Leonhard Goppelt über die Christen in der nachchristlichen Gesellschaft der Endzeit nach der Offenbarung des Johannes: „Das Lamm empfängt aus Gottes Hand das Buch mit den sieben Siegeln (5,7), d. h. dem, der für alle gestorben ist, wird die Vollstreckung von Gottes Geschichtsplan, auch gegenüber den Widersachern Gottes, übergeben. Er wird zum endzeitlichen Herrscher eingesetzt, der die Geschichte auch und gerade im Blick auf die Widersacher zum Ziel bringen wird. Er wird, wie beim Öffnen der Siegel sichtbar wird, die das Evangelium ablehnende Geschichte an ihrem Widerstreit sterben lassen.“

Die Christen in der nachchristlichen Gesellschaft der Endzeit nach der Offenbarung des Johannes

Von Leonhard Goppelt

Johannes Behm, Gott und die Geschichte. Das Geschichtsbild der Offenbarung, 1925; Carl Clemen, Die Stellung der Offenbarung Johannes im ältesten Urchristentum, ZNW 26 (1927), 173—186; Heinz-Dietrich Wendland, Geschichtsanschauung und Geschichtsbewußtsein im NT, 1938; Heinrich Bietenhard, Das tausendjährige Reich, 1944; Leon­hard Goppelt, Johannes-Apokalypse, EKL II, 365—369 (Lit.!); Otto A. Piper, The Apocalypse of John and the Liturgy of the Ancient Church, Church History 20 (1951), 255—266; Julius Schniewind, Weltgeschichte und Weltvollendung, in: ders., Nach­gelassene Reden und Aufsätze, 1952, 38—47; Aimo T. Nikolainen, Über die theologische Eigenart der Offenbarung Johannes, ThLZ 93 (1968), 161—170; Akira Satake, Die Gemeindeordnung in der Johannesapokalypse, 1966; Mathias Rissi, Was ist und was geschehen soll danach. Die Zeit- und Geschichtsauffassung der Offenbarung des Jo­hannes, 1965; Pierre Prigent, L’Apocalypse et Liturgie, Cahiers Théologiques 52 (1964), 7—81; Rudolf Halver, Der Mythos im letzten Buch der Bibel. Eine Untersuchung zur Bildersprache der Johannes-Apokalypse, 1964; Traugott Holtz, Die Christologie der Apokalypse des Johannes, 1962; Leonhard Goppelt, Heilsoffenbarung und Geschichte nach der Offenbarung des Johannes, ThLZ 77 (1952), 513—522; Wilhelm Thüsing, Die theologische Mitte der Weltgerichtsvisionen in der Johannesapokalypse, Trierer Theologische Zeitschr. 77 (1968), 1—16; Gerhard Delling, Zum gottesdienstlichen Stil der Johannesapokalypse, in: ders., Studien zum NT und zum hellenistischen Judentum, 1970, 425—450; Klaus-Peter Jörns, Das hymnische Evangelium. Untersuchungen zu Aufbau, Funktion und Herkunft der hymnischen Stücke in der Johannesoffenbarung, 1971.

Wichtige Kommentare: Wilhelm Bousset (1906), Meyer-K (zeitgeschichtliche Deu­tung); Wilhelm Hadorn (1928), ThHK (geschichtstheologische Deutung); Ernst Loh­meyer (19532), Hdb. (übergeschichtliche Deutung); Eduard Lohse (1966), NTD (zeit­geschichtliche Deutung); Heinrich Kraft (1974), Hdb. (endgeschichtliche Deutung).

In der Offenbarung tritt das Problem Kirche und Gesellschaft unter ein anderes Vorzeichen als im 1. Petrusbrief. Beide wissen um den Kon­flikt, beiden erscheint er unausweichlich. Aber während er im 1. Petrus­brief aus der Diskriminierung einer aktiven missionarischen Weltver­antwortung folgt, ergibt er sich in der Offenbarung aus der antichrist­lichen Aktivität einer nachchristlichen Gesellschaft.

1. Vorbemerkung: Entstehungsverhältnisse, Inhalt und Auslegungsproblematik

Eine besondere Schwierigkeit besteht darin, daß die theologischen Aus­sagen der Offenbarung in einer apokalyptischen Bildersprache verschlüs­selt sind. Ehe wir sie auswerten können, sind darum einige Bemerkungen zu Abfassungsverhältnissen, Inhalt und Auslegungsverfahren unum­gänglich.

a) Zur Entstehung

Dieses Buch ist das hervorragendste Dokument der urchristlichen Prophetie. Aber es bietet Prophetie, die wesensmäßig nicht direkt münd­lich, sondern literarisch weitergegeben wird (1,19). Diese Form der Weitergabe wie die ihr entsprechende Sprache erinnern an die atl.-jüdische Apokalyptik. Und doch unterscheiden sich andererseits schon die An­gaben über die Entstehung von der Apokalyptik. So verbirgt sich der Verfasser nicht wie dort hinter einem Pseudonym der Vergangenheit, sondern wendet sich unter Nennung seines Namens in einem briefartigen Eingang (1,4—8) unmittelbar an die Gemeinde.

Allein der Name genügt, um den Verfasser gegenüber den angeredeten Gemeinden, den sieben Hauptgemeinden der römischen Provinz Asia (2,1.8.12.18; 3,1.7.14), auszu­weisen. So ist dieser Verfasser „Johannes“ möglicherweise identisch mit dem aus Pa­lästina stammenden Herrenjünger dieses Namens, den die Presbyter der Asia, also Papias von Hierapolis und Polykarp von Smyrna, gegen Ende des 1. Jh. in Ephesus noch persönlich kennenlernten (Euseb KG 3, 39,3 f; 5, 20,4). Offenbleiben muß frei­lich, ob dieser Johannes, wie seit Justin und Irenäus behauptet wurde, mit dem Zebedaiden Johannes, dem Säulenapostel von Gal 2,9, personengleich ist.

Der Verfasser schreibt auf der kleinen Felseninsel Patmos, wahrscheinlich als Ver­bannter (1,9). Das ist ein Hinweis auf die Abfassungszeit: Verbannungen von Christen sind erstmals aus der späten Regierungszeit Domitians überliefert. Dies und andere Anzeichen legen nahe, daß die Weissagungen, wie schon Irenäus (haer 5,30,3) annahm, gegen Ende der Regierung Domitians (81—96) entstanden sind. So mögen der Anlaß für ihre Abfassung der sich in den letzten Regierungsjahren immer mehr steigernde Anspruch Domitians auf göttliche Würde und seine Maßnahmen gegen alle, die sich diesem Anspruch widersetzten, gewesen sein.

b) Zum Inhalt

Zur Charakterisierung des Inhalts ist auszugehen von der Thema­angabe in 1,19: „Schreibe, was du sahst, (nämlich) was ist und was hernach geschehen wird!“ Demnach umfaßt die Offenbarung, die Johannes von dem erhöhten Menschensohn empfängt, zwei Teile: 1. die Prophetie für die Gegenwart („das, was ist“) in den sieben Sendschreiben (Kap. 2—3); 2. die Offenbarung der Zukunft („was hernach geschehen wird“) (Kap. 4—22)1.

Diese Offenbarung für die Zukunft wird eingeleitet durch die Vision vom Thronenden und vom Lamm (Kp. 4 f): Dem erhöhten Christus wird die Vollstreckung von Gottes Geschichtsplan übertragen. Es folgt eine Kette von Visionszyklen (sieben Siegel: 6,1—8,1; sieben Posaunen: 8,2—11,19; sieben Schalen: 15,1—16,21), wobei — gleich den Stufen einer Rakete — jeweils aus der letzten Vision des vorhergehenden Zyklus der nächste Zyklus hervorgeht (8,1; 11,15; 15,5; 16,1). Ein weiteres Gliederungsprinzip besteht darin, daß zwischen dem 6. und 7. Siegel (7,1—17) und zwischen der 6. und 7. Posaune (10,1—11,14) Pausen eintreten: Hier wird jeweils der Blick vom Weltgeschehen auf das Ge­schick der Gottesgemeinde gerichtet. Zwei Partner stehen sich demnach im Endgeschehen gegenüber, die Welt und die Gottesgemeinde.

