraham geschrieben, sondern auch um unseretwillen, denen es zugerechnet werden soll. Römer 4. Und er setzt dazu: wenn Abraham aus Werken gerechtfertigt ist, dann kann er allerdings bei Menschen Ruhm haben; aber nicht bei Gott“ (Chemnitz 1, 243).

Hier begegnet Abraham in und mit der Schrift. Die Geschichte Abrahams und die Erzählung der Bibel laufen so ineinander, daß als Zeitangabe für das Leben Abrahams dienen kann „vom 11. bis zum 15. Kapitel der Genesis“. Und Abraham als der Vater des Glaubens begegnet so, daß er selbst dem Glauben zuhilfe kommt, gegen das Vertrauen auf die Werke. Diese Geschichte Abrahams stellt klar: Nicht eine feststellbare Veränderung ist der Grund dafür, daß Abraham für gerecht erklärt wird. Gewiß fehlt ihm solche Veränderung nicht. Aber nicht darauf vertraut er, sondern auf Gottes Verheißung. Und in diesem Glauben ist er gerecht. So begegnet Abraham in der Schrift und mit der Schrift als Vater des Glaubens, hier, bei den Evangelischen, die sich schwer tun, die Erfahrung und Entscheidung der Reformation festzuhalten und in ihr sich einmütig zusammenzufinden. Da ist das, was von Abraham geschrieben steht, die Gegenwart erschließend und für diese Gegenwart, nämlich ihre Frage und Anfechtung, da; hier wird die Schrift lebendig. Für den Glauben tritt da Abraham ein. Das ist schon eine Antwort auf die zweite der gestellten Fragen: Wie begegnet uns Abraham? Er hilft dem Glauben zu seinem Recht. Wenn wir Abraham begegnen, dann so, daß er unserem Glauben hilft.

3. Wann begegnet uns Abraham?

Die Antwort ist dogmatisch leicht zu geben: Ubi et quando Visum est Deo, dann, wenn wir durch den Glauben, den Gott selbst wirkt, mit dem Vater des Glaubens zusammengeschlossen sind. Ich könnte auch so sagen: Dann begegnet er uns, wenn wir Hilfe brauchen für diesen Glauben, weil sich da die Werke eingeschlichen haben, weil da das Verfügbare und Vorzeigbare Macht gewinnen will und sich anschickt, den Glauben zu verfälschen und zu verdrängen. Dann braucht der Glaube Abraham als Vorbild und Beispiel, sich mit ihm zusammenzuschließen, wie wir das bei Paulus sehen und wie es doch auch Chemnitz in seinem Examen concilii Tridentini sehr schön zeigt. Doch kommt uns hier gleich die kritische Frage dazwischen – wir alle sind ja durch die strenge Schule historisch-kritischer Arbeit gegangen und wissen, was die Verpflichtung auf historische Wahrhaftigkeit uns abverlangt –: Geschieht das eigentlich zurecht, daß sich Chemnitz in seiner Kontroverse mit den tridentinischen Theologen den Abraham herholt und ihn den Papisten entgegenhält? Abraham ist da doch nicht nur der Zeuge des Glaubens im allgemeinen. Er ist Zeuge für ein streng forensisches Verständnis des Rechtfertigungsgeschehens. Der Glaube empfängt die fremde Gerechtigkeit Christi, und indem er diese Gerechtigkeit ergreift und sich daran hält, gilt diese Gerechtigkeit vor Gott als die seine, sie wird ihm zugerechnet – fides eius imputatur ad iustitiam. Ist das so gemeint, bei Paulus in Römer 4 oder erst recht in Genesis 15,6, auf das sich wieder Paulus bezieht? Die Frage so stellen heißt sie verneinen. Ist also Chemnitz oder auch Paulus gar nicht dem Abraham begegnet, sondern im Grunde nur sich selbst, als er meinte, er hätte da eine Hilfe in seinem Kampf für die Glaubensgerechtigkeit gegen die Gesetzeswerke?

Genau hier liegt, so denke ich, eine ganz wichtige Frage vor, die wir so oder so entscheiden müssen, wenn es zu einer ordentlichen Biblischen Theologie bei uns kommen soll. Ich will dabei mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg halten, nehme wieder auf, was ich im ersten Teil kritisch zur historischen Methode gesagt habe. Zunächst muß ich aber die Fragestellung noch weiter explizieren. Paulus hat in seinem Streit um die Glaubensgerechtigkeit den Abraham zur Hilfe herbeigeholt und Chemnitz den Paulus samt Abraham, als es darum ging, seine forensisch-imputative Auffassung der Rechtfertigung gegen das Tridentinum zu verteidigen. War das legitim, oder wurde dabei der Text mißbraucht? Wenn Genesis 15,6 oder auch Römer 4 nicht so gemeint waren, wie sie dann von Chemnitz beispielsweise angewandt wurden, dann muß man doch eigentlich von einem Mißbrauch reden, von einer willkürlichen Verwendung des Textes. Sicher, wir sind es gewöhnt, den damaligen Schriftgebrauch nachsichtig zu beurteilen. Man wußte es eben nicht besser, hatte noch nicht unsere historischen Methoden ausgebildet, hatte ein anderes, unmittelba­reres Verhältnis zur Überlieferung und ihrer Autorität, als wir das heute haben. Aber die stillschweigende Voraussetzung, die wir dabei machen, ist doch die: Wir wissen besser als Paulus, wie Genesis 15,6 gemeint war, weil wir es in seinem histori­schen Kontext verstehen. Wir wissen erst recht besser als Chemnitz, wie Römer 4 und seine Anführung Abrahams gemeint war. Darum sind wir dann ja leicht bei der Hand mit dem Vorwurf, daß dort oder hier der Text mißbraucht worden sei; auch wenn wir die Verwendung des Textes mit anderen, nicht so strengen exegetischen Grund­sätzen entschuldigen, steckt ja ein solcher Vorwurf schon in einem derartigen Entschuldigen mit drin.

