Gotteskrise. Versuch zur »geistigen Situation der Zeit«
Von Johann Baptist Metz
I.
Zeitansage, zu sagen, was ist, war einmal Sinn und Auftrag der Apokalyptiker. »Schreib, was ist…«, lautet der Befehl in der sog. Johannes-Apokalypse (1,9), die uns damit unwillkürlich auch an den Wortsinn von Apokalypse erinnert: aufdecken, erkenntlich machen, offenbaren.[1] Ist es verwegen, zu sagen, daß dem Christentum diese Situationsempfindlichkeit längst abhanden gekommen ist? Es sagt nicht mehr an, sondern nur noch nach, was ist und ist dann von seiner eigenen folgenlosen Maßgeblichkeit irritiert. Was aber ist, was ist der Fall – und zwar im Blick auf das Christentum selbst und seine Gottesbotschaft für die Menschen?
»Gott ist tot«, diagnostizierte Friedrich Nietzsche schon vor einem Jahrhundert. Ich zitiere Nietzsche nicht, um ihn nachzusprechen, sondern um meine theologische Zeitdiagnose nicht an sekundären Symptomen festzumachen und um nicht bei sekundären Krisen zu verweilen. Im spät (1886) angefügten 5. Buch zur Fröhlichen Wissenschaft schreibt Nietzsche[2]: »Das größte neuere Ereignis – daß ›Gott tot ist‹, daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist – beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen. Für die wenigen wenigstens, deren Augen, deren Argwohn in den Augen stark und fein genug für dies Schauspiel ist, scheint eben irgendeine Sonne untergegangen, irgendein altes tiefes Vertrauen in Zweifel umgedreht; ihnen muß unsre alte Welt täglich abendlicher, mißtrauischer, fremder, ›älter‹ scheinen. In der Hauptsache aber darf man sagen: das Ereignis selbst ist viel zu groß, zu fern, zu abseits vom Fassungsvermögen vieler, als daß auch nur seine Kunde schon angelangt heißen dürfte; geschweige denn, daß viele bereits wüßten, was eigentlich sich damit begeben hat – und was alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muß, weil es auf ihn gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war: z. B. unsre ganze europäische Moral.«
Die Krise, die das europäische Christentum befallen hat, ist nicht primär oder gar ausschließlich eine Kirchenkrise. Alle Kirchen stehen heute wie entlaubte Bäume in unserer postmodernen Landschaft. Woran liegt es? Gewiß auch an den Kirchen selbst. Doch die Krise sitzt tiefer: sie ist keineswegs nur am Zustand der Kirchen selbst festzumachen; die Krise ist zur Gotteskrise geworden. Und als solche hört sie auf, provinziell oder konfessionell zu sein, sie geht nicht nur die Kirchen, nicht nur die Christen, nicht nur die Europäer an.
Diese Gotteskrise ist nicht leicht zu diagnostizieren, weil sie sowohl innerhalb wie außerhalb des Christentums in eine religionsfreundliche Atmosphäre getaucht ist. Wir leben in einer Art religionsförmiger Gotteskrise. Das Stichwort lautet: Religion, ja – Gott, nein, wobei dieses Nein wiederum nicht kategorisch gemeint ist im Sinne der großen Atheismen. Es gibt keine großen Atheismen mehr. Der Atheismus von heute kann nämlich schon wieder Gott – zerstreut oder gelassen – im Munde führen, ohne ihn wirklich zu meinen: als freischwebende Metapher beim Partygespräch oder auf der Couch des Psychoanalytikers, im ästhetischen Diskurs, als Codewort zur Legitimierung ziviler Rechtsgemeinschaften usw. Religion als Name für den Traum vom leidfreien Glück, als mythische Seelenverzauberung, als psychologisch-ästhetische Unschuldsvermutung für den Menschen: ja. Aber Gott, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott Jesu? Wie modernitätsverträglich ist eigentlich die Rede vom biblischen Gott? Wie hat sie alle Privatisierungen und Funktionalisierungen in der Moderne überstanden? Wie die Verwandlung von Metaphysik in Psychologie und Ästhetik? Wie sich eingepaßt in den gönnerischen Pluralismus unserer liberalen Gesellschaften und in den Sog ihrer extremen Individualisierungen? Was ist geschehen? Ist die intelligible und kommunikative, die verheißungsvolle Macht des Wortes Gott endgültig geschwunden?
