Karl Löwiths Rundfunkvortrag über Töten, Mord und Selbstmord (1962): „Es gibt nur ein einziges stichhaltiges Argument gegen das Recht zur Selbstvernichtung, und dieses ist kein eigentlich moralisches, sondern ein religiöses. Es steht und fällt mit dem christ-lichen Glauben, dass der Mensch ein Geschöpf Gottes ist, dass er sein Leben als eine Gabe geschenkt bekam. Dann, aber auch nur dann, ist der Selbstmord in der Tat ein Mord, ein höchstes Unrecht gegen Gott.“

Töten, Mord und Selbstmord (1962)

Von Karl Löwith

Das biblische Gebot »Du sollst nicht töten« wäre nur dann eindeutig, wenn es unter allen Umständen und in jeder Hinsicht gälte. Faktisch ist man sich aber selbst in der christlichen Kirche nicht darüber einig, ob der Kriegsdienst unbedingt zu verwerfen und ob Kriegsdienstver­weigerung ein unbedingtes Gebot für den Christen ist. In den fünf Büchern Moses werden die Feinde Israels keineswegs geliebt, sondern dem Willen Gottes gemäß massenhaft vernichtet. Und wir töten nicht nur im Ausnahmefall des Kriegs, der so häufig ist, wie die Geschichte vorwiegend eine solche von Kriegen um Herrschaft ist, sondern wir töten auch ständig ohne Bedenken andere Lebewesen, die uns zur Nahrung dienen, ohne solches Töten als Mord zu empfinden. Auch das Töten im Krieg ist nicht einfach »Massenmord«. Im Unterschied zum erlaubten und geforderten Töten im Krieg gilt das Töten im bürgerlichen Leben als Mord, der die Todesstrafe verdient. Im Krieg gilt das Recht auf die Erhaltung des eigenen Lebens nicht als das höchste Recht, und der Staat verlangt von seinen Bürgern etwas sehr Unbürgerliches: die Bereitschaft zum Opfer des individuellen Lebens. Wenn freilich der Staat nichts anderes wäre als ein Gesellschaftsver­trag, dann wäre eine solche Zumutung widersinnig und ungerecht. Aus diesem Unterschied zwischen der Beurteilung des Tötens im Krieg und im bürgerlichen Leben, der ein Widerspruch ist, haben unbedingte Pazifisten gefolgert, daß es ein eklatanter Widersinn sei, im öffentli­chen Leben des Staats zu rechtfertigen, was im privaten, bürgerlichen Leben als ein Verbrechen gilt. Die Sachlage ist aber im einen und im anderen Fall nicht dieselbe, denn der Krieger setzt sich selbst dem Tode aus, indem er andere tötet. Ares, heißt es in der Ilias, ist gerecht, denn er tötet die, welche töten. Zum Töten im Krieg gehört Mut, denn jeder wagt sein eigenes Leben, indem er andere angreift und tötet. Der Krieg ist ein Kampf auf Leben und Tod, Töten und Getötetwerden sind in ihm aufeinander bezogen. Der Mörder tötet, ohne zum Kampf herausgefordert zu sein, und er wagt nicht unmittelbar sein Leben; er riskiert nur die Verfolgung durch die Kriminalpolizei. Dagegen ist es mehr als ein Verbrechen, das einen Rechtszustand voraussetzt, wenn man rechtlose und wehrlose Menschen in Massen vernichtet, ohne dabei selber sein Leben oder auch nur Bestrafung zu riskieren.

Es gibt aber außer dem Töten im Kriege und dem Mord im bürgerlichen Leben noch eine dritte Möglichkeit des Tötens: der Mensch kann sich selber töten. Man nennt diese äußerste Möglichkeit der Stellungnahme zum eigenen Dasein gewöhnlich »Selbstmord«, ein Wort, das mit seinem Beiklang des Verbrecherischen ebenso unpas­send ist wie das allzu harmlose »Freitod«, das aber doch den Vorzug hat, das Moment der Freiheit im Entschluß zur Selbstvernichtung zu betonen. Der Freiheit zu einem solchen Entschluß widerspricht nicht, daß dieser seinerseits motiviert und physisch wie psychisch bedingt ist. Man redet meist nicht gerne davon, wenn sich ein Mensch das Leben nahm, oder man spricht von »temporary insanity«, obwohl es wenige Menschen geben dürfte, die nicht mindestens einmal im Leben mit dieser Möglichkeit in Gedanken mehr oder weniger ernsthaft gespielt haben. An und für sich ist die Freiheit zur Selbstvernichtung des eigenen Daseins eine spezifisch menschliche Möglichkeit. Ein notwen­dig existierendes Wesen wie Gott kann sich nicht selbst vernichten. Desgleichen kann sich ein Tier so wenig selber töten, wie es sich selbst ins Leben hervorgebracht hat; es kann nur von Natur aus verenden. Ein Hund, der nach dem Tode seines Herrn zu fressen aufhört und stirbt, begeht keinen Selbstmord. Der Mensch hat sich zwar auch nicht selber ins Dasein gebracht, aber er kann den Akt der Selbstvernichtung vollziehen, weil er überhaupt von allem, was ist, nicht zuletzt von seiner eigenen natürlichen Existenz, Abstand nehmen kann.