Eine Sonderstellung nimmt der Visionszyklus Kapitel 12—14 ein. In ihm werden diese beiden Partner des Endgeschehens einander gleichsam in Großaufnahme gegenübergestellt. Er stellt sozusagen eine kleine Apo­kalypse in der großen dar. Der vorletzte Zyklus, der Sturz Babylons (17,1—19,10), beschreibt das Ende der Weltgeschichte im Aufstand der Menschheit gegen ihren Schöpfer. Es folgt die abschließende Bilderreihe 19,11—22,5, die den Ausgang des Weltgeschehens schildert.

c) Zur Auslegungsproblematik

Die Auslegungsmethode hängt entscheidend davon ab, wie man das Verhältnis der Offenbarung zur klassischen apokalyptischen Weissagung bestimmt.

Ziehen wir als Beispiel für die letztere die Vier-Weltreiche-Vision Dan 7,2—27 heran! Sie beginnt mit dem typischen Ich-Bericht über ein Traumgesicht (Dan 7,2—14): Daniel sieht aus dem von vier Winden aufgepeitschten Meer nacheinander vier phan­tastische Tiergestalten aufsteigen, die erste gleicht einem Löwen, die zweite einem Bären, die dritte einem Panther, die vierte einem Urweltungeheuer. Darauf wechselt das Bild: In einem himmlischen Thronsaal vollzieht „der Hochbetagte“ das Weltgericht, die Macht wird den Tieren genommen und dem vom Himmel kommenden Menschen­sohn gegeben. — Diese Bilder nun werden in Dan 7,15—27 durch einen angelus interpres gedeutet. Der Seher erfährt, daß die vier Tiere die letzten Weltreiche sind, d. h., vom Standort Daniels aus gerechnet, das babylonische, das medische, das persische und das Alexanderreich samt den Diadochen, unter denen einer besonders hervorgehoben wird, der den Höchsten lästert und sein Volk bedrängt. Gemeint ist der Seleukide Antiochus IV. Epiphanes, der das jüdische Volk mit Gewalt dem hellenistischen Syn­kretismus unterwerfen wollte. An dieser Zuspitzung der Weissagung wird unschwer deutlich, daß sie nicht, wie angegeben, im Exil — d. h. ca. 550 v. Chr. —, sondern erst zur Zeit dieser Auseinandersetzung um 165 v. Chr. geschrieben ist. Durch die Weis­sagung sollte der gesetzestreue Leser jener Zeit im Durchhalten bis zur nahen Ver­änderung aller Verhältnisse bestärkt werden. Ihm wurde gesagt: der Ablauf der Ge­schichte ist von Anfang an festgelegt, das Ende ist nahe!

Vergleicht man die Offenbarung mit diesem klassischen Modell apo­kalyptischer Weissagung, so sind Entsprechungen unverkennbar: hier wie dort eine vielfach traditionelle Bildersprache, die nicht unmittelbar geschaute Bilder beschreibt — die „Bilder“ der Offenbarung sind eigent­lich nicht darstellbar —, sondern Weissagungen in eine Symbolsprache kleidet; hier wie dort eine Steigerung des Bösen auf das Ende hin und schließlich das Ende als kosmische Katastrophe und Weltgericht. Auch die für die apokalyptische Weissagung charakteristische Teilung in Perio­den scheint in den Visionszyklen der Offenbarung wiederzukehren. Auf Grund der angenommenen Analogie zur Apokalyptik ergaben sich folgende Auslegungsweisen:

1. Nach unkritischem Verständnis weissagt Dan 7 den Ablauf der Weltgeschichte vom angegebenen Standort des Verfassers aus über die Jahrhunderte hinweg bis zum Ende. Analog dazu wurde die Offenbarung in der kirchengeschichtlichen oder weltgeschicht­lichen Deutung verstanden. Man fand in ihr von den Tagen des Sehers — also von der Zeit Domitians — an die Geschichte bis zum Weitende geweissagt, wobei man die Spitze der Weissagung, den Antichrist in Offb 13 wie das „kleine Horn“ in Dan 7,8, jeweils auf eine Erscheinung in der Gegenwart des Auslegers bezog. So wurden die beiden Tiere in Offb 13 in der Reformationszeit wie schon im späten Mittelalter auf Kaisertum und Papsttum gedeutet.

2. Die wissenschaftlichen Kommentare folgen vielfach der zeitgeschichtlichen Aus­legung: Die Offenbarung ist faktisch genauso wie Dan 7 für ihre Entstehungszeit ge­schrieben. Sie will nicht den Ablauf der Weltgeschichte weissagen, sondern die zeit­geschichtliche Situation bis zu dem in naher Zukunft erwarteten Ende in apokalyptischer Sprache analysieren. Der Antichrist in Offb 13 wäre demnach Domitian.

3. Der Pietismus entwickelte im 17. Jh. als weitere Variante die endgeschichtliche Auslegung. Sie geht davon aus, daß die in Offb 4,1 einsetzende Weissagung sowohl für den Verfasser wie auch für den gegenwärtigen Ausleger noch zukünftige Endgeschichte sei.

Alle drei Auslegungsweisen verkennen, daß sich Aufbau und Inhalt der Offenbarung grundlegend von den apokalyptischen Weissagungen unterscheiden:

1. Der Einsatz des geweissagten Geschehens ist nicht der Standort des Sehers, sondern der der Erhöhung Christi. Die Weissagung geht von Kap. 4 f aus, wo dem Lamm mit der Todeswunde vor Gottes Thron das Buch mit den sieben Siegeln übergeben wird. Das heißt: dem erhöhten Christus wird die Vollstreckung von Gottes Geschichtsplan übertragen. Die Offenbarung will also die von der Erhöhung des Gekreuzigten aus­gehende Vollendung des Weltgeschehens darstellen. Diese Schlußfolgerung aus Offb 4 und 5 wird durch die kleine Apokalypse in Offb 12—14 bestätigt, denn das Ereignis, von dem sie ausgeht, ist die Geburt des Weltheilands und seine Entrückung in den Himmel.

2. Wie der Einsatz so ist auch das Ziel qualitativ anders. Die von der Erhöhung Christi ausgehende Veränderung des Weltgeschehens kommt in der Parusie zum Ziel; mit ihr schließen die kleine Apokalypse in 14, 14 ff wie die große in 19,11 ff. Die Offenbarung schildert demnach das Geschehen, das von der Erhöhung Christi ausgeht und durch ihn der Vollendung durch seine Parusie entgegengeführt wird.

3. Daher hat auch das dargestellte Geschehen selbst einen anderen Charakter als in der Apokalyptik. Dort wird jeweils ein Stück Welt­geschehen dargestellt, das durch das hereinbrechende Eschaton abge­schlossen wird. Die Offenbarung dagegen beschreibt ein Weltgeschehen, das von der bereits verborgen angebrochenen Gottesherrschaft bestimmt ist und durch die sichtbar hereinbrechende vollendet wird. So wird nach der für das Verständnis des Buches entscheidenden Stelle 5,9 dem Lamm das versiegelte Buch übergeben, weil es die basileia bereits aufgerichtet hat. Deshalb soll diese Herrschaft nun in der Geschichte durchgesetzt werden, so daß am Ende verkündigt werden kann: „Halleluja! Denn König geworden ist der Herr, unser Gott, der Allherrscher“ (19,6). Die Struktur der Offenbarung wird grundlegend verkannt, wenn häufig erklärt wird, für Paulus und das Johannesevangelium sei das Eschaton schon gegenwärtig (2 Kor 5,17; Joh 5,24), für die Offenbarung aber sei es noch zukünftig. Vielmehr ist das Eschaton auch und gerade für die Offenbarung gegenwärtig und zukünftig zugleich. Weil für sie das Schon und Noch-Nicht des Eschatons gilt, erfüllt sie ein wichtiges Kriterium der Apostolizität.