So darf man nicht fragen, höre ich aus den innersten Gemächern der Theologie. Die hat sich nämlich längst und von vornherein gegen alle Gotteskrisen immunisiert und das Wagnis der Nichtidentität erst gar nicht gewagt. Gott kommt von Gott, strikte Offenbarungstheologie ist angesagt, der theologische Zauberkreis ist geschlossen, ehe der Mensch dazwischentritt.[3] Wieso ist das aber etwas anderes als die kaum verhohlene theologische Verzweiflung am modernen Menschen und seiner Gottbegabung? Auch die Kirche hat ihr Konzept der Immunisierung gegen Gotteskrisen. Sie spricht heute nicht mehr – wie z. B. noch im Ersten Vatikanischen Konzil – von Gott, sondern nur – wie etwa im jüngsten Konzil – von dem durch die Kirche verkündeten Gott. Die Gottesrede wird ekklesiologisch verschlüsselt.[4] Ist das der Weg aus der Gotteskrise oder der Anfang vom Weg in die Sekte?
II.
Elementare Krisen verlangen elementare Reaktionen. Mein Vorschlag ist nicht unmißverständlich. Er wird den einen viel zu unbescheiden, den anderen viel zu bescheiden vor kommen. Woher stammt eigentlich die Theo-logie, die ja, will sie nicht sich und nicht andere betrügen, immer versuchen muß, dies zu sein – Rede von Gott, Rede von Gott in dieser Zeit, in der Zeit der Gotteskrise. Woher stammt die Gottesrede, worin gründet sie? Etwa in der Sprache versiegender Traditionen? In der Sprache der Bücher oder doch des Buches aller Bücher? In der Sprache der Dogmen oder anderer kirchlicher Institutionen? In der Bildersprache unserer literarischen Fiktionen? In der Rätselsprache unserer Träume? Die Rede von Gott stammt allemal aus der Rede zu Gott, die Theologie aus der Sprache der Gebete. Das klingt fromm und setzt mich bei denen, die mich auch sonst nicht verstehen wollen, dem Verdacht aus, ich, der politische Theologe, hätte mich wieder einmal gewendet, diesmal ins Fromme, zum frommen Untertan.
Doch täuschen wir uns nicht: die Sprache der Gebete ist nicht nur universeller, sondern auch spannender und dramatischer, viel rebellischer und radikaler als die Sprache der zünftigen Theologie. Sie ist viel beunruhigender, viel ungetrösteter, viel weniger harmonisch als sie. Haben wir je wahrgenommen, was sich in der Sprache der Gebete durch Jahrtausende der Religionsgeschichte angehäuft hat (und selbst bei polytheistischen Religionen spricht man von einem Monotheismus der Gebete[5]): das Geschrei und der Jubel, die Klage und der Gesang, der Zweifel und die Trauer und das schließliche Verstummen? Haben wir uns vielleicht zu sehr an der kirchlich und liturgisch gezähmten Gebetssprache orientiert, von zu einseitigen Beispielen aus der biblischen Tradition uns genährt? Was ist mit Hiobs Klage Wie lange noch?, mit Jakobs Ringen mit dem Engel, mit dem Verlassenheitsschrei des Sohnes und dem Maranatha als letztem Wort des Neuen Testaments? Diese Sprache ist viel widerstandsfähiger, viel weniger geschmeidig und anpassungsbereit, viel weniger vergeßlich als die platonische oder idealistische Sprache, in der die Theologie sich um ihre Modernitätsverträglichkeit bemüht und mit der sie ihre Verblüffungsfestigkeit gegenüber allen Katastrophen und allen Erfahrungen der Nichtidentität probt.
Vielleicht ist es gerade die Christologie, die uns den Zugang zu dieser Sprache verstellt. Wir haben zu viel Ostersonntagschristologie und zu wenig Karsamstagschristologie. Die Ostersonntagschristologie hat unsere Gebete zu sehr mit einer Siegersprache verwöhnt und ihr die Katastrophenempfindlichkeit abgewöhnt. Wir brauchen eine Art Karsamstagssprache, eine Karsamstagschristologie, eine Christologie mit schwachen Kategorien, eine Christologie, deren Logos noch erschrecken und unter diesem Schrecken sich wandeln kann. Wie anders wäre die Christologie von dem Verdacht zu befreien, sie sei gar nicht Theologie, sondern Mythologie, nicht Sprache des Evangeliums, sondern Sprache eines Siegermythos? Gewiß, im Mythos vergißt sich der Schrecken schneller; er ist deshalb auch therapiegeeigneter und angstberuhigender, meinetwegen auch kontingenzbewältigender als die Sprache der Gebete.