Der Hauptunterschied zwischen Selbstvernichtung und Mord sowie dem Töten im Krieg scheint zu sein, daß keine Handlung so bezugslos zu anderen Menschen ist wie der Selbst­mord. Im Krieg geht es wechselseitig um Leben und Tod, man tötet, um nicht selber getötet zu werden[1]. Wer mordet, ist einseitig auf einen anderen bezogen, den er aus irgend einem Grunde tötet: aus Haß, Rachsucht, Eifersucht; aus sexueller Perversion im Lustmord; aus Habgier im Raubmord, oder um einen politischen Gegner zu beseitigen. Der Selbstmord geschieht jedoch scheinbar in radikaler Vereinzelung auf sich selbst. Schon jede Andeutung oder gar Androhung zu anderen, daß man sich selber töten werde, entzieht dem Entschluß die Entschiedenheit. Um radikale Vereinzelung handelt es sich auch im Falle des Doppelselbstmords, wenn sich zwei Menschen zusammen das Leben nehmen, weil sie so sehr zueinander gehören, daß sie nicht ohne den anderen weiterleben mögen. Dennoch ist der Mensch auch noch in dieser äußersten Tat der Vereinzelung nicht ganz und gar auf sich selbst gestellt und allein, alles in einem, sondern Mitmensch unter Mitmenschen. Wer sich selbst vernichtet, will nicht mehr sein, d. h. er will nicht mehr auf der Welt sein, d. h. in der Mitwelt seine Rolle weiterspielen. Die Menschen töten sich zumeist, um sich unerträglichen Verhältnissen zu entziehen, um einem fundamentalen Mißverhältnis zu ihrer Welt zu entgehen. Auch wer sich wegen einer unheilbaren Krankheit tötet, entzieht sich damit dem Verhältnis seines Selbst zu seinem Leib, er entleibt sich. Wenn sich solche Verhältnisse plötzlich ändern und zum Besseren wenden, wird der Entschluß zur Selbstvernichtung wieder aufgegeben. Wer an ihm festhält, tut es unter der Voraussetzung, daß sich die Verhältnisse nicht ändern werden, daß sie aussichtslos und hoffnungs­los sind. Wie sehr der Mensch als Mitmensch von seinen Verhältnissen bedingt und nicht unbedingt selbständig ist, läßt sich auch daraus entnehmen, daß ein Mensch sich selber töten kann, um nicht einen anderen umzubringen. Man kann an einem anderen zum Mörder werden, weil man sich von ihm mißachtet, gequält, erniedrigt oder verraten weiß; man kann aus denselben Gründen auch sich selbst das Leben nehmen. Die Leidenschaften, die das Verhältnis der Menschen zueinander beherrschen: Liebe und Haß, Eifersucht, Herrschsucht, Habsucht, Ehrgeiz, wirken stets zweiseitig und zweideutig. Die Selbst­achtung des Menschen hängt mit tausend unsichtbaren Fäden von der Achtung anderer ab. Die massenhaften Selbstmorde deutscher Juden am Beginn und während der Herrschaft des Nationalsozialismus haben deutlich gezeigt, daß der Mensch nicht mehr leben will, wenn er sich von der für ihn maßgebenden Mitwelt verachtet weiß. Man tötete sich nicht nur, um der Deportation und Vergasung zu entgehen, sondern aus der Verzweiflung über die grenzenlose Entwürdigung, in dem Be­wußtsein, daß man für die anderen überhaupt nicht mehr ein Mensch war, sondern ein auszurottendes Ungeziefer. Und wenn man Berichte von Überlebenden der Konzentrationslager liest, so kann man nur staunen, unter welchen Verhältnissen diese Menschen weiterge­lebt haben und sich an das nackte Leben hielten. Aber auch die wenigen, welche dieses Leben, das keines mehr war, überstanden haben, kamen nicht als dieselben wieder. Man fragt sich: wie konnte ein solches Übermaß an Entmenschung ertragen werden, warum haben sich diese Menschen nicht, wie viele ihrer Leidensgenossen, getötet? Am Beginn des Nationalsozialismus waren es vorwiegend deutsche Juden gewesen, die Selbstmord begingen; am Ende waren es hauptsächlich Männer in führender Stellung, die sich durch Selbst­mord der Verantwortung entzogen. In Japan, wo der Selbstmord eine alte, vornehme Tradition hat, töteten sich die maßgebenden Staats­männer nach der Kapitulation nicht, um sich der Verantwortung zu entziehen, sondern um ihre Ehre zu retten und in dem Bewußtsein der Solidarität mit ihrem besiegten Volk, stellvertretend. Alle diese Men­schen haben sich freiwillig, unter dem Zwang der Verhältnisse, das Leben genommen: frei und gewolltermaßen, weil kein Mensch gezwungen werden kann, sich selbst zu töten[2], und gezwungenerma­ßen, weil sich im allgemeinen kein Mensch das Leben nimmt, solange er noch eine Spur von Hoffnung hat, daß sich die Verhältnisse ändern könnten. Die Ansicht liegt deshalb nahe, daß jeder Selbstmord aus Verzweiflung am Leben geschieht oder besser gesagt: aus De-speration, was wörtlich Fehlen von Hoffnung heißt. Es hat zunächst den Anschein, daß es einen nicht verzweifelten, gelassenen, philosophi­schen Selbstmord und eine echte Freiheit zum Tode nicht gibt und nicht geben könne.

Hat man aber überhaupt ein Recht und hat es einen Sinn, den Selbstmord »Mord« zu nennen? Ist diese Bezeichnung nicht noch viel fragwürdiger als die Bezeichnung des Kriegs mit »Massenmord«? Hat schon jemals ein Mensch sich selbst gemordet, so wie ein Verbrecher mordet? Wenn es zutrifft, daß der Mensch im Unterschied zum Tier Selbstbewußtsein und Wille ist und daß er überhaupt nur lebt, sofern er leben will, warum sollte er sich nicht auch das Leben nehmen dürfen, das er sich selbst nicht gegeben hat, das ihm zufällig zufiel, ob er es wollte oder nicht? Woher das allgemeine Vorurteil, daß Selbst­mord eine Sünde sei oder doch unmoralisch? Es gibt nur ein einziges stichhaltiges Argument gegen das Recht zur Selbstvernichtung, und dieses ist kein eigentlich moralisches, sondern ein religiöses. Es steht und fällt mit dem christlichen Glauben, daß der Mensch ein Geschöpf Gottes ist, daß er sein Leben als eine Gabe geschenkt bekam. Dann, aber auch nur dann, ist der Selbstmord in der Tat ein Mord, ein höchstes Unrecht gegen Gott. Wir sind dann nicht ursprünglich und ausschließlich uns selbst verantwortlich und uns selbst gehörend, sondern wir haben uns vor dem zu verantworten, der uns geschaffen hat. Die Selbstvernichtung ist dann eine ungehörige Anmaßung, ein Aufstand des Menschen gegen seinen Schöpfer, ein Bruch mit der Schöpfungsordnung, ein Verbrechen, ein Mord. Die christliche Kirche verweigert deshalb dem Selbstmörder ein kirchliches Begräbnis. Der Selbstmord ist diffamiert, seitdem es die christliche Kirche gibt. In der römischen und griechischen Welt, im sogenannten Heidentum, galt er als legitim und ehrenhaft, wie noch heute in nichtchristlichen Ländern. Das Alte Testament kennt zwar auch die heidnische Unbefangenheit gegenüber dem Selbstmord (Saul stürzt sich nach unglücklichem Kampf mit den Philistern ins Schwert, Absaloms Ratgeber hängt sich auf, und das Neue Testament berichtet von dem einzigartigen Selbst­mord des Judas Ischarioth), aber Saul, Absaloms Ratgeber und Judas Ischarioth sind keine Christen.