4. Weil die Offenbarung demnach nicht lediglich einen Geschichts­ablauf, sondern die Begegnung des Eschatons mit der Geschichte darstellt, ist auch ihre Darstellungsweise grundsätzlich anders als die der jüdischen Apokalypsen. Dies läßt sich an folgendem Beispiel illustrieren: Das Bild des Tieres in Offb 13,1 vereinigt in sich die Züge der vier Tiere in Dan 7. Hier wird also nicht mehr wie dort eine Abfolge von Weltreichen dar­gestellt, sondern die Wesensgestalt des Weltreiches schlechthin. Der Leser soll also nicht aus einer Abfolge von Herrschern den hier gemeinten ermitteln und seinen eigenen Standort errechnen. Er soll vielmehr die Wesensgestalt des antichristlichen Herrschers erfassen, damit er ihn nicht wie die übrigen Mitglieder der Gesellschaft anbetet. In Offb 17,8 ff wird den Lesern zwar ein Fingerzeig gegeben, daß diese Gestalt bereits ansatz­weise in der Geschichte zu finden sei; aber die Gestalt des Tieres als solche ist ein Wesensbild, aus dem Geist der Prophetie geboren, auch wenn das Hervortreten Domitians Anlaß gewesen ist, es zu entwerfen, und wenn die Leser eine gewisse ansatzweise Realisierung dieses Bildes in ihm erkennen konnten. Das Bild ist nicht einfach eine Chiffre, unter der sich Domitian verbirgt, sondern eine Wesensgestalt. So stellen auch — um noch ein zweites Beispiel anzudeuten — die vier apokalyptischen Reiter (6,1—8) nicht einander folgende einmalige Ereignisse, sondern Wesenszüge der Endgeschichte dar: Welteroberung, Krieg, Hunger und Seuchen. Die Weissagung zeichnet nicht eine Abfolge von Ereignissen nach, sondern entwirft Wesenszüge der Endgeschichte.

So unterscheidet sich die Offenbarung durch die vier genannten Punkte grundlegend von den atl.-jüdischen Apokalypsen. Sie darf daher auch nicht in Analogie zu ihnen ausgelegt werden. Die rein zeitgeschichtliche Auslegung ist genauso verfehlt wie die kirchen- oder die weltgeschicht­liche. Die Offenbarung schildert nicht einfach deutend einen Geschichts­ablauf, weder die Zeitgeschichte noch die Weltgeschichte; sie verkündigt vielmehr von Jesu Erhöhung her die Wesensgestalt des geschichtlichen Geschehens, die sich aus der Begegnung mit dem angebrochenen Eschaton ergibt, um der Gemeinde Glaubenserkenntnis und Glaubensentscheidung zu ermöglichen. Diese Darstellungsweise kennzeichnet auch die synop­tische Apokalypse Mk 13 par. Wir haben es also mit einem eigenen Traditionsstrom urchristlicher Apokalyptik zu tun!

2. Gott und die Geschichte

Die Offenbarung entwickelt die Antwort auf das Grundthema aller Theologie: Gott und die Geschichte — und das heißt immer auch: Gott und der Widersinn der Geschichte. Und zwar entfaltet sie dieses Thema atl. Prophetie auf die neue geschichtliche Situation hin, die durch die Erscheinung Jesu und die Entstehung seiner Gemeinde eingetreten ist. Insofern ließe sich ihre Thematik auch umschreiben mit „Christus und die Geschichte“ oder „die endgeschichtliche Heilsoffenbarung und die Geschichte“.

Wollen wir ihre wesentlichen theologischen Aussagen zur Sprache bringen, so müssen wir, ihrer eigenen Anlage folgend, mit dem allgemei­nen Thema „Gott und die Geschichte“ einsetzen und in diesen Rahmen die Erscheinung Christi wie die der Kirche und deren Auswirkung auf die Geschichte einzeichnen.

Die Weissagung setzt in Kp. 4 ein mit der Vision des Thronenden. Ehe ein Wort über den Verlauf der Geschichte fällt, wird der Blick auf den gerichtet, von dem und zu dem alles ist. Zwei Doxologien verkün­digen in diesem Bild die beiden Grundsätze typischer Geschichtstheologie.

a) Die erste Doxologie spricht aus, was bereits das Bild des Thronen­den in Symbolsprache2 sagt: Über allem Weltgeschehen steht nicht, wie der antike Mensch annimmt, die heimarmenē (das Schicksal), sondern der Thronende. Er ist der Allherrscher, der in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft alles Geschehen bestimmt: „Heilig, heilig, heilig ist Gott der Herr, der Allherrscher, der war und ist und kommt“ (4,8).

Bedeutet es eine Wandlung innerhalb der ntl. Gottesvorstellung, wenn die Offenbarung Gott nicht als den Vater, sondern atl. als den All­herrscher (pantokratōr) einführt3? Die Prädikation ist sicher durch das besondere Thema der Offenbarung veranlaßt. Wie kein anderes Buch des NT sieht sie im Weltgeschehen dunkle widergöttliche Mächte am Werk und Menschen, die nicht nur gegen ihren Schöpfer rebellieren, son­dern auch sein Evangelium ablehnen. Trotzdem verfällt sie in keinen Dualismus: Gott ist der pantokratōr, d. h., er allein ist Herr allen Gesche­hens. Er setzt auch den sich gegen ihn erhebenden Mächten des Bösen Frist und Möglichkeit zu handeln, ja, er macht sie zu Werkzeugen seines Zorns. So wird in Offb 13,5 und 7 vom antichristlichen Weltherrscher viermal gesagt, „es wurde ihm gegeben“, nämlich über die Völker zu herrschen und gegen die Heiligen Krieg zu führen. Dieses passivum divi­num meint: „Gott hat es ihm ermöglicht.“ Und in Offb 17,17 wird aus­drücklich erklärt: kein anderer als Gott selbst gibt es den zehn Königen, die mit dem Antichrist gegen Christus zu Felde ziehen, ins Herz, ihre Königsmacht dem Tier zur Verfügung zu stellen. Das ist der Gott von Röm 9,17 f, der einst Pharao verstockte, so daß er sich seiner Weisung widersetzte und Israel nicht ziehen ließ. Nur wenn man diese letzte dunkle Möglichkeit eines versteckenden Zornwirkens einbezieht, ist Gott wirklich in der Geschichte präsent.

Weil Gott Herr allen Geschehens ist und bleibt, kann er nach Offb 4,1 dem Seher zeigen, „was hernach geschehen muß“. Dieses dei (= es muß) denkt hier nicht nur wie in der Apokalyptik an Gottes Geschichtsplan, sondern wie in den Leidensankündigungen (§ 19,7) an Gottes Heilsrat­schluß.

b) Das Weltgeschehen ist aber nicht nur ein Monolog des deus semper ubique actuosus, sondern zugleich ein Dialog, denn der Mensch ist mit­verantwortlich an diesem Geschehen beteiligt. Das spricht die zweite Doxologie der Vision vom Thronenden aus: „Würdig bist du, unser Herr und Gott, Herrlichkeit, Ehre und Kraft zu empfangen, denn du hast alles geschaffen“ (4,11). Das geschichtliche Leben ist nicht aus sich selbst; es verdankt sich dem Schöpfer. Dies denkend in das Selbst- und Weltverständnis aufzunehmen und Gott gegenüber zu bekennen, ist die Bestimmung der Menschen. Dazu werden sie in 14,7 aufgefordert: „Fürch­tet Gott und erweist ihm Ehre, denn gekommen ist die Stunde seines Gerichts …!“ Der Mensch ist dazu bestimmt und berufen, dem Schöpfer als der Mund seiner Schöpfung zu antworten. Diesen Gesichtspunkt führt die Offenbarung weiterhin eindrucksvoll aus, indem sie alles Weltgesche­hen auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch bezieht. Über der ihrem Schöpfer die Ehre verweigernden Menschheit bricht der Kosmos zusam­men und für die neue Menschheit, die sich Gott zugewandt hat, wird eine neue Welt geschaffen (21,1 ff).

Dies wird durch das Bild vom Weltgericht in Offb 20,11 ff eindring­lich unterstrichen: „Und ich sah einen großen weißen Thron und einen, der darauf saß, und vor seinem Angesicht floh die Erde und der Himmel, und es war kein Platz mehr für sie zu finden. Und ich sah die Toten.“ Die ganze Schöpfung versinkt hier vor ihrem Schöpfer in das Nichts, aus dem er sie gerufen hat. Und dann stehen in großer Einsamkeit die eigentlichen Partner des Weltgeschehens einander gegenüber, der Mensch und Gott als sein Richter. An diesem Gegenüber hat sich der Verlauf des Ganzen entschieden, und in diesem Gegenüber erfolgt nun die Wende des Gesamtgeschehens hin zu einer neuen Welt.