»Mit den Gebeten beginnen«, fordert Jacques Derrida bei seiner Untersuchung zur Negativen Theologie.[6] Ich stimme zu. Mit den Gebeten beginnen heißt ja nicht etwa (identitätsphilosophisch), mit dem Glauben beginnen. Die Sprache der Gebete ist viel umfassender als die Sprache des Glaubens; in ihr kann man auch sagen, daß man nicht glaubt. Sie ist die seltsamste und doch verbreitetste Sprache der Menschenkinder, eine Sprache, die keinen Namen hätte, wenn es das Wort Gebet nicht gäbe. Sie ist die Sprache ohne Sprachverbote und zugleich die Sprache voll schmerzlicher Diskretion. Sie verurteilt den unaussprechlich Angesprochenen nicht zur Antwort, nicht zum vertraulichen Ich-Du; sie bleibt die Heimstatt negativer Theologie, bleibt praktiziertes Bilderverbot, bleibt wehrlose Weigerung, sich von Ideen oder Mythen trösten zu lassen, bleibt Gottespassion, sehr oft nichts anderes als ein lautloser Seufzer der Kreatur.[7]
Was ist mit unserer Sprache geschehen, daß sie sich angeblich nicht mehr zu solchem Sprechen fügen will? Gott kommt in ihr substantiell nicht mehr vor, sagen wir. Aber kommen wir noch vor? Gibt es uns noch in einer Sprachwelt, in der es eine solche Gebetssprache nicht mehr gibt? Oder ist die Rede von dem Menschen – zumindest wissenschaftstheoretisch – nicht selbst schon zum Anthropomorphismus geworden? Vielleicht ist diese Gebetssprache die letzte sprachliche Rückmeldung des Menschen, nachdem er den sekundären Sprachwelten unseres fortgeschrittensten Bewußtseins längst abhanden gekommen ist. Vielleicht ist sie tatsächlich die einzige Sprache, in der der Mensch noch als Mensch gestikuliert und in der er nicht nur als nachträglich gereimtes, imaginäres Subjekt von Zeichen- und Codierungssystemen, in der er schließlich nicht nur als Zahl vorkommt. Michel Foucault in seiner Archäologie des Wissens: »Es kann durchaus sein, daß Ihr Gott unter dem Gewicht all dessen, was Ihr gesagt habt, getötet habt. Denkt aber nicht, daß Ihr aus all dem, was Ihr sagt, einen Menschen macht, der länger lebt als er.«[8]
Welche Sprache also wäre zu sprechen, welche Heuristik des Sprechens hätte die Theologie zu betreiben, daß in dieser Sprache der Mensch selbst nicht verschwindet und nicht Gott? Und was bedeutet das für den moralischen Zustand Europas und überhaupt für die geistige Situation dieser Zeit?
Nietzsche prophezeite – als Folge des von ihm angezeigten Todes Gottes – den Einsturz »unserer ganzen europäischen Moral«.[9] Und hat er nicht Recht behalten? Leben wir nicht in einem Stadium der moralischen Erschöpfung Europas? Ist unsere intellektuelle Kultur nicht längst von der moralischen zur ästhetischen Betrachtung der Welt übergegangen? Warum wirken unsere ethischen Diskurse so nervös und so gereizt? Das moralische Klima in Europa schwankt zwischen dem erklärten Willen zur moralischen Suspension überhaupt und der Kleinen Moral postmoderner Spielart. Diese Kleine Moral, das ist die Moral mit den verkleinerten und beweglichen Maßstäben: mit dem Verzicht auf allzu langfristige, gar lebenslange Loyalitäten, mit dem Selbstverwirklichungsvorbehalt bei jedem Risiko, mit dem Insistieren auf Umtauschrecht bei jeglichem Engagement, aber eben auch ganz allgemein die Moral mit der Individualisierung aller Konflikte, mit der Vergleichgültigung gegenüber dem großen Konsens, mit der Verdächtigung aller universalistischen Begriffe. Offensichtlich liebt es der europäische Geist inzwischen kleiner. Ein neuer Unschuldstraum scheint ihn erfaßt zu haben. Er äußert sich in einer Vorliebe für mythische und romantische Motive, die man mit dem Rücken zu jener Geschichte erzählen kann, in der gelitten wird. Der neue europäische Geist schätzt die moralische Entlastung, die in solchen Mythisierungen und puren Literarisierungen der Lebenswelt steckt und unsere Katastrophenempfindlichkeit betäubt. Diese Kleine Moral ist die Moral der befriedigten Mehrheit[10], die sich kaum um die unbefriedigten Minderheiten, um die Leiden der Anderen kümmert.