Die Behauptung, daß nur der christliche Glaube ein stichhaltiges Argument gegen das Recht zum Selbstmord gibt, läßt sich am besten an Augustin ausweisen. Er geht in einer Erörterung des Gottesstaats (XI, 26 ff.) davon aus, daß der Mensch ein Ebenbild Gottes sei, daß er nur als Gottes Geschöpf überhaupt ist, um sein Dasein weiß und es natürlicherweise liebt. Kein Mensch will nicht sein und nicht glücklich sein. Das pure Dasein ist mit einer Art natürlicher Wucht so sehr etwas Wünschenswertes, daß selbst die Unglücklichen nicht zugrunde gehen wollen. Sie wünschen zwar ihr Unglück hinweg, nicht aber sich selbst. Die von Gott geschaffene Natur des Menschen schrecke so sehr vor dem Nichtsein zurück, daß selbst diejenigen, die das elendeste Leben führen, ihr unseliges Dasein unbedingt dem Nichtsein vorziehen wür­den, wenn sie vor die Wahl gestellt würden, entweder auf ewig so oder überhaupt nicht zu existieren. Augustin war sich als Römer bewußt, daß es in der römischen Welt zahlreiche Beispiele für das Gegenteil gab, daß eine so bedeutende philosophische Schule wie die Stoa den frei gewählten Tod als Erweis der menschlichen Würde lehrte und praktizierte, und daß unter den Römern jedermann die berühmten Fälle hochgeachteter Selbstmorde kannte, z. B. den des Cato und der Lukretia. Er bemüht sich deshalb, diese berühmten Selbstmorde zu diskreditieren, vor allem den Selbstmord der Lukretia, die aus einem vornehmen Geschlecht stammte und verheiratet war. Sie nahm sich das Leben, weil ein anderer Mann sie vergewaltigt hatte. Andererseits gab es Christinnen, die in römischen Gefängnissen vergewaltigt wor­den waren und die sich nicht das Leben nahmen. Augustin verteidigt das Verhalten seiner Glaubensgenossen gegen die Verachtung der heidnischen Römer und versucht zu beweisen, daß der Selbstmord der Lukretia keineswegs rühmlich war, wohl aber das Weiterleben der geschändeten Christinnen. Sein Argument (a.a.O. XI, 26 f.; I, 16 ff.) ist kurz gesagt dies: es gibt in der Heiligen Schrift keinen einzigen Hinweis, der es einem Christen erlauben würde, sich selber zu töten[3]. Das Verbot »Du sollst nicht töten« beziehe sich nicht nur auf den Nächsten, sondern auf jeden Menschen, also auch auf sich selbst. Es betreffe jedoch nicht außermenschliche Lebewesen, denn diese seien vernunftlose Geschöpfe und dem Menschen von Gott unterstellt. Die römische Ansicht, daß freiwilliger Tod ein Zeichen von Seelengröße ist, sei falsch; vielmehr beweise der Selbstmord nur die schwächliche Unfähigkeit, ein hartes Geschick oder von anderen begangene Sünden nach dem Vorbild von Christus geduldig zu ertragen, der das Kreuz des schuldlosen Leidens auf sich nahm. Wenn viele Selbstmord bege­hen, um nicht den Feinden in die Hände zu fallen, so handeln sie unchristlich; denn Christus habe nicht gelehrt, daß man Hand an sich legen solle, um einem irdischen Übel zu entgehen. Und wenn Cato nach Caesars Sieg Selbstmord beging, so war das kleinlich gehandelt und keine Heldentat: er wollte Caesar nicht den Ruhm der Begnadi­gung gönnen! Und wenn sich die vergewaltigte Lukretia das Leben nahm, so habe »diese vielgepriesene, schuldlose Frau« zu dem Übel, das ihr von einem anderen angetan worden war, noch das größere hinzugefügt, sich selbst »aus schwächlicher Scham« umzubringen, um übler Nachrede aus dem Wege zu gehen. Wenn sie wirklich unschuldig war, argumentiert Augustin, und bei ihrer Vergewaltigung keine Lust empfand, warum hat sie sich dann getötet? Leugnet man den Ehe­bruch, so belaste man um so mehr ihren Mord, ihren Selbstmord; entschuldigt man ihn aber, so bestätige man damit den Ehebruch! Augustins unerbittliche Argumentation zur Verurteilung des Selbst­mords beruht auf zwei Voraussetzungen: erstens darauf, daß der Mensch gegenüber Gott überhaupt kein Recht hat, über sein Leben zu verfügen, und zweitens darauf, daß Seele und Körper etwas so völlig Verschiedenes sind, daß alle körperlichen Leiden und Erniedrigungen der unsterblichen Seele des Christen nichts anhaben können.

Diese christliche Auffassung vom Selbstmord hat sich in abge­schwächter Form bis in die Zeit der Aufklärung fast unverändert erhalten. Ich greife nur ein Beispiel aus der Geschichte der Philosophie heraus; es steht in einer Vorlesung Kants über Ethik[4]. Gott und die Unsterblichkeit der Seele sind zwar für Kant nicht mehr Glaubensgewißheiten, sondern moralische Postulate der praktischen Vernunft, aber die Folgerungen bezüglich der Idee vom Menschen und der Frage des Selbstmords sind noch dieselben. Der Mensch ist nach Kant seinem Wesen nach nicht von Natur aus bestimmt, sondern er hat die Freiheit zur Selbstbestimmung; er ist als »Person« sein eigener Zweck, »Selbstzweck«, d. h. er darf sich selbst und andere Menschen nie als bloßes Mittel zum Zweck benützen. Alles andere außer dem Men­schen ist dagegen für ihn ein erlaubtes Mittel zum Zweck, bloße »Sache«. Auch die vernunftlosen Tiere sind bloß lebendige Sachen, weil sie ihren Lebenszweck nicht selber in Freiheit wählen können. Der Mensch kann und darf deshalb über sie als Mittel für seine Zwecke nach seinem Willen verfügen. Im Verhältnis des Menschen zum Menschen, also auch im Verhältnis des Menschen zu sich selbst, ist aber der bloße Mittel-zum-Zweck-Gebrauch ein Mißbrauch, unmoralisch, widermenschlich. Kant illustriert es an einigen drasti­schen Beispielen. Wenn sich einer seine gesunden Zähne ausreißen läßt, um sie zum Zweck des Gelderwerbs als Mittel zum Zweck wie eine Sache zu veräußern, so handelt er widermenschlich; denn die Zähne sind seine Zähne, sie gehören zu ihm als ganzer Person und er darf deshalb mit ihnen nicht wie mit einer Sache als Mittel zu einem anderweitigen Zweck umgehen. Dasselbe liege vor, wenn einer einen anderen als bloßes Mittel zum Zweck des sexuellen Genusses gebraucht und im Extrem, wenn sich ein Mensch selbst entleibt und damit über sich wie über eine Sache, eine res corporalis, disponiert.