Diese biblische Betrachtungsweise steht in der antiken Welt einzig da. Die griechische Weltanschauung war kosmologisch, das Weltverständnis des alten Orients war naturmythologisch und das des Hellenismus dämonistisch. Allein im AT wurde zunächst der Geschichtslauf und — später in der Apokalyptik — auch das kosmische Geschehen auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch bezogen. Auf Grund dieser Betrachtungsweise wurde das am Naturkreislauf orientierte zyklische Denken der Antike durch ein geschichtliches Denken überwunden. Es war wohl das Buch Daniel, in dem erstmals das Gesamtgeschehen in der Zeit als ein teleolo­gischer Ablauf, d. h. eben als das, was wir Geschichte nennen, begriffen wurde. Diese Betrachtungsweise ergab sich, weil Gott hier nicht als die stumme Macht der Natur begegnete, son­dern als das den Menschen an­redende Wort, das ihm in der Geschichte einzulösende Zusagen machte. So entsteht nach dem AT aus der worthaften Begegnung zwischen Gott und Mensch Geschichte, und der Mensch wird für die Zukunft der Welt mitverantwortlich.

Die große Frage der Offenbarung lautet nun freilich: Wird der Mensch dieser seiner Bestimmung gerecht? Die Doxologie der Vision vom Thronenden ergeht im himmlischen Thronsaal, nicht auf der Erde. Für die Situation auf der Erde wird weiterhin in der Weissagung fest­gestellt, daß die Menschen ihrem Schöpfer trotz aller Heimsuchungen die Anerkennung versagen (9,20; 16,9.11.21).

3. Die Erhöhung Christi als die Wende der Geschichte

a) Die Herrschaft des Lammes

Zu Beginn der Sieben-Siegel-Vision (5,1—7) erscheint Christus als der, der allein die ausweglose Weltsituation zu wenden vermag. Nachdem niemand das Buch mit den sieben Siegeln zu öffnen, d. h. den Sinn der Geschichte zu enthüllen und zu verwirklichen vermochte, sieht der Seher „inmitten des Thronsaales … ein Lamm stehen, das ein Schlachtmal trug …, und es kam und empfing aus der Rechten dessen, der auf dem Thron saß, das Buch“ (5,6 f). Dieses Bild des Lammes kehrt in der Offen­barung 28mal wieder als das ihr eigene Symbol für den erhöhten Christus.

Es ist aus der frühchristlichen Symbolsprach« herausgewachsen; in verschiedenen ntl. Schriften begegnet das Lamm als Bild für Christus. Ältester Beleg ist das aus einer Passahomilie stammende Zitat in 1 Kor 5,7: „… unser Passalamm, Christus, wurde geschlachtet“ (vgl. auch Apg 8,32; 1 Petr 1,19; Joh 1,29.36). In der Offenbarung wird aus dieser Metapher ein visionäres Symbol der apokalyptischen Bildersprache, wobei sie das griechische Wort arnion und nicht wie die genannten ntl. Stellen amnos ge­braucht. Vielleicht ist dieser Begriffswechsel mit dadurch bedingt, daß sonst nur an den Gekreuzigten, hier aber an den vom Kreuz Erhöhten gedacht ist.

Was dieses visionäre Symbol aussagen will, wird durch seine Epitheta verdeutlicht, die in zwei Gruppen zerfallen:

1. Das Lamm ist „wie geschlachtet“. Es trägt das Schlachtmal am Hals. Das heißt: Der Erhöhte steht vor Gott als der für alle Gestorbene. Das ist wichtig, denn das Lamm ist damit gerade nicht, wie es später in den Apsiden altchristlicher Basiliken dargestellt wurde, der Pantokrator oder gar der Kosmokrator und Weltrichter. Hier wie im ganzen NT steht Christus vor Gott primär als der, der für die Seinen auf Grund seines Sterbens eintritt (vgl. Röm 8,31—35; Hebr 8—10).

2. Das Lamm ist freilich zugleich der Mächtige, durch den die eschato­logische Herrschaft Gottes auch gegenüber seinen Widersachern aufge­richtet wird. Mehr als das übrige NT hebt die Offenbarung diese Seite hervor. So zeigen die sieben Hörner4 an, daß dem Lamm alle Macht gegeben ist, und die sieben Augen symbolisieren das ihm übereignete Vollmaß des Geistes.

Das Lamm vor dem Thron ist zugleich der für alle Gestorbene und der mächtige Herrscher. Diese beiden Seiten treten weiterhin das ganze Buch hindurch bei seinem Wirken immer wieder in Erscheinung. Das Lamm erweist sich einerseits als der Mittelpunkt der durch Christi Sterben Befreiten (7,9.17; 14,1.4; 19,7.9; 21,9.22 f). So liegt alles daran, daß man „im Buch des Lebens“, d. h. „im Buch des Lammes“ steht (21,27). Diesem Heilswirken des Lammes entspricht ein Wirken, das Gericht bedeutet. Indem es die Siegel des Buches öffnet (6,1.3.5), löst es die Gerichte aus, die die von Menschen gemachte Geschichte zum Erliegen bringen (vgl. 6,16; 14,10; 17,14).

Damit wird bereits der Sinn des Vorgangs sichtbar, der für die Offen­barung die entscheidende Wende der Weltgeschichte ist: Das Lamm empfängt aus Gottes Hand das Buch mit den sieben Siegeln (5,7), d. h. dem, der für alle gestorben ist, wird die Vollstreckung von Gottes Geschichtsplan, auch gegenüber den Widersachern Gottes, übergeben. Er wird zum endzeitlichen Herrscher eingesetzt, der die Geschichte auch und gerade im Blick auf die Widersacher zum Ziel bringen wird. Er wird, wie beim Öffnen der Siegel sichtbar wird, die das Evangelium ablehnende Geschichte an ihrem Widerstreit sterben lassen.

b) Die Vollstreckung des Geschichtsplanes Gottes

Der Erhöhte ist, wie in 5,8—10 dargestellt wird, „würdig“, d. h. vor Gott fähig, den Geschichtsplan auch gegenüber dem Widersacher zu vollstrecken, weil er das Entscheidende, Positive bereits proleptisch reali­siert hat: „Du bist würdig, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen. Denn du wurdest geschlachtet und hast für Gott durch dein Blut aus jedem Stamm, Zunge, Volk und Nation Menschen erkauft und sie für unseren Gott zu einer Königsherrschaft und zu Priestern gemacht, und sie werden königlich herrschen auf Erden.“ Dieser wohl zentralste Satz der Offenbarung besagt, daß der Erhöhte durch sein Sterben aus allen Gruppen der Gesellschaft Menschen für Gott gewonnen und sie in seine basileia versetzt hat, in der Gottes gnädiger Wille geschieht, weil das Böse überwunden ist (Mt 6,10.13 par). Alle Glieder der basileia werden „Priester“, d. h. sie haben unmittelbar Zugang zu Gott, ihr ganzes Leben ist Gottesdienst.

Offb 5,8 ff geht nicht auf das missionarische Werden der Gemeinde aus allen Völkern und auf ihre äußere Erscheinung ein, sondern kenn­zeichnet sie in einem kerygmatischen Indikativ ihrem Wesen nach: sie ist ausschließlich Werk Christi; er hat sie „erkauft“ und „gemacht“. Was sie durch sein bisheriges Wirken, durch sein Sterben und seine Erhöhung wurde, ist freilich zu unterscheiden von dem, was sie in Zukunft, durch seine Parusie, werden wird. Dies sagt das Ende des Satzes: „und sie werden königlich herrschen auf Erden“. Diese Verheißung wird in den Visionen über die Vollendung durch die Parusie wiederholt (20,6; 22,5; vgl. Mt 5,5). Das „Herrschen“ kommt, wenn das neue Leben schaubar wird und alles Dunkel vergangen ist (22,5; vgl. 1 Kor 4,8).

4. Das Evangelium und die Völkerwelt

Sieht man oberflächlich auf das, was die Offenbarung von Kp. 6 an über Christus sagt, dann könnte man den Eindruck gewinnen, den Hein­rich Julius Holtzmann so formuliert hat: Der Christus der Offenbarung ist „der kriegerische, ja mörderische Messias, der im grellen Gegensatz zu dem friedlichen Messiasgedanken Jesu hier seine Triumphe feiert. Dies alles ist aus dem Judentum übernommen …“5. Dieser Satz sieht etwas Richtiges, wenn er auch eine schiefe Folgerung zieht. Was von Kp. 6 an in den dreimal sieben Visionen von den Siegeln, Schalen und Posaunen vom erhöhten Christus ausgesagt wird, ist ja in der Tat zu­nächst eine nicht abreißende Kette von Gerichten! Wie ist dieses Gesamt­bild zu verstehen?

