Von Karl Barth
Es ist mit der Freiheit wie mit dem Glauben oder wie mit der Liebe, wie mit dem Frieden oder mit der Freude: Es gibt Freiheit nur, wo sie und indem sie gelebt wird. Da kommt sie mit der Unwiderstehlichkeit der Morgenröte, aber auch nur da. Man kann wohl von ihr reden, aber genau genommen doch nur, indem sie in der unmißverständlichen Sprache freier Gedanken, Worte und Taten freier Menschen für sich selbst spricht. Man kann sie wohl verkündigen und preisen, man kann wohl beteuern, sie müsse erworben, erhalten und verteidigt werden. Man kann das wohl in guten Treuen zu tun versuchen. Aber was hülfe das alles, wenn sie nicht in dem, was freie Menschen denken, sagen und tun, auf dem Plan ist, um sich selbst zu verkündigen und zu preisen, zu behaupten und durchzusetzen, zu erhalten und zu verteidigen? Freiheit ereignet sich im Dasein solcher Menschen. Sind solche Menschen nicht da, dann ist auch die Freiheit nicht da — oder eben nur als ein «Ideal», das heißt als ein großes, aber leeres Wort, das jeder brauchen und mißbrauchen mag, das aber für niemanden Kraft hat, niemand erleuchtet, niemandem hilft. Das gilt von der politischen Freiheit, von der Freiheit der Wissenschaft und der Presse, von der Freiheit des Glaubens und des Gewissens: von allen Freiheiten, an die einer glauben, die einer proklamieren, auf die einer sich berufen mag. Wo sie nicht von frei lebenden Menschen gebraucht, betätigt und ins Werk gesetzt wird, wo sie nicht in ihrer Person Ereignis ist, da ist sie Schall und Rauch. Sollte, was man heute «die freie Welt» nennt, eine Realität sein, so müßte sie mindestens in ihrer ausschlaggebenden Mehrheit und dann auch in ihren Spitzen eine Welt solcher frei lebender Menschen sein.
Freiheit ist die von freien Menschen ausgeübte Macht — die von ihnen bewiesene Kunst, könnte man auch sagen, weil «Kunst» ja von «Können» kommt, bewiesenes Können aber eben ausgeübte Macht ist. Freie Menschen denken, reden und handeln als Könner, als Vermögende, als Mächtige. Darin unterscheiden sie sich von den noch Unfreien. Die noch Unfreien haben und beweisen freilich auch ihre Kunst, ihr Können, ihr Vermögen, ihre Macht. Und diese fällt sogar sehr viel mehr in die Augen; sie erscheint auch sehr viel praktischer und erfolgreicher als die der Freien. Sie streitet auch beständig und auf der ganzen Linie gegen die Macht der Freien. Sie kann ihnen aber doch nur als Verlockung, als Versuchung gefährlich werden — nicht etwa darum, weil sie stärker wäre. Die Macht der noch Unfreien ist nur scheinbare Macht, ihr Vermögen erschlichen und vom Bankerott bedroht, ihre Kunst eine faule Kunst. Wenn die Sonne sticht, wenn der Wind weht, wenn die Flut kommt — und vor allem: wenn sie auf die Macht der Freien stößt, ist sie dahin. «Ein Wörtlein kann sie fällen.» Wirkliche Macht hat und ist nur die Freiheit der freien Menschen.
Freiheit wird oft als Unabhängigkeit von diesem und jenem äußeren Zwang verstanden und beschrieben: als Unabhängigkeit von bevormundenden, dirigierenden, autoritär oder gar diktatorisch wirksamen und sich gebärdenden Gewalten, vom Regime alter Überlieferungen und Gewohnheiten, von der Magie dominierender Personen, vom Druck der Verhältnisse. Aber hier stimmt etwas nicht ganz. Es ist wohl wahr, daß ein freier Mensch, soweit das Sinn hat und möglich ist, auch nach solcher Unabhängigkeit von allem Zwang sich sehnen und streben wird. Der freie Mensch ist aber — er ist nun einmal kein «Halbstarker» — nicht gezwungen, von jedem äußeren Zwang unabhängig sein zu wollen. Er kann sich auch allerlei unerwünschte Disziplin gefallen lassen. Er kann auch in der Schule, auch auf dem Krankenlager, auch im Gefängnis, auch in der Kaserne, er kann auch im Bereich wunderlicher Herren und Gesetze ein freier, ein innerlich und dann gewiß ein Stück weit auch äußerlich unabhängiger Mensch sein. Wie denn umgekehrt der noch Unfreie auch in vollem Genuß aller denkbaren äußeren Unabhängigkeiten ein Unfreier sein und bleiben und vielleicht gerade mit der Aufregung, in der er sie sich erstreiten und erhalten will, nur eben verraten wird, daß er noch unfrei ist.