Die Anstrengung, welche Kant macht, um den Selbstmord als eine unmoralische, d. i. wider den Sinn des Menschseins gehende Handlung zu erweisen, steht und fällt mit dem im Hintergrund stehenden Glauben, daß uns das Leben von Gott geschenkt ist. Nur auf dem Boden dieses christlichen Glaubens kann Kant das Unmenschliche des Selbstmords scheinbar rein ontologisch, aus der Seinsart des Men­schen und ohne direkten Bezug auf theologische Glaubenssätze begründen. In der Ethik-Vorlesung [S. 189 und 193] spricht sich jedoch die religiöse Voraussetzung der moralischen Begründung deut­lich aus. Die »Menschheit«, d. h. das Sein des Menschen, sei etwas »Heiliges«, das uns »anvertraut« ist, weshalb der Selbstmord den »Absichten des Schöpfers« widerspreche. Schon im nächsten Satz spricht Kant jedoch statt vom Schöpfer von der Weisheit der »Natur« und deren natürlichen Erhaltungsabsichten, denen sich der Mensch nicht widersetzen dürfe. So wie ein Leibeigener nach römischem Recht kein Recht hatte, sich durch Selbstmord dem Dienst seines Herrn zu entziehen, so habe auch der freie (christliche) Mensch kein Recht, sich Gott als seinem Eigentümer zu entziehen — ein schwacher Abglanz der christlichen Auffassung vom Bewährungscharakter des irdischen Lebens in der Nachfolge Christi. Auch nach Kant hätte sich Lukretia gegen den Angriff auf ihre weibliche Ehre so lange wehren müssen, bis man sie umgebracht hätte. Zwar gibt Kant zu, daß die Pflicht zur Selbsterhaltung nur so lange gelte, als das Leben wert ist, gelebt zu werden, denn moralisch beurteilt sei es nicht nötig zu leben, wohl aber, so lange man lebt, ehrenwert zu leben. Aber Kant war der merkwürdigen Ansicht, daß dies jederzeit und unter allen Umständen möglich sei, wenn man nur die Pflichten gegen die Menschheit in seiner Person erfülle, ohne Gewalt über sich auszuüben. Es scheine zwar ein moralischer Vorzug des Menschen zu sein, daß er sich kraft seiner Freiheit der Welt auch entziehen könne, so wie ein freier Bürger aus seinem Staate auswandern kann. Aber diese scheinbar äußerste Freiheit sei verkehrt, denn die Freiheit habe eine unwandelbare Bedin­gung, nämlich die, daß ich sie nicht zur Selbstvernichtung gebrauchen darf. Wäre ihr Gebrauch erlaubt, dann würden auch alle Pflichten gegen andere ins Wanken geraten, denn wer die Menschheit nicht in seiner eigenen Person achte, den könne nichts hindern, sie auch in anderen Personen zu verachten und also z. B. einen Mord zu begehen.

Wenn Kant aber die Widermenschlichkeit des Selbstmords ohne Bezug auf einen Schöpfer schon dadurch erweisen will, daß er das Über-sich- selber-verfügen mit den Begriffen von Mittel und Zweck bestimmt, so ist das nicht überzeugend. Denn wenn sich der Mensch totaliter, mit Leib und Seele, vernichtet und sich nicht nur (wie im Beispiel der Veräußerung von Zähnen) als eine res corporea zu einem anderweiti­gen Zweck teilweise schädigt, so gebraucht er sich gerade nicht als bloßes Mittel zu einem anderweitigen Zweck. Man kann nicht sinn­voll fragen: wozu, zu welchem Zweck sich ein Mensch vernichtet[5], denn er vernichtet mit sich alle nur möglichen Zwecke, und so wie der Mensch im Selbstmord über sich verfügen kann, läßt sich über eine Sache gerade nicht verfügen. Der Selbstmord ist nicht eine »Grenzsi­tuation« unter anderen, sondern eine ausgezeichnete Möglichkeit des Menschen als Menschen. Wäre er nur ein Lebewesen, so könnte er sich nicht das Leben nehmen und wäre er nicht auch ein Lebewesen, so könnte er sich nicht sein Leben nehmen. Wer einmal eingesehen hat, daß die Freiheit des Wollens zu diesem Können zum Wesen des Menschen gehört, ganz gleich, wie weit sie in ihrer faktischen Aus­übung durch innere und äußere Umstände und Verhältnisse beschränkt und bedingt ist, wird nicht umhin können, sie auf alles anzuwenden, wovon sich der Mensch befreien kann, also auch auf sein eigenes Leben.

Hegel hat dieser Einsicht einen entschiedenen Ausdruck gegeben[6]. Er sagt in seiner Analyse des Willens als der Grundlage aller Rechts­verhältnisse, der Mensch sei geradezu die Freiheit seines Eigensinns, und diese Freiheit bestehe darin, daß er als geistiger Wille die »abso­lute Möglichkeit« habe, von jeder Bestimmtheit, in der er sich vorfindet, »abstrahieren« zu können. Er gibt dafür zwei entgegengesetzte Beispiele [§ 5, Anm.]: der religiöse Fanatismus der indischen Medita­tion, die von allem Bestimmten abstrahiert und sich in das reine Nichts versenkt, welches Alles ist, und der politische Fanatismus der Franzö­sischen Revolution, der alles Bestehende zertrümmert, um in solcher Zerstörung die absolute Freiheit des Eigenwillens zur Geltung zu bringen. Zwar ist diese Negativität des Willens nur eine Seite des ganzen Wollens, die sich positiv beschränkt, sobald man nicht nur überhaupt will, sondern etwas Bestimmtes will, aber diese abstrakte und abstrahierende Willkür des Wollens ist und bleibt doch ein wesentliches Moment allen Wollens. In einem erläuternden Zusatz zum § 5 der Rechtsphilosophie sagt Hegel: »In diesem Elemente des Willens liegt, daß ich mich von Allem losmachen, alle Zwecke aufge­ben, von Allem abstrahieren kann. Der Mensch allein kann Alles fallenlassen, auch sein Leben: er kann einen Selbstmord begehen: das Tier kann dieses nicht; es bleibt immer in einer ihm fremden Bestim­mung, an die es sich nur gewöhnt.« Und im § 47 Anm. heißt es, daß der Mensch als Person auch seinen Körper und sein leibliches Leben »wie andere Sachen« nur habe, »insofern es sein Wille ist«, sofern er sie haben will. »Ich habe diese Glieder, das Leben nur, insofern ich will; das Tier kann sich nicht selbst verstümmeln oder umbringen, aber der Mensch.« Die Tiere haben »kein Recht auf ihr Leben, weil sie es nicht wollen« können. Die Freiheit des Willens, die aufs Ganze gesehen darin besteht, daß ich überhaupt nur bin, sofern ich sein will, erstreckt sich auf den ganzen Menschen; sie verteilt sich nicht auf Körper und Seele. Es ist ein sophistischer Verstand, sagt Hegel, der die Unterscheidung macht, daß die Seele nicht berührt werde, wenn der Körper mißhandelt wird und die Existenz der Person der Gewalt eines andern unterworfen wird. Zwar könne sich der Mensch, wie es die Stoiker lehrten und taten, aus seiner konkreten Existenz auf sein Inneres zurückziehen und damit die körperliche Existenz zu etwas bloß Äußerlichem machen und insofern auch in Fesseln und als Sklave frei sein. Aber auch dies ist mein Wille, und für den anderen bin ich in meinem Körper, und eine meinem Körper angetane Gewalt ist eine mir angetane Gewalt. Es gibt aber keine fremde Gewalt, von der man sich nicht befreien kann, wenn man es will; letzten Endes durch Selbstver­nichtung.