Entscheidend ist, daß man die eben von Offb 5,10 f her entwickelte Voraussetzung festhält: Diese Gerichte sind für die Offenbarung lediglich die negative Kehrseite der basileia, der gnädigen Herrschaft des Lammes. Aber es ist für die Offenbarung kennzeichnend, daß diese negative Kehr­seite so breit und intensiv herausgestellt wird wie sonst nirgends im NT, ja daß sie auch einen anderen Charakter annimmt.

Letzteres wird deutlich, wenn man sie mit der am nächsten entsprechenden Aussage bei Paulus, 1 Kor 15,23—28, vergleicht. Auch dort heißt es: „Er muß herrschen, bis er alle Feinde zum Schemel seiner Füße macht. Als letzter Feind wird der Tod zunichte gemacht“ (1 Kor 15,25 f). Gerade an dieser letzten Wendung aber sieht man, daß Paulus an andere Feinde denkt als die Offenbarung, nämlich an den Tod und andere über­menschliche widergöttliche Mächte. Die Offenbarung aber denkt an die Völkerwelt, die dem Antichrist zufällt. Der Unterschied wird am Ausgang der Geschichte besonders deutlich: Nach Offb 19,19—21 sieht der Seher vor der Parusie das Tier und die Könige der Erde und ihre Heere versammelt, „um Krieg zu führen mit dem, der auf dem Pferde sitzt und seinem Heer“, d. h. mit dem zur Parusie erscheinenden Christus. Diese Völkerschlacht endet mit der Vernichtung der Angreifen­den.

Paulus sieht das Ende der Geschichte ganz anders: „Verstockung ist jetzt zum Teil über Israel gekommen, bis die Fülle der Heidenvölker (seil, in die Gottesherrschaft) eingegangen ist, und so wird ganz Israel gerettet werden“ (Röm 11,25). Am Ende steht für ihn zwar nicht die Wiederbringung jedes einzelnen, aber doch die Bekehrung der Gesamtheit der Völkerwelt wie Israels. Das lukanische Geschichtswerk kann dies zwar nicht mehr wie Paulus nach Röm 15 als apokalyptischen Siegeszug des Evangeliums durch die Ökumene in einer Generation erwarten, aber es blickt aus auf ein langfristiges, aber doch positives Fortschreiten der Missionierung der Völkerwelt (Apg 28,28).

Stellt man diese anderen Perspektiven neben die der Offenbarung, so wird deren Eigenart deutlich. Sie hat ein anderes Bild von der Begegnung des Evangeliums mit der Völkerwelt als Paulus, Lukas und auch alle übrigen Schriften des NT — abgesehen vom Johannesevangelium. Die basileia wird zwar aus allen Völkern gesammelt (5,8 ff), aber die Masse der Völkerwelt und insbesondere ihre politischen Repräsentanten lehnen sie ab. Dies ist demnach der Skopus der Offenbarung, daß der Erhöhte die Geschichte ihrem Ziel zuführen wird, obgleich die Völkerwelt und ihre politischen Vertreter in großer Zahl sich gegen das Evangelium stellen. Im Unterschied zu Paulus (Röm 9) wird diese Ablehnung des Evangeliums allerdings nicht als befristet, sondern als endgültig gesehen.

Hier werden nicht einfach neue Erfahrungen der Gemeinde, etwa in der Verfolgungssituation6, analysiert. Der Seher sieht vielmehr die ge­samte Welt zentral vom Kreuzesgeschehen her7 und erfaßt zugleich eine sich in seiner Umwelt abzeichnende Tendenz, um sie prophetisch zu deuten. Er beobachtet eine politisch-religiöse Weltanschauung, der die ganze Gesellschaft seiner Zeit huldigt, der sich aber die Christen, soweit sie Christen sind, versagen müssen. Dieser Ansatz wird grundlegend in Offb 13, der Mitte des Buches, entwickelt.

5. Politisches Antichristentum und die wahren Jünger (Offb 13)

Offb 13 entwirft das Bild einer Situation, die Christen durch die Jahr­hunderte immer wieder als ihre eigene erkannten. In der Vision des Sehers steigen zwei Tiergestalten auf:

a) Das erste Tier

Das erste Tier (V. 1—10) wird durch seine Erscheinung (V. 1—4) in dreifacher Weise gekennzeichnet: 1. Es vereinigt in sich Züge der vier Tiergestalten von Dan 7. Es ist demnach der Weltherrscher schlechthin, die Potenz dessen, was für den biblischen Menschen in Gestalten wie Nebukadnezar, Alexander oder auch Augustus verkörpert war. — 2. Darüber hinaus ist das Tier Abbild des in 12,3 beschriebenen Drachen, des Satans. Es ist gleich ihm Verführer der Menschen und Widersacher des Christus. — 3. Noch wichtiger ist die dritte Bestimmung: eines der Häupter dieses Weltherrschers ist „wie geschlachtet“, und seine Todes­wunde wurde geheilt (13,3). Es ist also einer, der gleichsam aus dem Tod wiedererstanden ist. Dieses Wunder veranlaßt die Menschen, dem Tier göttliche Ehre zu erweisen (13,3 b.4) — ein dem altorientalischen Mythos von dem aus dem Tod wiederkehrenden Gott-König entnommener Zug, der hier den eschatologischen Weltherrscher als das Gegenbild des Lammes (5,6) kennzeichnet. Wie das Lamm die Todeswunde trägt und als ein aus dem Tod Erstandener in Erscheinung tritt, so auch er. Der endzeitliche Weltherrscher tritt also nicht als ein finsterer Tyrann, sondern als das gleißende Gegenbild des Weltheilands auf; er wird als Weltheiland verehrt und angebetet! Darum ist er der politische Anti­christ.

Was die Offenbarung so in ihrer Bildersprache aussagt, wird im NT bezeichnender­weise sonst nur in den johanneischen Schriften begrifflich ausgesprochen. Vom Antichristen reden auch 1 Joh 2,18.22; 4,3; 2 Joh 7. Dieser Antichrist der johanneischen Briefe ist jedoch keine politische, sondern eine theologische Erscheinung. Gemeint sind damit nämlich die Irrlehrer in der Gemeinde. Ohne Verwendung der Bezeichnung ent­wirft auch 2 Thess 2,1—12 ein Bild des Antichrist8.

Das Verhalten des Antichrist ist dadurch gekennzeichnet, daß er Gott lästert (13,5 f), indem er sich göttliche Titel beilegt und damit den An­spruch erhebt, nicht „Rute und Axt“ in der Hand Gottes (Jes 10,12 ff; 14,13 f), sondern letzte Instanz zu sein, sowie dadurch, daß er die Ge­meinde verfolgt, die ihm die geforderte Anbetung verweigert (13,7 f). Vor der Anbetung des Antichrist zu warnen, ist der Skopus von Offb 13. Hier ist an den altorientalischen Herrscherkult zu denken, der durch die römische Reichsideologie in steigendem Maße auf die römischen Kaiser übertragen worden war. Domitian drängte als einer der ersten schon zu Lebzeiten auf göttliche Verehrung. Dieser Personenkult war keineswegs nur ideologisches Spiel, sondern Ausdruck echter Religiosität. Der Kaiser war für die Menschen seit Augustus tatsächlich die Gottheit, die den Lebensunterhalt garantierte und ein sinnvolles Dasein ermöglichte9. Des­halb, verehrte man ihn. Die Christen, die als einzige unter den Welt­bewohnern (13,8) nicht den Weltherrscher, sondern Gott um das tägliche Brot baten, erschienen ihrer ideologisierten Umwelt als ein überheblicher Haufe, der die Solidarität der sich selbst helfenden Menschheit sprengte. So kommt es zu einer totalen Auseinandersetzung zwischen der Kirche und der politischen Ideologie, die nach Offb 13,7 a mit dem Erliegen der Kirche endet (vgl. 11,7 f). Als Folgerung ergibt sich für die Gemeinde aber nicht Widerstand (vgl. Mt 5,39), sondern „Ausharren und Glaube der Heiligen“ (13,9 f; vgl. 12,11).

b) Das zweite Tier

Das zweite Tier (13,11—18) gleicht dem Lamm (V. 11) und redet wie der Drache: es ist der falsche Prophet. Es soll, bevollmächtigt vom ersten Tier, dafür sorgen, daß die Erdbewohner das erste Tier anbeten (V. 12— 17). Es bewirkt die Anbetung durch Pseudowunder (V. 13 ff) und durch indirekten Zwang (V. 16 f). Die Gemeinden des Johannes wurden durch dieses Bild des falschen Propheten an die Vertreter der Reichsideologie erinnert, sowie an Philosophen, Dichter, Künstler und Priester, die diese Ideologie je in ihrer Weise vertraten und öffentlich propagierten. Die durch Jesus zum Leben Berufenen sollen weder dem trügerischen Schein noch dem Druck nachgeben. Sie sollen den Nebel der Ideologie durch­schauen, wenn pax et securitas angeboten werden (1 Thess 5,3), und nicht „anbeten“.