Kann diese Kleine Moral den gegenwärtigen Herausforderungen Europas Rechnung tragen? Ich zweifle energisch – und vermute mich da ganz in der Nähe von Jürgen Habermas. Schließlich ist Europa die kulturelle und politische Heimstatt eines Universalismus, auf den zu verzichten gerade extrem eurozentrisch wäre. Ich meine hier nicht das Europa der profanen Europäisierung der Welt durch wissenschaftlich-technische Zivilisation, sondern das Europa einer universalistischen Menschenrechtsethik, in die die Befehle vom Berg Sinai, die biblischen 10 Gebote ebenso eingegraben sind wie die Imperative der politischen Aufklärung.[11] Sie hätten wir heutzutage, gerade im Umgang mit den unbefriedigten Minderheiten, mit den fremden Anderen auf uns selbst anzuwenden.
Die Ausgangstage des Christentums zur Bezeugung und Gestaltung dieser Großen Moral ist nicht günstig. Warum nicht? Immer wieder habe ich mich in den letzten Jahren gefragt, was eigentlich mit dem Christentum geschah, als es (übrigens als einzige der monotheistischen Hochreligionen) zur Theologie wurde. Dabei leitete mich nicht das Interesse an einer begriffslosen Entdifferenzierung des Christentums, es ging mir nicht um vereinfachte Verhältnisse, sondern um die Frage, ob in der Art der Theologiewerdung nicht etwas verdrängt, vergessen oder stillgestellt wurde, was gerade für die sprachliche und moralische Kompetenz des Christentums heute unverzichtbar ist. M. E. verlor das Christentum im Prozeß dieser Theologiewerdung seine Leidempfindlichkeit oder – theologisch gesprochen – seine Theodizeempfindlich- keit, d. h. die Beunruhigung durch die Frage nach der Gerechtigkeit für die unschuldig Leidenden. Und im gleichen Atemzug verlor es seine Zeitempfindlichkeit, d. h. die Beunruhigung durch die Frage nach der Frist der Zeit: Wie lange noch? Maranatha! Dieser zweifach-eine Verlust gilt üblicherweise keineswegs als solcher, er gilt vielmehr als Sieg, eben als Sieg der theologischen Vernunft, als theologischer Sieg vor allem über die jüdischen Traditionen im Christentum[12], und er ist doch in meinen Augen zur Wurzel der heutigen Kompetenzkrise des Christentums geworden, der gegenüber – ich wiederhole mich – alle Kirchenkrisen im Christentum sekundärer Natur sind.
IV.