Man könnte nun erwarten, daß Hegel aus der Einsicht, daß der Mensch und nur er ein »Recht« auf sein Leben hat, weil er es wollen kann, folgern würde, daß er folglich auch ein Recht darauf habe, es unter Umständen nicht mehr zu wollen. Merkwürdigerweise zieht Hegel aber gerade diese Konsequenz nicht. Er behauptet nur, daß der Mensch seinem Wesen nach diese Möglichkeit hat, daß er es kann[7]. Er bestreitet jedoch, daß die einzelne, bestimmte Person in ihrer unmittel­baren Existenz ein Recht habe, sich zu vernichten. Im Gegenteil: sie müsse den Tod von »fremder Hand« empfangen, sei es unmittelbar von der Natur im natürlichen Sterben oder im Dienste einer höheren Macht und Idee. Ein Recht zur Aufopferung der Individuen komme nur einer mehr als persönlichen, allgemeinen Macht zu, die über den einzelnen herrscht, und als eine solche übergeordnete Macht und Idee von höchster Berechtigung sah Hegel die allgemeine Sittlichkeit des Staatslebens an und den allgemeinen Geist der Geschichte der Welt. Im Zusatz zum § 70 sagt Hegel: »Wenn der Staat daher das Leben fordert, so muß das Individuum es geben, aber darf der Mensch sich selbst das Leben nehmen?« Auf diese für alles Nachdenken über die Situation des Menschen entscheidende Frage antwortet Hegel: »Man kann das sich Töten zuvörderst als eine Tapferkeit ansehen, aber als eine schlechte von Schneidern und Mägden. Dann kann es wiederum als ein Unglück betrachtet werden, indem Zerrissenheit des Innern dazu führt, aber die Hauptfrage ist, habe ich ein Recht dazu? Die Antwort wird sein, daß ich als dies Individuum nicht Herr über mein Leben bin, denn die umfassende Totalität der Tätigkeit, das Leben, ist gegen die Persönlichkeit, die selbst diese (sc.: Totalität der Lebensäu­ßerung) unmittelbar ist, kein Äußerliches (d. h. nichts, worüber man, wie über etwas Anderes, zu verfügen ein Recht haben könnte). Spricht man also von einem Recht, das die Person über ihr Leben habe, so ist dies ein Widerspruch, denn es hieße, die Person habe ein Recht über sich. Dieses hat sie aber nicht, denn sie steht nicht über sich und kann sich nicht richten. Wenn Herkules sich verbrannte, wenn Brutus sich in sein Schwert stürzte, so ist dieses das Benehmen des Heroen gegen seine (sc. partikulare) Persönlichkeit; aber wenn vom einfachen Recht, sich zu töten, gehandelt wird, so darf dies auch den Heroen abgespro­chen werden.« Der Unterschied von Hegels Ansicht zur christlichen Verurteilung des Selbstmordes ist freilich der, daß bei ihm keine Rede mehr von einem persönlichen Gott ist, der den Menschen geschaffen hat und dem gegenüber es nicht nur Unrecht, sondern Sünde, sogar Todsünde wäre, sich selbst das von ihm geschenkte Leben zu nehmen, sondern die höhere Instanz ist für Hegel eine anonyme Macht, ein allgemeiner Geist, der »Geist der Welt«, die Weltgeschichte als das Weltgericht, der gegenüber die Schicksale der einzelnen Individuen von untergeordneter Bedeutung sind [§ 340]. Wie immer es sich aber mit dieser höheren Instanz verhalten mag, auf Grund derer Hegel dem Menschen das Recht zum Selbstmord abspricht, eines ist gewiß: der Mensch kann sich auch von der Totalität seiner Tätigkeit, seinem leibhaftigen Leben befreien, und wie sollte er sich selbst vernichten können, wenn er nicht »über sich« stehen könnte, sondern in seinem Dasein total befangen wäre?

Wenn Hegel nicht in einer christlichen Tradition gestanden hätte, dann würde er vermutlich weniger selbstgewiß dem Menschen das Recht, sich zu töten, abgesprochen haben und den Mut, der dazu gehört – sei es auch nur der Mut der Desperation – nicht als einen von »Schneidern und Mägden« bezeichnet haben. Die Anerkennung höhe­rer Mächte allein genügt nicht, ihm dieses Recht zu nehmen. Die Griechen und Römer haben einen sehr ausgeprägten Sinn für das Walten höherer Mächte gehabt; das hat sie aber nicht gehindert, mit einer großartigen Unbefangenheit dem menschlichen Leben gegen­überzutreten und es daraufhin abzuschätzen, ob und unter welchen Umständen es lebenswert ist. Es gibt aber m. W. keinen christlichen und nachchristlichen Denker, der die entscheidende Frage, ob es besser sei, geboren zu sein als nicht zu sein, so freimütig, umsichtig und nüchtern erörtert hätte wie Platon im Gorgias (511 c) und Aristoteles in der Endemischen Ethik (1215 b). Die griechischen Phi­losophen waren weit davon entfernt, dem sterblichen Menschen eine absolute Bedeutung im Ganzen des Seienden zuzusprechen wie das Christentum auf Grund seiner Lehre vom Menschen als Gottes Eben­bild. Ihre nüchterne Einschätzung des menschlichen Treibens hat sie jedoch nicht gehindert, die Größe und Schönheit der Welt in sich aufzunehmen und ihr gegenüber das Menschliche in all seinen Erschei­nungen unverzerrt zur Sprache zu bringen: in Tragödie und Komödie, in Philosophie und Historie, in der bildenden Kunst und in jedem Handwerk. Kein griechisches oder römisches Recht hat den Freitod verurteilt. Dagegen behauptet das Kanonische Recht, daß Judas, als er sich erhängte, eine größere Sünde beging, als durch den Umstand, daß er Jesus Christus verriet.

Jacob Burckhardt hat in seiner Griechischen Kulturgeschichte von der »Gesamtbilanz« des griechischen Lebens gehandelt und kam zu folgendem Ergebnis: Es ist bei den Griechen eine »volkstümli­che Tatsache«, die ohne Umschweife und Verbrämungen ausgespro­chen wurde, daß das Leben nicht unbedingt unter allen Umständen zu schätzen sei. Nie ist es ihnen eingefallen, den Göttern dafür zu danken, als wäre es das kostbarste Geschenk [S. 344, 360]. Und weil man das Leben nicht den Göttern verdankte, war der Selbstmord auch kein Frevel gegen sie, sondern ein Recht des Menschen und eine anerkannte Sache. »Er gehört zu den freimütigsten Äußerungen des ganzen anti­ken Daseins.« Insbesondere stehe der Historiker Herodot als der große Hauptzeuge über den Unwert des Lebens zum Verhör [S. 364]. Welcher Geschichtsschreiber unserer Zeit, sagt Burckhardt, würde den Trieb empfinden, sich über diese Sache auszusprechen, selbst wenn sich Anlässe dazu bieten, »die wahre Sachlage unseres Erdentrei­bens« zu verdeutlichen. Nicht anders als Sophokles sah auch Burck­hardt im Dasein ein Übel und im Menschen einen Dulder [S. 368]. Es erregte deshalb seinen Widerwillen, daß Augustin die vornehmen Römerinnen verdammte, die sich zur Zeit der gotischen Invasion freiwillig das Leben nahmen. Auch unheilbare Krankheiten galten im Altertum als ernster Grund für einen freiwilligen Tod. Unheilbar Kranke, sagt Platon [S. 383 f.], sollten überhaupt nicht leben und jedenfalls keine Kinder zeugen, und der Gott der Heilkunst habe diese nicht gelehrt, um heillos Kranke, die weder sich noch anderen zu etwas nütze sind, bei einem möglichst langen und jämmerlichen Leben zu erhalten. Für völlig berechtigt galt auch das Verlassen der Welt wegen Altersgebrechen. Desgleichen war die Aussetzung und Tötung von miß­geborenen Kindern erlaubt. Man schätzte überhaupt Wohlgeborenheit als Vorbedingung alles übrigen Glücks und einen mäßigen Wohlstand und Gesundheit als die natürlichen Bedingungen eines lebenswerten Lebens. Unbedingt und unter allen Umständen am Leben hängen, das schien den Griechen eine sklavische Gesinnung, nicht würdig eines frei geborenen Menschen.