Die um die Mitte unseres Jahrhunderts aus bedrängenden konkreten Anlässen immer wieder gestellte Frage, ob unser Staat Staat im Sinne von Röm 13 oder von Offb 13 sei, beruht im Sinne des NT freilich auf einer falschen Alternative. Die politischen Er­scheinungen sind durchweg ambivalent. Dabei ist die Tendenz, das Politische zum Letzten zu machen, es zu vergöttlichen, immer gegeben. Aufgabe der Christen ist es, diese Tendenz mit Hilfe von Offb 13 aufzudecken und sich ihr zu versagen, und zwar gerade dann, wenn sie theologisch verbrämt wird.

c) Die heilsgeschichtlichen Voraussetzungen des Konflikts

Die prophetische Schau des Konflikts in Offb 13 darf nicht isoliert werden von Offb 12, wo die heilsgeschichtlichen Voraussetzungen dafür vergegenwärtigt werden. Dieses Kapitel prägt ein doppeltes ein:

1. Die großen Entscheidungen sind bereits gefallen in der Erscheinung des Weltheilands (12,1—6) und seiner Entrückung zu Gott (12,7—12); der Ankläger der Menschen ist durch Jesu Sterben entmächtigt (12,13— 18). Auch die Kirche als solche ist geborgen. So geht es in diesen Ausein­andersetzungen nicht mehr um Sein oder Nichtsein des Christus und der Kirche, sondern nur noch darum, daß der einzelne Jünger treu ist.

2. Der Angriff der politischen Ideologie auf die Kirche entspringt nicht vorchristlichem Heidentum, sondern der nachchristlichen Weltsituation. Er ist Reaktion der — durch den Satan repräsentierten (12,9; 20,2.7) — sich Gott versagenden Welt auf die Erscheinung des Christus und die Aufrichtung der endzeitlichen Heilsgemeinde.

6. Die Wesenszüge der Endgeschichte (Offb 6—11 und 15—19)

  1. Die Gemeinde in der Weltgeschichte

In der Abfolge der Bilderreihe vom Ablauf der Weltgeschichte in den dreimal sieben Visionen der Siegel, Schalen und Posaunen erscheint die Gemeinde nur in einer einzigen Vision, der fünften Siegelvision (6,9— 11). Der Seher vernimmt hier die Frage derer, die „um des Wortes Gottes und des Zeugnisses willen“ Opfer geworden sind: „Wie lange rächst du unser Blut nicht an den Weltbewohnern?“ Diese Frage des angefochtenen Glaubens — sie ist nicht, wie vielfach behauptet, ein urchristlicher Schrei nach Rache, sondern die Frage der Klagepsalmen nach Gott — wird durch die Antwort (6,11) korrigiert: Die Christen sollen nicht nach Gottes Verhalten gegenüber der Welt fragen, sondern nach dem, was sie angeht! Sie sollen sich noch kurze Zeit gedulden, bis die Zahl der Christen voll ist, die nach dem Heilsplan noch das Martyrium leiden sollen. Die Kirche steht in der Geschichte nach dem Urteil des Sehers als Märtyrer­kirche, und zwar, obgleich für sie eine aktuelle Martyriumssituation noch nicht gegeben ist. Der Seher entwirft also ein Wesensbild, das etwa Joh 15,19 f entspricht: „Weil ich euch aus der Welt erwählt habe, darum haßt euch die Welt … Wenn sie mich verfolgt haben, so werden sie euch auch verfolgen.“ Deshalb soll die Kirche die Frage der Klagespsalmen dahintenlassen. Angesichts des Kreuzes des Gerechten bringt die Offen­barung die Frage der Psalmen nach dem Leiden der Gerechten unter den Christen zum Schweigen.

b) Die nachchristliche Weltgeschichte unter dem Gericht

Die Erdbewohner bedrängen die Gemeinde, weil sie ihr Zeugnis ab­lehnen. Kehrseite dieser Ablehnung des Evangeliums ist das Gericht. Das wird in Offb 8,3—5 angedeutet und in 19,2 ausgesprochen. Von da aus werden die Wesenszüge des Weltgeschehens verständlich, die in den drei­mal sieben Zyklen dargestellt werden. Die Weltgeschichte ist von ge­schichtlichen und kosmischen Katastrophen gekennzeichnet, die schließ­lich das Weltgeschehen zum Erliegen bringen.

Der Weltlauf steht hier nicht mehr (wie nach Röm 3,25) vor Christus unter der zuwartenden Geduld Gottes (anoche); er ist dem Zorngericht Gottes verfallen. Nach Offb 15,7 sind die sieben Schalen, aus denen sich Schrecknisse abschließend über die Erde ergießen, voll des Zornes Gottes (vgl. 15,1 und 16,1). Alle diese Erschütterungen münden aus in den großen Tag des Zornes Gottes (Offb 6,16 f; 11,18; 14,10; 16,19; 19,15). Der Zorn ergießt sich, weil die Menschen nicht umkehren von ihren „bösen Werken“, vor allem von der „abgöttischen Verleugnung ihres Schöpfers“ (9,20 f; 16,9 ff). Die Offenbarung malt in apokalyptischen Bildern für den Geschichtsablauf aus, was Joh 3,18 individuell sagt: „Wer den Glauben versagt, ist schon gerichtet.“ Dieses Gerichtsgeschehen der dreimal sieben Visionen wird konkret zugespitzt in dem letzten Zyklus über den Fall „Babylons“ (17,1—19,10), den Untergang Roms, der blühenden Welthauptstadt (Kp. 19). Hier wird noch einmal deutlich, daß der Seher durchaus nicht eine von Kriegen und Katastrophen er­schütterte Welt vor sich hat. Er analysiert ja nicht etwa eine wahrnehm­bare Situation in Bildern, sondern entwickelt aus seiner Einsicht in die Hintergründe eine prophetische Wesensschau.

c) Die innergemeindliche Existenz

Mit der innergemeindlichen Existenz befassen sich die Kp. 7,10 und 11. Die Gemeinde wird hier in zwei Gestalten gesehen, die man herkömmlich mit den Termini ecclesia militans und ecclesia triumphans unterschieden hat. Erstere erscheint in 7,1—8; 14,1—5 sowie in 10 und 11, letztere in 7,9—17). Aus diesen Bildern ist dreierlei hervorzuheben:

1. Die Offenbarung weiß nichts von einer gegenwärtig im Himmel vorhandenen verklärten Gemeinde, die zu unterscheiden wäre von der nach der Parusie hervortretenden vollendeten Gemeinde in Offb 21,3 f. 6. Der Seher schaut vielmehr in 7,9—17 als überzeitliche Ewigkeit im Himmel, was für die in der Zeit Lebenden erst am Ende kommt.

2. Für die Gemeinde in der Zeit liegt alles an der hypomone, dem Aus­harren im Glaubensgehorsam (1,9; 2,2 f; 3,10; 12,19; 13,10; 14,12). Diese hypomone entspricht der Bedrängnis durch die Trübsal. Die Gemeinde leidet in doppelter Weise: sie leidet mit der Welt unter den Gerichten Gottes10; vor allem aber leidet sie um ihres Zeugnisses willen unter der Welt (1,9; 2,9 f; 7,14). An der Bewährung der hypomone erweist sich, wer wirklich zur Gemeinde gehört: Wer im Buch des Lammes steht, wer erwählt ist, der betet den Antichrist nicht an.

3. Diese angefochtene Gemeinde trägt der Welt gegenüber das Zeugnis (11,3—13). Ihr ist verheißen, daß sie bis ans Ende als Gottes ausgemesse­ner, heiliger Bezirk vor Profanierung bewahrt bleibt (11,1 f) und ihr Zeugnis bis zuletzt ausrichten kann (11,10). Am Ende steht freilich nicht der Sieg der Weltmission, sondern das Zum-Erliegen-Kommen des Zeug­nisses: Die Zeugen liegen „erschlagen auf den Straßen der großen Stadt, die geistlich heißt Sodom und Ägypten, wo auch ihr Herr gekreuzigt wurde“ (11,8). Das Zeugentum wie die Kirche erliegen am Ende dem Antichristentum (11,7; 13,7).