Nun frage ich sehr direkt: Hat eigentlich Chemnitz den Abraham richtig verstan­den, als er ihn gegen die tridentinische Auffassung der Rechtfertigung sich zur Hilfe holte? Ich habe vorhin unterstellt, daß Römer 4 eigentlich nicht so gemeint war, wie es dann von Chemnitz auf sein imputatives Rechtfertigungsverständnis angewandt wurde. Aber nun noch einmal: Hat er nicht doch richtig verstanden, dieser Chemnitz? War da nicht doch die lebendige Kraft des Gotteswortes, Geist und Leben, in dieser sieghaften Anführung Abrahams gegen die tridentinische Veränderungstheologie und Psychologie? War nicht in dieser Anführung des Abraham als testis veritatis die Schrift richtig verstanden, weil richtig angewandt? Ich will das jetzt einmal so annehmen, setze also voraus, daß nicht nur Paulus Genesis 15,6 richtig verstanden, weil richtig angewandt hat, sondern auch Chemnitz Römer 4. Dann ist doch der Spieß umgedreht, und die Spitze zeigt auf uns selbst. Nicht wir wissen, kraft unserer historischen Kunst, wie die Texte eigentlich gemeint waren, und urteilen dann darüber, ob andere den Text auch so gebrauchen, wie er gemeint war, oder ob sie ihn mißbrauchen, mißverstehen, verkehrt anwenden. Sondern jetzt sind wir gefragt danach: wie kommen wir eigentlich dazu, uns einzubilden, wir wüßten, wie ein solcher Text gemeint war, solange wir noch keine Ahnung davon haben, wie dieser Text heute richtig verstanden, weil richtig angewandt ist? Oder, anders formuliert: Kann denn von einem Verstehen dessen, was mit einem solchen Text einmal gemeint war, die Rede sein, solange nicht die Sache, um die es da geht, gegenwärtig ist? Sie bemerken, ich bleibe hartnäckig bei meiner Fragestellung, wo, wie und wann uns eigentlich Abraham begegne.

Nun nehme ich an, daß wir soweit uns sogar noch verständigen können. Minde­stens von der Bultmann’schen Hermeneutik her ist uns allen eine derartige Frage­stellung ja geläufig. Freilich ist dort bei Bultmann diese Sache dann in der Korre­spondenz des durch die Frage nach seiner Eigentlichkeit bewegten Existierens und des im Text angebotenen Selbstverständnisses schon vorweg so bestimmt, daß der Ausleger immer schon im voraus weiß, was diese Sache jedenfalls nicht sein kann. Doch soll hier nun nicht die Auseinandersetzung mit Bultmann geführt werden. Die Erinnerung an ihn will nur andeuten, daß die exegetische Fragestellung jedenfalls nicht zu sehr hinter den dort erreichten Reflexionsstand zurückfallen sollte. Sonst kommen wir in unserer Bemühung um eine Biblische Theologie gewiß nicht weiter. Die Sache des Textes, in der er uns gegenwärtig angeht, müßte entdeckt sein, wenn wir darüber urteilen wollten, was dieser Text meint und was er nicht meint, ob er richtig oder falsch verstanden und angewandt ist. Auf die Anwendung dieses Textes hier und jetzt lege ich dabei alles Gewicht. Nur darum beschäftigen wir uns mit der Bibel, weil wir von solcher Anwendung Entscheidendes erwarten.