Eine rühmliche Ausnahme von dem christlichen Vorurteil, daß Selbstmord ein Mord sei, ist die posthum veröffentlichte Schrift von D. Hume: Essays on Suicide and the Immortality of the Soul. Die Ausgabe von 1784 enthielt zusätzliche Bemerkungen des unbekannten Herausgebers »intended as an antidote to the poison contained in these performances«. Ursprünglich sollten diese Essays zusammen mit anderen erscheinen, doch entschloß sich Hume im letzten Augenblick mit Rücksicht auf die in England herrschenden Vorurteile zur Unter­drückung: die beiden Aufsätze wurden aus den fertigen Exemplaren wieder herausgeschnitten und vernichtet. Auch die uns so harmlos scheinenden Dialoge über natürliche Religion von 1751 konnten erst nach Humes Tod 1779 veröffentlicht werden, gegen den Widerstand seines Freundes und Testamentsvollstreckers Adam Smith, der in seiner Vorrede zu Humes Werken auf das Schön­ste bezeugt, daß es auch noch im 18. Jahrhundert echte Stoiker von antiker Gesinnung gab[8].

Die Absicht von Humes Schrift über den Selbstmord ist, durch Prüfung aller herkömmlichen Argumente gegen den Selbst­mord, »den Menschen wieder in seine angeborene Freiheit einzuset­zen« – »wieder«, d. i. nachdem der »Aberglaube« (der christlichen Orthodoxie) den Menschen »dieses letzten Heilmittels« beraubt hat, wogegen es die allgemeine Überzeugung »aller alten Philosophen« (d. i. vor dem Christentum) war, daß diese Handlung frei von Schuld und Tadel ist [S. 406 f.]. Denn weshalb sollte der Mensch nicht mit vollem Recht von der Macht Gebrauch machen, welche ihm die Natur verliehen hat? »Eine Fliege ist im Stande, das mächtige Wesen, dessen Leben von solcher Bedeutung ist, zu zerstören. Ist die Annahme absurd, daß menschliche Einsicht verfügen darf über das, was von so nichtigen Ursachen abhängig ist? Den Nil oder die Donau aus ihrem Lauf abzulenken, wäre kein Verbrechen, wenn ich es vermöchte. Wo ist denn das Verbrechen, einige wenige Unzen Blut aus ihrem natürli­chen Kanal abzulenken? Meint Ihr, daß ich meine Erschaffung ver­wünsche, weil ich aus dem Leben gehe und einem Dasein ein Ende mache, das mich elend machte, wenn ich es fortsetzte? Fern seien solche Gedanken von mir! Ich bin bloß von einer Tatsache überzeugt, welche ihr selbst für eine mögliche anseht, daß nämlich das menschli­che Leben unglücklich sein kann, und daß mein Dasein, wenn weiter ausgedehnt, unwünschenswert sein würde, aber ich danke der Vorse­hung sowohl für das Gute, das ich genossen, als für die Macht, womit sie mich ausgestattet, den drohenden Übeln mich zu entziehen. Agamus Deo gratias, quod nemo in vita teneri potest (Danken wir Gott, daß niemand im Leben festgehalten werden kann). Seneca, Epist. XII [Briefende]« [S. 410]. Das letzte Motiv aber für Humes Rechtfertigung des Selbstmords ist nicht schon das Recht zur Ausübung unserer Freiheit, sondern, daß der Mensch im Ganzen der Welt keine univer­sale Bedeutung hat. Hume teilt nicht mehr das biblische, anthropo-theologische Vorurteil, wonach Gott die Welt um des Menschen willen geschaffen hat und dieser durch sein Verhältnis zu Gott unter allen Kreaturen einen absoluten Vorrang hat. »Ist es deshalb, weil menschliches Leben so große Bedeutung hat, daß es für menschliche Einsicht zu anmaßend ist, darüber zu verfügen? Aber das Leben eines Menschen hat für das Weltall nicht größere Bedeutung als das einer Auster; und wäre es von wie großer Bedeutung immer, so hat die Ordnung der menschlichen Natur es tatsächlich doch menschlicher Einsicht unterworfen und nötigt uns in jedem Augenblick bezüglich desselben Beschlüsse zu fassen. Wäre die Verfügung über das mensch­liche Leben dem Allmächtigen als besonderer Wirkungskreis Vorbe­halten, so daß es ein Eingriff in sein Recht wäre, wenn Menschen selbst über ihr Leben verfügten, so würde es in gleicher Weise verbre­cherisch sein, für die Erhaltung des Lebens tätig zu sein als für die Zerstörung« [S. 410].

»Daß Selbstmord oft mit dem Interesse und mit der Pflicht gegen uns selbst verträglich ist, kann niemand bezweifeln, der zugibt, daß Alter, Krankheit oder Unglück das Leben zu einer Last und selbst schlimmer als seine Vernichtung machen können. Ich glaube, daß noch nie­mand ein Leben wegwarf, das zu erhalten der Mühe wert war. Denn unsere natürliche Furcht vor dem Tode ist so groß, daß kleine Beweggründe nie im Stande sein werden uns mit ihm auszusöhnen; und wenn vielleicht jemandes Gesundheits- oder Glücksumstände dieses Mittel nicht zu erfordern scheinen, so dürfen wir wenigstens dessen sicher sein, daß derjenige, der ohne augenscheinlichen Grund es anwendet, an so unheilbarer Verderbtheit oder Düsterheit des Tempe­raments litt, daß dieselbe alle Lust vergiftete und ihn ebenso elend machte, als wenn er mit dem schwersten Mißgeschick beladen gewesen wäre. Wenn Selbstmord ein Verbrechen ist, so ist es Feigheit allein, die uns dazu antreiben kann. Wenn er kein Verbrechen ist, so sollten sowohl Einsicht als Tapferkeit uns anhalten uns auf einmal von dem Dasein zu befreien, wenn es eine Last wird« [S. 414].