All das ist, wie bereits deutlich wurde, ein anderer Aspekt der Welt­geschichte wie der Kirchengeschichte, als ihn die anderen Bücher des NT vermitteln. Er darf nicht absolut gesetzt werden, wie das immer wieder in kirchengeschichtlichen Engpässen geschehen ist, aber er darf genausowenig beiseite geschoben werden, wie es einem privilegierten Christen­tum nahe liegt.

7. Die Vollendung

a) Die Vollendung der Gemeinde (20,1—10)

Das Bild der Offenbarung vom Verlauf der Gesamtgeschichte schließt mit der Ankündigung einer transzendenten Zukunft. Und zwar wird diese Zukunft nicht spekulativ als Projektion menschlicher Bedürfnisse entworfen; sie ist vielmehr die Vollendung dessen, was den Men­schen in Jesus begegnet ist.

Das gilt auch und gerade von dem viel mißverstandenen Bild des tausendjährigen Reiches (20,1—10). Nachdem der Satan, der nach 12,7—12 im Himmel durch die Erhöhung Jesu bereits entmächtigt wurde, auch auf der Erde ausgeschaltet und damit die Anfechtung und die Ver­suchung zu Ende sind (20,1—3), bricht das tausendjährige Reich Christi (20,4—6) an. Die Christen werden vor allen anderen Toten auferweckt, um tausend Jahre mit Christus zu herrschen.

Was besagt dieses Bild? Sein Skopus liegt in der Aussage von der Teilhabe der Christen an der ersten Auferstehung (V. 5 b. 6). Sie ist die besondere Auferweckung der Christen, die der allgemeinen Totenaufer­stehung vorhergeht.

Diese erste Auferstehung ist eine spezifisch urchristliche Erwartung, die der jüdischen Apokalyptik fremd ist. Sie begegnet bereits in 1 Thess 4,16 ff und 1 Kor 15,23. Das „Zuerst“ soll dabei nicht einen zeitlichen, sondern einen qualitativen Vorrang bezeich­nen: Die Auferweckung der Christen hat — das soll gesagt werden — anderen Sinn als die Wiederbelebung aller. Die Christen warten nicht lediglich auf eine physische Wiederbelebung, ein paradiesisches Leben, sondern auf eine Auferstehung zur Ver­einigung mit ihrem Herrn, die Leben bedeutet.

Diese Mitte der christlichen Enderwartung ist etwa in 1 Petr 1,8 f umschrieben: „Ihn … liebt ihr, an ihn glaubt ihr (nämlich an Christus), obgleich ihr ihn jetzt nicht seht. Ihr werdet aber mit unaussprechlicher Freude jubeln, wenn ihr das Ziel eures Glaubens empfangt“. Dem entspricht, was das Johannesevangelium mit anderen Kategorien und ohne das bildliche „zuerst“ umschreibt (Joh 5,29), wenn es die Auferstehung zum Leben verheißt (vgl. 2 Kor 5,8; 1 Joh 3,2).

So meint dieses Bild der „ersten Auferstehung“ das Herzstück der christlichen Enderwartung. Die Vereinigung mit dem Herrn, an den man jetzt schon glaubt, wird nichts Vorläufiges, sondern das in sich un­überbietbare neue Leben sein: „Selig, wer an der ersten Auferstehung Teil hat, denn über diese hat der zweite Tod (seil, die Verdammnis) keine Gewalt“ (Offb 20,6). Diese vollendete Gemeinschaft mit dem Herrn wird nun in der zweiten Hälfte des Bildes beschrieben als ein Mitherrschen mit Christus.

Die chiliastische Deutung von Offb 20 fand hier Aussagen über einen Siegeszug der Mission und die Verwirklichung der messianischen Herrschaft auf Erden. Aber von all dem redet hier nicht einmal die Bildhälfte. Ja, der Kontext schließt aus, daß die auferstandene Gemeinde überhaupt noch mit anderen Menschen in Berührung kommt. Das „Herrschen mit Christus“ hat vielmehr den Sinn der vollen Anteilhabe an seiner basileia. Waren die Christen bisher von Gott her in diese Heilsherrschaft hinein­genommen (5,10), so können sie nunmehr wirklich uneingeschränkt Gott und einander dienen.

Der Chiliasmus kann sich also nicht auf Offb 20 berufen; er ist, wie sich historisch zei­gen läßt, im 2. Jh. unabhängig von Offb 20 aus jüdischen Traditionen entstanden und hat Offb 20 nachträglich in seinem Sinne gedeutet. Offb 20 aber hat lediglich einige Elemente der jüdisch-apokalyptischen Vorstellung vom messianischen Zwischenreich als Bildmaterial aufgenommen.

b) Das universale Weltgericht (20,11—15)

Wir lesen in 20,12: „Und ich sah die Toten, die großen und die kleinen, vor dem Thron stehen, und Bücher wurden aufgeschlagen“. Alle, auch die Christen, werden nach ihren Werken gerichtet, aber nach den „Bü­chern“ der Werke kann keiner bestehen. Gerettet werden nur die, die im Buch des Lebens stehen, nämlich die in Christus Erwählten und Berufenen (13,8).

Das Bild von den Büchern, nach denen die Menschen gerichtet werden, ist uralt. Wir finden es schon in altägyptischen Darstellungen vom Toten­gericht. Aber in dieser Gestalt ist es einzigartig. Es gibt hier nämlich die spezifisch ntl. Vorstellung vom Endgericht wieder. Nach Paulus kommen alle, auch die durch Glauben Gerechtfertigten, in das Gericht nach den Werken (2 Kor 5,10), und ihr Verhalten wird ernsthaft gewogen; es gibt Lob und Tadel (1 Kor 3,12—15). Das Bestehen im Gericht aber ist nicht von den Werken, auch nicht von dem neuen Gehorsam der Christen zu erwarten, sondern einzig und allein von dem endgültigen Eintreten Christi (Röm 5,9). Diese Erwartung beruht auf dem Logion Jesu vom zum Gericht erscheinenden Menschensohn, der sich zu denen bekennen wird, die sich hier zu Jesus bekannt haben (Lk 12,8): der Weltrichter wird ihr Retter sein. Genau diese spezifisch christliche Erwartung stellt die Offenbarung durch ihre Ausformung des Bildes von den Büchern dar, und zwar durch die Herausstellung dieses eigentümlichen Gegenübers der vielen Bücher der Werke auf der einen und der Rettung allein durch das Buch des Lebens auf der anderen Seite.

c) Die neue Schöpfung (21,1—8)

Auch in der abschließenden Vision von der neuen Schöpfung (21,1—8) wird nicht ausmalend beschrieben, sondern verkündigt, was von der Vollendung zu erwarten ist. Was in V. 1—5 als die heile Zukunft für die Menschheit angekündigt wird, ist nicht das wiederkehrende goldene Zeit­alter, wie es in Vergils 4. Ekloge utopisch als die Lösung der Probleme des Menschseins entworfen wurde. Es ist vielmehr das schaubare An­brechen des Reiches Gottes, das Jesus in den Seligpreisungen verheißen hatte und in seinem Wirken verborgen gegenwärtig werden ließ. Jeder Vers nennt einen Wesenszug der Vollendung: Eine neue Welt wird ge­schaffen (V. 1) und in sie kommt vom Himmel herab das neue Jerusalem (V. 2). Dieses neue Jerusalem ist nicht die Wohnstätte der Vollendeten, sondern Symbol der Gottesgemeinde. Es ist ja die „Braut“, das Symbol der Gottesgemeinde (19,7). Die neue Welt wird für die neue Gemeinde geschaffen. Diese aber ist identisch mit der neuen Menschheit. Die Ge­meinde ist, was sie ist, weil Gott unter ihr zeltet (V. 3). Weil Gott mit ihnen ist, wird alles Übel verschwunden sein (V. 4). Es wird, wie V. 5 zusammenfassend ankündigt, „alles neu“ sein (und dies ist das erste Wort der Offenbarung, das unmittelbar als Wort Gottes bezeichnet wird!). In der neuen Schöpfung kommt das in Jesu Auferstehung begonnene Neu­werden zum Ziel.