Man kommt der Sache näher, wenn man die Freiheit als des Menschen Überlegenheit gegenüber dem, was ihn von innen her zwingt oder zwingen will, beschreibt. Die Gedanken, Worte und Taten des freien Menschen lassen ihn als einen erkennen, der seinen Respekt vor der Wichtigkeit seiner eigenen Person, seine Angst vor seinen Minderwertigkeiten, seine Zähigkeit in der Hochachtung einmal ergriffener Prinzipien und in der Verfolgung einmal gewählter Ziele, seine Sorge um seine Zukunft, um seinen Eindruck und Erfolg nach außen, um seinen guten Ruf — wie stark das alles auch in ihm rumoren mag — jedenfalls in Kontrolle hat. Einem freien Menschen merkt man es im Unterschied zu einem noch unfreien an, daß er dauernd in einem kritischen Gespräch mit sich selbst begriffen ist, daß man ihn darum nicht selten gerade über sich selbst fröhlich lachen hört. Die vorzugsweise oder gar ausschließlich auf andere einreden und, wenn überhaupt, dann nur auf Kosten anderer lachen, sind bei aller ihnen vielleicht sonst nicht fehlenden Vortrefflichkeit noch keine freien und darum auch zu keinem befreienden Tun brauchbaren Menschen. Was würde es für die Sache der Freiheit bedeuten, wenn es mehr zuerst und vor allem sich selbst gegenüber überlegene Menschen geben würde!
Wir müssen aber noch weiter gehen: Freiheit als Lockerung von allerlei äußerem und innerem Zwang ist doch erst so etwas wie der Anlauf zu wirklicher Freiheit. Diese ist nämlich Freiheit von diesem und jenem, äußeren und inneren Zwang, weil und indem sie Freiheit für ein ganz bestimmtes Denken, Reden und Tun ist. Negation der Unfreiheit kann auch in ihren besten, nötigsten und edelsten Formen immer nur ein Beiwerk, eine Vorbereitung zur Freiheit sein. Freie Menschen sind positiv denkende, redende und handelnde Menschen. Sie wollen und betätigen ihre Unabhängigkeit und Überlegenheit nicht zu ihrem eigenen Schmuck, Genuß und Vergnügen und darum, auch wenn sie sie erkämpfen und verteidigen müssen, nie zänkisch, sondern im Grunde immer friedlich. Sie brauchen ihre Kunst und Macht für den Dienst, in welchem sie stehen, nämlich dazu, den noch Unfreien zu helfen, auch Freie zu werden: jeder freie Mensch ein Zeichen der Hoffnung, des Trostes, der Ermutigung und Ermunterung für viele noch unfreie. Sie brauchen sie also gerade zugunsten dieser noch Unfreien. Wie könnten sie ihnen helfen, wenn sie selbst nicht in aller äußeren Abhängigkeit auch unabhängig und in aller ihrer inneren Begrenztheit auch überlegene Menschen wären? Wie wollten und würden sie ihnen aber helfen, wenn sie ihre Unabhängigkeit und Überlegenheit für sich haben, sie wie ein Krönlein auf ihren eigenen Kopf setzen wollten? So seltsam es klingen mag, es ist so: Freiheit freier Menschen gibt es nur in der verantwortlichen Ausübung des ihnen anvertrauten und anbefohlenen Dienstes an den noch Unfreien. Frei sind sie nur, indem sie in diesem Dienste gehorsam sind. Frei sind sie nur in dieser Bindung. In dieser Bindung aber sind sie recht und unüberwindlich frei.
Wir tun einen letzten Schritt: es versteht sich nicht von selbst, daß es freie Menschen und in ihrem Dasein rechte, unüberwindliche Freiheit gibt. Und niemand kann es sich erwählen und nehmen, als freier Mensch freie Gedanken zu denken, freie Worte zu reden, freie Taten zu tun. Niemand kann es sich ja erwählen und nehmen, in jenem verantwortlichen Dienst an den noch Unfreien, in jenem Gehorsam und also in jener Bindung zu existieren. Und so kann niemand für seine Freiheit garantieren, so kann sie auch keinem durch andere garantiert werden. So gibt es keine Technik zur Erwerbung und keine zur Erhaltung und Verteidigung der Freiheit. Freiheit kommt aus freier Erwählung. Freiheit ist freies Geschenk. Der freie Gott, vor dem alle Menschen sich immer wieder als Unfreie erkennen und bekennen müssen, der sich aber gerade der Unfreien annehmen will und längst angenommen hat, ist der Ursprung der Freiheit. Er schuf zu allen Zeiten und schafft immer neu freie — eben in jener Bindung freie —, zur Befreiung anderer brauchbare Menschen. Und die wahrhaft entscheidende Betätigung ihrer Freiheit wird jeden Morgen neu in der Anrufung bestehen: «Herr, mach uns frei!».
Ich wurde dann recht verstanden, wenn verstanden wurde, daß ich nicht erst mit diesen letzten Sätzen, sondern mit allem jetzt zu unserem Thema Gesagten von der christlichen Freiheit reden wollte: von der Freiheit, die unter der Ordnung Ereignis wird, daß, wo der Geist des Herrn ist — nur da, da aber bestimmt — Freiheit ist.
Quelle: Freiheit. Sechs Radiovorträge, Polis 7, Zürich: EVZ-Verlag 1960, S. 49–52.