Damit endet Humes Essay. In einem Zusatz wird noch mit Rück­sicht auf die herrschenden Vorurteile gesagt, daß es sich leicht bewei­sen lasse, daß Selbstmord auch für Christen ebenso rechtmäßig sei wie für Heiden, denn es gebe kein einziges Schriftwort, das ihn verbiete. »Du sollst nicht töten hat offenbar den Sinn, das Töten Anderer, über deren Leben uns kein Recht zusteht, auszuschließen…. Aber ginge dies Verbot auch ganz ausdrücklich auf Selbstmord, so würde es jetzt doch keine Geltung haben, denn das Gesetz Moses’ ist abgeschafft, soweit es nicht durch das Gesetz der Natur aufrechterhalten wird. Und wir haben schon zu beweisen versucht, daß Selbstmord nicht gegen dies Gesetz ist. In allen Fällen sind Christen und Heiden genau auf demselben Fuß; Cato und Brutus, Arria und Portia handelten helden­mütig; diejenigen, welche ihr Beispiel heute nachahmen, verdienen bei der Nachwelt dasselbe Lob. Die Macht, einen Selbstmord zu begehen, wird von Plinius [Naturalis Historia] als ein Vorzug angesehen, wel­chen der Mensch vor der Gottheit selbst hat. ›Deus non sibi potest mortem consciscere si velit, quod homini dedit Optimum in tantis vitae poenis‹ (›Gott kann sich, auch wenn er wollte, nicht den Tod geben, was er dem Menschen als bestes Geschenk in so großem Leid des Lebens verlieh‹). Lib. II, c. 5« [§ 27].

Die prinzipielle Frage, auf die uns die wirkliche Möglichkeit des Selbstmords stößt, ist in Humes Satz beschlossen, daß der Mensch, und nur er, die »angeborene« Freiheit hat, sich selbst das Leben zu nehmen, d. h. er hat von Natur aus die Macht, sich gegen alle Natur und seine eigene zu stellen. Wenn aber alles was ist, mit Spinoza gesagt, den einen Grundtrieb hat, sich in seinem Sein zu erhalten, dann erhebt sich die Frage: wieso kann unter allen Lebewesen nur der Mensch sich selbst vernichten, obgleich auch er ein Naturwesen ist und niemand sich selbst zur Welt hervorgebracht hat? Wenn der philosophisch erweisbare Gott als ens causa sui die natura naturans ist und diese die Eine potentia aller von Natur aus seienden Dinge, dann müßte auch für den Menschen Spinozas Grundsatz gelten, daß kein Ding seiner eigenen Natur nach auf Nichtsein aus sein könne, sondern notwendig danach strebe, sich in seinem Zustand zu bewahren und zu bestärken[9]. Als eine Natur müßte der Mensch, wie alle Natur, eine einfache Affirmation sein, mit Nietzsche gesagt: ein »Ja des Seins«, und wie die Welt der Natur sich selbst bejahend, sich selber wollend. Wenn aber nicht zu leugnen ist, daß der Mensch die Freiheit zum Tode hat, dann bleibt die menschliche Natur mit der ihr angeborenen Freiheit so rätselhaft wie die biblische Lehre, daß Gott, sich gegen­über, im Menschen ein Ebenbild ge­schaffen hat, das trotz seiner Kreatürlichkeit die Freiheit hat, sich gegen seinen Schöpfer zu wenden. Die Antwort, welche Spinoza auf die Frage gibt, wieso es überhaupt zum Selbstmord kommen kann, obwohl der Mensch als ein Teil der Natur seinem innersten Wesen nach danach strebt, sich in seinem Sein zu erhalten und dies auch die einzige Grundlage aller »Tugend« ist, beruht auf dem äußeren Umstand, »daß wir es niemals dahin bringen können, zur Erhaltung unseres Seins nichts außerhalb unserer zu bedürfen«. Die Selbstmörder sind »ohnmächtigen Gemüts«, indem sie den äußeren Ursachen, die sich ihrer Natur entgegensetzen, völlig erliegen. »Niemand also, der nicht äußeren und seiner Natur entge­gengesetzten Ursachen erlegen ist, unterläßt es, seinen Nutzen zu suchen oder sein Sein zu erhalten. Niemand, sage ich, verabscheut die Nahrung oder nimmt sich das Leben infolge der Notwendigkeit seiner Natur, sondern allein, wenn äußere Ursachen ihn dazu zwingen. Es kann so auf vielerlei Weisen zum Selbstmord kommen: der eine tötet sich selbst, weil ihn ein anderer dazu zwingt; […] der andere, weil er, wie Seneca, durch den Befehl eines Tyrannen gezwungen wird, sich die Adern zu öffnen, d. h., weil er ein größeres Übel durch ein geringeres zu vermeiden begehrt; ein dritter endlich, weil verborgene äußere Ursachen sein Vorstellungsvermögen derart beeinflussen und den Körper derart affizieren, daß dieser eine andere der früheren entgegen­gesetzte Natur annimmt, von der es in der Seele keine Idee geben kann. Daß aber der Mensch infolge der Notwendigkeit seiner Natur danach streben sollte, nicht zu existieren, ist ebenso unmöglich, als daß aus Nichts Etwas werde, wie jeder bei einigem Nachdenken sehen kann«[10]. Spinozas Alleinheitslehre vom Sein als Deus sive Natura hat kein positives Verhältnis zum Nichts und zur Nichtung. Sie ist daher prinzipiell undialektisch, »geometrisch« deduzierend. Das zeigt auch der 67. Lehrsatz des vierten Teils der Ethik: »Der freie Mensch denkt an nichts weniger als an den Tod; und seine Weisheit ist nicht ein Nachsinnen über den Tod, sondern ein Nachsinnen über das Leben. Beweis: Der freie Mensch, d. h. der Mensch, der allein nach der Leitung der Vernunft lebt, wird […] nicht von der Furcht vor dem Tode geleitet, sondern begehrt […] unmittelbar das Gute, d. h. […] er begehrt zu handeln, zu leben und sein Sein zu erhalten auf der Grundlage des Suchens nach dem eigenen Nutzen. Und somit denkt er an nichts weniger als an den Tod, vielmehr ist seine Weisheit ein Nachsinnen über das Leben.«

Rundfunkvortrag in der Sendereihe „Die Frage der Todesstrafe“ aus dem Heidelberger Studio des Süddeutschen Rundfunks.

Quelle: Die Frage der Todesstrafe. 12 Antworten, hrsg. v. Johannes Schlemmer, München: Piper, 1962, S. 167-185.