8. Ansatz und Problematik der endgeschichtlichen Eschatologie11

a) Die Erwartung einer leibhaften Vollendung des Menschen, der Geschichte und der Welt wuchs für das ntl. Christentum keineswegs selbst­verständlich aus dem Weltbild seiner Umwelt heraus. Sie war für helle­nistisches Denken mehr als befremdlich, genauso wie für das hellenistische Judentum. Schon in 1 Kor 15 setzt sich Paulus daher mit einer Bewegung in Korinth auseinander, die eine leibhafte Auferstehung der Glaubenden bestreitet. Die palästinische Apokalyptik aber war mit ihrer absurden Ausprägung solcher leiblich-geschichtlichen Erwartungen mehr Anlaß zum Mißverständnis als positiver Ausgangspunkt. Paulus wehrt nicht anders als Jesus die Erwartung der pharisäischen Apokalyptik ab, wonach der Mensch wiederkommt, wie er gegangen ist (Mk 12,18—27 par). So ist die christliche Enderwartung ein eigenständiges Gebilde in ihrer Umwelt.

b) Wo aber liegt der Ansatz dieser ntl. Erwartung? Paulus weiß ebenso wie Jesus, daß der Mensch in seiner personhaften Ganzheit von Gott gefordert wird, weil der Schöpfer sein Geschöpf als ganzes zum Ziel bringen will. Deshalb steht und fällt für ihn das Heilwerden damit, daß die Glaubenden ebenso wie Jesus selbst in ihrer personhaften Ganzheit zu einer bleiben­den Existenz vor Gott auferweckt werden. Für Paulus muß die Rechtfertigung der Glaubenden in der Erlösung des Leibes und aller Kreatur zum Ziel kommen (Röm 8,18—30). Ein neues Personsein aber bedeutet auch eine neue Kommunikation mit anderen, eine neue Gemeinschaft und damit eine neue Lebenssituation, d. h. eine „neue Welt“. Diesen Zusammenhang vertritt das ganze NT — selbst das Johannesevangelium. Auch heute bleibt mit dem Glauben die Erwartung verbunden, daß das Ich-Du-Verhältnis zu Gott jenseits des Todes weiter­besteht und vollendet wird und daß das neue Menschsein, das Jesus gefordert und verborgen vermittelt hat, in der Weise in Erscheinung treten wird, wie dies im Ostergeschehen vorgezeichnet ist.

c) Die Frage nach dem Wie ist für uns freilich noch ungleich schwieriger geworden, als sie es schon für den hellenistisch-jüdischen Menschen war. Auf dessen Frage: „Wie werden die Toten auferweckt? In welchem Leib werden sie kommen?“ antwortete schon Paulus: „Du Tor, . . . Gott gibt ihm einen Leib, wie er will“ (1 Kor 15,36.38). Für uns ist diese Frage nach dem Wie angesichts der Geschlossenheit wie der Unermeßlichkeit des naturwissenschaftlichen Weltbildes noch mehr als für Paulus jeder Vorstellbarkeit entzogen. Die Enderwartung lebt heute mehr denn je von dem Dennoch der Gottesgemeinschaft, wie es Ps 73 ausspricht. Und sie lebt damit von der ebenfalls unvorstellbaren Wirklichkeit Gottes selbst.

d) Die Offenbarung bleibt grundsätzlich in dieser durch das Christus- zeugnis und den Glauben gewiesenen Linie. Sie bringt — auch im letzten Zyklus — entgegen der jüdischen Apokalyptik keine gegenständlichen Beschreibungen, keinen Zeitplan und keine Abfolge von Ereignissen. Sie verkündigt auch hier an visionären Bildern die Wesenszüge des End­geschehens, die im Glauben von dem Heilshandeln Gottes in Christus her gewiß werden.

9. Offenbarung und 1. Petrusbrief — zwei Aspekte

Blicken wir nun abschließend auf das Ganze zurück, so ergibt sich: Die Offenbarung weist die Christen unter anderen Aspekten in die Geschichte ein als der 1. Petrusbrief. Der 1. Petrusbrief ruft zu sozialpolitischer Ver­antwortung in einer vorchristlichen Welt, die auf Christus hin gesehen wird. Die Offenbarung verpflichtet dagegen zum Durchhalten des Be­kenntnisses wie des Zeugnisses in einer nachchristlichen Weltsituation, die einer antichristlichen Ideologie verfällt. Beide Aspekte sind für die christliche Existenz in der Gesellschaft richtungweisend. Sie sind nicht deskriptiv, sondern kerygmatisch gemeint und schließen darum einander nicht aus, sondern ergänzen sich polar.

Diese Aussagen über die christliche Existenz in der Gesellschaft stecken den Rahmen für die Lebenssituation der Gemeinde in der nachpaulinischen Zeit ab. Dem Wort über das Bestehen in den Strukturen der Gesell­schaft entspricht nun ein ungleich mehr ausgeführtes und differenzieren­des Wort über das Bestehen in den übrigen Lebensbeziehungen, im indi­viduellen Verhältnis des Christen zu seinem Nächsten, zur Gemeinde und vor allem zu sich selbst und zu Gott. Hier liegen die eigentlichen Wurzeln des Christseins. Nur wenn die Christen in diesen Beziehungen Christen bleiben, haben sie eine Aufgabe in der Gesellschaft (Offb 3,16; Mt 5,13).

Das Bemühen der nachpaulinischen Schriften um diese innere Situation des Christseins differenziert sich je nach der örtlichen Situation in den einzelnen Kirchengebieten. Darum wollen wir im folgenden die Stellung­nahmen dazu gegliedert nach Kirchengebieten darstellen.

Quelle: Leonhard Goppelt, Theologie des Neuen Testaments, hrsg v. Jürgen Roloff, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 31981, S. 509-528.

1 Im einzelnen ergibt sich folgendes Gliederungsschema:

Einleitung 1,1—20

A. Die Offenbarung für die Gegenwart

1. Zyklus: die 7 Sendschreiben 2,1—3,22

B. Die Offenbarung für die Zukunft 4,1—22,5

2. Zyklus: Einleitung des Zukunftsbildes 4,1—5,14
und die 7 Siegel 6,1—8,1
(7,1—17: die Gemeinde)

3. Zyklus: die 7 Posaunen 8,2—11,14
(10,1—11,14: die Gemeinde)

4. Zyklus: der Drache und das Lamm (Weltmacht und Gottesgemeinde) 12, 1—14,20 (12,1—18: die Frau mit dem Kind und der Drache; 13,1—18: die beiden Tiere; 14,1—20: die Vollendung durch Christus)

5. Zyklus: die 7 Schalen 15,1—16,21

6. Zyklus: der Sturz Babylons 17,1—19,10

7. Zyklus: die Parusie Christi und die Vollendung 19,11—22,5
(19,11—21: die Parusie und das Gericht über den Antichrist;
20.1—10: die Entmächtigung des Satans und die Vollendung der Gemeinde auf Erden; 20,11—15: das Weltgericht; 21,1—8: die neue Schöpfung; 21,9—22,5: das neue Jerusalem).

Schluß 22,6—21

2 Das Thronen ist typisches Bild für die Funktion des Herrschens bzw. des Rich­tens; vgl. Otto Schmitz, ThW III, 165 f.

3 Pantokratōr ist typisches Gottesprädikat der LXX; vgl. Wilhelm Michaelis, ThW III, 913 f.

4 Das Horn ist schon bei Daniel (8,3) Symbol der Macht; vgl. äth Hen 90,9.37; syr Bar 66,2. Die Siebenzahl symbolisiert das Vollmaß.

5 Theol. I, 541.

6 Nach den Sendschreiben leben die Gemeinden der Asia nicht in einer ausgeprägten Verfolgungssituation; nur in 2,13 ist vom Martyrium eines einzelnen Gemeindegliedes die Rede.

7 So ist die „große Stadt“ (11,8) Bild der Welt, „in der ihr Herr gekreuzigt wurde“.

8 Zur Vorgeschichte dieser Vorstellung vgl. Martin Dibelius, Hdb. zu 2 Thess 2,10 (Exkurs).

9 Von hier aus wird V. 8 verständlich: Die einzigen, die nicht den Weltbeherrscher, sondern Gott um das tägliche Brot bitten, sind eben die, die im Buch des Lebens stehen.

10 Einzige Ausnahme: Offb 9,4.

11 Zur Frage nach der sogenannten endgeschichtlichen Eschatologie vgl. Folke Holmström, Das eschatologische Denken der Gegenwart, 1936; Walter Kreck, Die Zukunft des Gekommenen, 1961; Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung, 1964.

Hier der Text als pdf.

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