Dazu muß nun aber die Aktivität des Verstehens gleichsam abgegeben werden. Psychologisch läßt sich das schon beschreiben. Jeder von uns weiß, wie das ist, wenn man mit einer Frage umgeht, ein Problem zu lösen sucht und dabei warten muß, bis einem etwas einfällt. Da ist die Aktivität, mindestens die bewußte, zielgerichtete Aktivität, ausgeschaltet. Es arbeitet in mir – und wenn mir die Lösung dann glücklich einfällt, dann ist das ein Finden dessen, was ich gesucht habe, obwohl ich nicht gewußt habe, daß ich gerade das suchte. Was ich hier als unsere Erfahrung beim Nachdenken beschrieben habe, muß nun noch einmal vertieft werden. Wann begegnet uns Abraham? Nicht einfach dann, wenn wir ihn suchen in den biblischen Texten und schließlich den Einfall haben, von dem uns spontan klar ist: das hast du gesucht, und jetzt ist es da. Da wäre noch zu viel Aktivität, zu viel Initiative in unserem Fragen und Suchen und Nachdenken. Abraham begegnet uns, wenn wir seine Hilfe brauchen. Ich habe schon mehrfach versucht, anzudeuten, wie das dann aussehen könnte. Nicht nur die Bibel verlangt da unsere Aufmerksamkeit. Vielmehr macht uns die Bibel darauf aufmerksam, wie wir dran sind.

Das soll jetzt nicht in irgendwelchen Situationsanalysen durchgeführt werden. Die laufen, soweit nötig, bei diesen Reflexionen sowieso ständig mit. ich nenne jetzt Verhaltensweisen, die uns geläufig sind, die wir aber hinter uns lassen müssen, wo uns die Bibel lebendig werden will. Ich sagte, die Bibel mache uns darauf aufmerk­sam, wie wir dran sind – und wo wir das verstehen, da ereignet sich das Verstehen der biblischen Texte, um das wir uns bemühen. Weil so viel Aufmerksamkeit immer beschwerlich ist und weder methodisch-wissenschaftlich noch auch religiös in vor­zeigbare Aktivitäten umzusetzen, suchen wir ein abgekürztes Verfahren zu gewin­nen. Ich rede jetzt natürlich nicht von exegetischen Methoden, die man im Proseminar lernt, und auch nicht von der sich darauf aufbauenden historischen Arbeit an den Texten. Das machen wir mehr oder weniger gut – hoffentlich so, daß es die geforderte Aufmerksamkeit schärft und nicht zudeckt. Das abgekürzte Verfahren besteht vielmehr darin, daß das Geistgeschehen, in dem die Schrift sich selbst das Verstehen schafft, festgestellt wird. Da wird dann entweder der biblische Text als geistgewirkter Buchstabe behauptet, oder aber dieser Text wird anthropologisch vereinnahmt, weil wir angeblich sowieso immer schon wissen, wie wir dran sind; und aus diesem so festgestellten Text der Bibel läßt sich dann so etwas wie eine Biblische Theologie herausspinnen. Im einen Falle braucht man nur eine schlichte Korrespondenztheorie der Wahrheit mit einzubringen – so wie es dasteht, so ist’s auch passiert, und so muß man es glauben. Dann baut man sich mit mehr oder weniger Geschick eine biblische Heilsgeschichte zusammen, als die durch den Heiligen Geist offenbarte Wahrheit. Und daß dann nicht zu einem Glaubensartikel wird, daß des Tobias Hündlein mit dem Schwanz gewedelt habe, das liegt nur daran, daß unsere Fundamentalisten nicht den tridentinischen Kanon haben, sondern den der British and Foreign Bible Society. Im anderen Fall macht man sich ein Struk­turmodell des Menschseins zurecht, und zwar möglichst in Frageform: Menschsein, das nach seiner Eigentlichkeit fragt oder nach der Gerechtigkeit im Weltlauf. Und dann lassen sich die biblischen Texte versammeln als ein bunter Strauß von Antworten auf diese Frage. Und wie dort im heilsgeschichtlichen Konzept die den Text als Geistwort feststellende Subjektivität sich in ihrem frommen Habitus durch dieses Geistwort bestätigen läßt, so kann man sich hier auf seine Frage dann das Blümlein heraussuchen, das am besten schmeckt.

Wenn so das Geistgeschehen der Schrift festgestellt wird, dann begegnet uns Abraham nicht. Soviel wage ich schon zu sagen. Vielleicht läßt sich sogar noch ein Satz dazusetzen: Solange und soweit unser Bemühen um die Bibel das Werk ist, dessen wir uns rühmen – jeder kanns besser, und der Dogmatiker natürlich sowieso besser als der Exeget, aber miteinander können wir’s doch am allerbesten – solange wird nichts Rechtes daraus. Aber vielleicht begegnet uns Abraham wieder, wenn wir uns herausrufen lassen aus unserer idololatria Chaldaica und uns wieder auf den Weg machen, um hinter die historischen und hermeneutischen, die wissenschaftlichen und religiösen Horizonte zu kommen, in denen wir die Bibel gerade nicht erfassen können.

Vorlage für die Projektgruppe „Biblische Theologie“ der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie zu deren Tagung im März 1980 in Neuendettelsau.

Quelle: Friedrich Mildenberger, Zeitgemäßes zur Unzeit. Texte zum Frieden, zum Verstehen des Evangeliums und zur Erfahrung Gottes, Essen: Verlag Die Blaue Eule 1987, S. 88-95.

Hier der Text als pdf.

Hinterlasse einen Kommentar