[1] Man kann aber auch in den Krieg gehen, um sich töten zu lassen und dem Entschluß zur direkten Selbstvernichtung zu entgehen. »Sobald jetzt irgendein Krieg ausbricht, so bricht damit immer auch gerade in den Edelsten eines Volkes eine freilich geheim gehaltene Lust aus: sie werfen sich mit Entzücken der neuen Gefahr des Todes entgegen, weil sie in der Aufopferung für das Vaterland endlich jene lange gesuchte Erlaubnis zu haben glauben — die Erlaubnis, ihrem Ziele auszuweichen: — der Krieg ist für sie ein Umweg zum Selbstmord, aber ein Umweg mit gutem Gewissen« (Nietzsche, Werke [Groß­oktavausgabe], V, S. 262). Der Ausbruch eines Krieges kann dem schal gewordenen Leben einer ziellos gewordenen Gesellschaft einen neuen Sinn und Inhalt geben. Man weiß wieder, oder meint doch zu wissen, wozu man überhaupt da ist. Es ist kein Zufall, daß zwei große Zeitromane, Der Zauberberg von Th. Mann und Der Mann ohne Eigenschaften von R. Musil, die unlösbaren Probleme ihrer Helden, die keine sind, dadurch auflösen, daß sie sie in den Krieg ziehen lassen.— Clemenceau hat sich im Ersten Weltkrieg gefragt, ob denn die jungen Deutschen, die mit einem merkwürdigen Enthu­siasmus als Freiwillige in den Krieg zogen und vor Ypern und Verdun massen­haft fielen, das Leben nicht ebenso wie die Franzosen liebten. Er kam zu dem Ergebnis, daß die Deutschen einen Hang zum Tode haben, weil sie ihr bürgerliches Leben als unerfüllt empfinden und die Vernichtung beinahe herbei wünschen: »Dem Menschen ist es eigentümlich, das Leben zu lieben. Die Deutschen haben diesen Trieb nicht. In der Seele der Deutschen, in ihrer Kunstauffassung, in ihrer Gedankenwelt und in ihrer Literatur findet sich ein Mangel an Verständnis für das, was wirklich das Leben ausmacht, für seinen Reiz und seine Größe. Dagegen sind sie von krankhafter und satanischer Todessehnsucht erfüllt. Wie lieben diese Menschen den Tod! Zitternd, wie im Taumel, und mit ekstatischem Lächeln schauen sie zu ihm auf wie zu einer Art Gottheit. Woher haben sie das? Ich weiß es nicht. . . Lesen Sie nur ihre Dichter: überall finden Sie den Tod! Den Tod zu Fuß und den Tod zu Pferd .. . den Tod in allen Posen und in allen Gewändern! Das beherrscht sie, das ist ihre fixe Idee …« (Jean Märtet, Der Tiger. Weitere Unterhaltungen Clemenceaus mit seinem Sekretär Jean Märtet. Berlin 1930, S. 54 f. [Le Tigre. Paris: A. Michel, 1930, S. 74]).

[2] »Als Lebendiges kann der Mensch wohl bezwungen, d. h. seine physische und sonst äußerliche Seite unter die Gewalt Anderer gebracht, aber der freie Wille kann an und für sich nicht gezwungen werden, als nur sofern er sich selbst aus der Äußerlichkeit, an der er festgehalten wird, oder aus deren Vorstellung nicht zurückzieht. Es kann nur der zu etwas gezwungen werden, der sich zwingen lassen will.« Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 91.

[3] Vgl. dazu die höchst merkwürdige Verteidigung des Selbstmords durch Duverger de Hauranne, Abt von Saint-Cyran und Gründer von Port-Royal, dessen Traktat über den Selbstmord 1609 erschien und von Voltaire (in: Oeuvres complètes, hrsg. v. L. Moland, 1877-85, Bd. 25, S. 567-569), zitiert wird. Die Hauptstelle daraus lautet übersetzt: „Im Gebot, nicht zu töten, das Gott uns gegeben hat, ist sowohl der Mord an sich selbst wie der am Nächsten einbezogen. Deshalb wurde es ohne irgendeine Modifikation in so allgemeine Worte gefaßt, um darunter jede Art Menschenmord zu begreifen. Nun ereignen sich aber, ungeachtet dieses Verbots und ohne daß dagegen verstoßen wird, Umstände, die dem Menschen das Recht und die Macht geben, seinen Nächsten zu töten. Es können also auch solche eintreten, die ihm die Ermächtigung erteilen, sich selbst zu töten, ohne daß er das Gebot selbst verletzte.« Die öffentliche Autorität, die die Stelle Gottes vertritt, kann über unser Leben verfügen. Die Vernunft des Menschen kann gleichfalls die Ver­nunft Gottes vertreten.

[4] Hrsg. v. Paul Menzer. Berlin 1924, S. 185 ff. Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1. Aufl. 1785, S. 69 f., 83 ff. Die Metaphysik der Sitten, A 71-75 [= Tugendlehre, § 6].

[5] Eine beachtenswerte Ausnahme ist es, wenn sich ein Mensch vorsätzlich tötet, um einem anderen das Leben zu retten. In Japan kann es noch heute geschehen, daß sich eine Frau das Leben nimmt, um einem erblindeten Gelieb­ten nach ihrem Tode durch Transplantation der Hornhaut das Augenlicht wiederzugeben. Sie behandelt sich dann, mit Kant gesagt, wie eine »Sache« als Mittel zum Zweck, und zwar total. Wer möchte aber so leichthin behaupten, sie habe unmoralisch gehandelt? Wo liegt überhaupt die Grenze zwischen Selbstvollbringung und Selbstvernichtung, wenn ein Mensch für einen anderen sein Leben hingibt? Und was kann es, gerade vom moralischen Standpunkt aus, Höheres geben? Siehe K. Löwith, Bemerkungen zum Unterschied von Orient und Okzident, Abschnitt II, in: Vorträge und Abhandlungen. Zur Kritik der christlichen Überlieferung. Stuttgart 1966, S. 9 f.

[6] Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 5, 47, 70; vgl. Jenenser Realphilosophie I, 1933, S. 218.

[7] Auch Heidegger umgeht eine positive Stellungnahme zum Selbstmord, indem er die „Freiheit zum Tode“ nur als existenzial-ontologische Möglichkeit erörtert und von ihrer „ontischen“ absieht. Er betont zwar in Sein und Zeit, S. 261 ff.; vgl. 228 f. und 284, den »Lastcharakter« der ins Dasein geworfenen Existenz, und in dem Entwurf eines »eigentlichen Ganzseinkönnens« unter­streicht er doppelt die »Freiheit zum Tode«. Aber das darauf folgende Kapitel von der »existenziellen Bezeugung« der existenzial-ontologischen Möglichkeit vermag in keiner Weise klarzumachen, weshalb das in sein Da geworfene Dasein nicht nur de facto ist, sondern auch »zu sein hat«. Wer wie Heidegger davon ausgeht, daß sich kein menschliches Dasein selbst ins Dasein gebracht hat, sondern in es geworfen ist und darum den nicht selbst gelegten Grund seines Daseins zu übernehmen hat, der kann das Muß oder die Notwendigkeit dieses Unternehmens nicht mehr nachträglich begründen – es sei denn, er mache eine Kehre um 180 Grad, so daß das faktisch lastende »Da« die Lichtung und Gabe der Huld eines Seins wird, aus dem gegebenenfalls auch wieder ein Gott oder Götter hervorgehen sollen. Vgl. Karl Barth, Die Kirchli­che Dogmatik, Zollikon-Zürich: Evang. Verl., Bd. III/4, 1951, S. 464 f.

[8] Die erste deutsche Ausgabe der Dialoge über natürliche Religion erschien 1781, mit der Entschuldigung, daß eine Übersetzung dieser „trostlosen“ Schrift ja doch nicht zu verhindern sei. Auch Hamann hatte sie übersetzt, aber trotz der Empfehlung von Herder und Kant keinen Verleger dafür gefunden.

[9] Spinoza, Ethik, IV, 4 und 18 Anm.; Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Glück, I, 1 u. 5; II, 26.

[10] Spinoza, Ethik, IV, Lehrsatz 18 Anm. und Lehrsatz 20.

Hier der Text als pdf.

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