Die christliche Gottesrede verlor ihre Leidempfindlichkeit. Von Anfang an versuchte die christliche Theologie, sich die beunruhigende Frage hach der Gerechtigkeit für die unschuldig Leidenden dadurch vom Leib zu halten, daß sie sie in die Frage nach der Erlösung der Schuldigen verwandelte. Die Theodizeefrage, die Frage nach Gott angesichts der abgründigen Leidensgeschichte der Welt, seiner Welt, geriet in einen soteriologischen Zirkel; sie wurde soteriologisch verschlüsselt – und dies nicht ohne schlimme Folgen.[13] Das Christentum verwandelte sich aus einer Leidensmoral in eine Sündenmoral, aus einem leidempfindlichen Christentum wurde ein sündenempfindliches. Nicht dem Leid der Kreatur galt die primäre Aufmerksamkeit, sondern ihrer Schuld. Christliche Theologie wurde vor allem zu einer Heuristik der Schuldgefühle und der Sündenangst. Das lähmte ihre Empfindlichkeit für das Leid der Gerechten und verdüsterte die biblische Vision von der großen Gottesgerechtigkeit, der doch aller Hunger und Durst zu gelten hätte.[14]
Seit Augustinus gilt, daß alles Leid aus der sündigen, speziell erbsündigen Verfallenheit der Menschen stammt, ohne daß die Rückkehr der Theodizeefrage in der Gestalt der Frage »Warum überhaupt die Sünde, warum überhaupt die Schuld?« zugelassen wurde. Die damit suggerierte Übersteigerung des Schuldgedankens, diese Art von harmatologischer Überforderung der Menschen, dieser christliche Sündenabsolutismus führte zu folgenreichen Gegenreaktionen. Die Freiheitsgeschichte der Moderne entzog sich immer mehr jeglichem Schuldverdacht, Religion und Ethik traten auseinander. Die heute grassierende Remythisierung und Psychologisierung des Christentums empfiehlt sich mit ihren Unschuldsvermutungen und Unschuldsträumen über den Menschen. Sie wäre zu begreifen als Reaktion auf eine leidunempfindliche und sündenüberempfindliche Verkündigung und Theologie, die angesichts der himmelschreienden Zustände der Schöpfung jeweils nur paränetische Fragen an das Verhalten der Menschen, aber keine leidempfindliche Rückfragen an Gott kennt[15] – anders als die Sprache der Gebete. Diese Sprache ist auch hier wieder wichtig, um den Verdacht einer rein funktionalistischen Begründung der Bedeutung des Christentums in unserer Zeit abzuweisen.[16] Ich suche nämlich nun nicht ein ideelles Christentum dadurch zum Leben zu erwecken, daß ich zeige, wieviel Gutes es eigentlich bewirken könnte. Nach meiner Auffassung gibt es das leidempfindliche Christentum durchaus, wenn auch nicht in der uns vertrauten theologieförmigen Sprache, sondern eben in der theodizeempfindlichen Sprache der Gebete, in der sich auch die Verletzung der eigenen Gottesgewißheit angesichts des Unglücks der Anderen zu Wort meldet.
Aus solcher Sprache nährt sich die Vorstellung von einer Moral des Christentums, die nicht primär schuldorientiert, sondern leidensorientiert ist. Diese Moral läßt sich durchaus mit dem erreichten Stand der Autonomie sittlichen Handelns verbinden, wenn man einmal davon ausgeht, daß Autonomie und Emanzipation nicht etwa eine abstrakte Gehorsamsverweigerung, eine pure Verneinung jeglicher Autorität bedeuten, sondern daß sie gerade die unbedingte Anerkennung einer Autorität fordern: nämlich die Autorität der Leidenden.[17] Wer sich ihren Befehlen verweigert, verwechselt autonomes Denken mit narzißtischem und Emanzipation mit Willkür. Auf dieser Basis könnte und müßte sich das Christentum mit seiner Leidempfindlichkeit und seiner Gerechtigkeitsvision in das Ringen um eine Große Moral einschalten. An ihrem Gelingen hängt es, ob Europa, ob Deutschland im besonderen, eine brennende oder eine blühende multikulturelle Landschaft sein wird.[18]
V.
Freilich, diese Große Moral des Christentums kennt nicht die logische Figur einer transzendentalen oder quasitranszendentalen Letztbegründung. Sie kennt allenfalls eine Art Zuletztbegründung, will sagen: die leidempfindliche Moral des Christentums fordert eine zeitempfindliche Theologie.
Die biblische Botschaft ist in ihrem Kern eine Zeitbotschaft, eine Botschaft vom Ende der Zeit. Alle biblischen Aussagen tragen einen Zeitvermerk, einen Endzeitvermerk. Die Art, wie das Christentum zur Theologie wurde, hat den heilsdramatischen Zusammenhang zwischen Gott und Zeit entspannt. Die Theologie lebt zumeist von fremden, von geborgten Zeitverständnissen, die es in meinen Augen fraglich machen, wie in Verbindung mit ihnen der Gott der biblischen Überlieferung anzusprechen und zu denken sei. Mein Vorschlag, den ich über Jahre bedacht habe: Die Apokalyptik wäre als Temporalisierungsprogramm zu begreifen, als Ansatz zur Verzeitlichung der Welt im Horizont befristeter Zeit. Wenn man bei den Texten und Bildern der biblischen Apokalyptik einen Augenblick länger verweilt und ihnen um ein Geringes länger standhält als es der theologische Konsens erlaubt, dann kann man erkennen, daß es sich bei dieser Apokalyptik nicht um eine geschichtsferne Spekulation, nicht um eine katastrophensüchtige Vermutung über den Zeitpunkt des Finales der Welt handelt, sondern um die bildhafte Kommentierung des finalen Wesens der Weltzeit selbst. Gott ist in dieser apokalyptischen Sprache das noch nicht herausgebrachte, noch anstehende Geheimnis der Zeit. Er wird nicht als das Jenseits zur Zeit angesprochen, sondern als ihr befristendes Ende. Apokalyptik wäre also als Vision von der befristeten Zeit zu begreifen. Ist das aber nicht eine zu dürftige Destillation aus den gewaltigen Bildern dieser biblischen Tradition? Doch im Grunde kommt es nur auf diese Zeitvision an – beim Ringen um die geistige Situation unserer Zeit. Denn inzwischen ist ein Zuletzt, ein Finale, eine Befristung der Zeit extrem fraglich geworden.
Ich erinnere dazu nochmals an Nietzsche. »Gott ist tot«, das ist die Botschaft des tollen Menschen in Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft. Gott ist tot, und die Kirchen sind nichts anderes als die »Grüfte und Grabmäler Gottes«.[19] Was aber ist, wenn Gott tot ist?
Nietzsches Botschaft vom Tode Gottes ist, genau besehen, eine Botschaft von der Zeit, von der Divinität der Zeit. Seine Aufkündigung der Herrschaft Gottes ist die Ankündigung der Herrschaft der Zeit, der elementaren, der unerbittlichen und undurchdringlichen Hoheit der Zeit. Gott ist tot. Was nun in allem Vergehen bleibt, ist die Zeit selbst: ewiger als Gott, unsterblicher als alle Götter. Es ist die Zeit ohne Finale, ja – wie Nietzsche ausdrücklich betont – »ohne Finale ins Nichts«[20]. Es ist die Zeit, die nicht beginnt und die nicht endet, die Zeit, die keine Fristen kennt und keine Ziele, keine himmlischen Ziele und keine irdischen, keine spekulativ durchschauten wie bei Hegel und keine politisch zu verwirklichenden wie bei Marx. Es ist die Zeit, die nichts will außer sich selbst, die Zeit als die letztverbliebene Majestät, nachdem alle metaphysisch erbauten Throne gestürzt sind, die Zeit als das einzige nachmetaphysische Faszinosum. Es gehört zu den bemerkenswertesten Zeichen der Zeit, daß gegenwärtig über nichts so viel gerätselt und nachgedacht, so viel publiziert und gestritten wird wie über die Zeit selbst.
Es gibt lebensweltliche Symptome für diese Zeitherrschaft. Sind wir nicht immer mehr einem anonymen Druck der Beschleunigung ausgesetzt, einer undurchsichtigen Mobilisierung unserer Lebenswelt? Diese richtungslosen Turbulenzen nehmen sich im Alltag vielleicht noch wenig dramatisch aus. Doch die Unauffälligkeit ihres Wirkens verrät nur etwas von der Tiefe ihrer Verwurzelung. In seiner jetzt abgeschlossenen amerikanischen Trilogie beschreibt John Updike diese ziel- und fristlose Zeitbewegtheit als solche: »Der größte Teil des amerikanischen Lebens besteht darin, daß man irgendwohin fährt und wieder zurück und sich fragt, warum zum Teufel man eigentlich gefahren ist.«[21]
Neue postmoderne Identitätsbilder sind im Umlauf. Sie wirken wie ein Reflex auf die Herrschaft der Zeit ohne Finale: So der Mythos von der ewigen Wiederkehr des Gleichen bei Nietzsche selbst; alltagsempirisch die wachsende Konjunktur der Seelenwanderungsvorstellungen und der Reinkarnationsträume; und in der intellektuellen Kultur offeriert z. B. Botho Strauß einen viel besprochenen literarisch ästhetischen Versuch über Beginnlosigkeit – als Einführung in eine Welt, in der sich die Vorstellung von Anfang und Ende verbietet.
Philosophie und Theologie helfen sich häufig damit, daß sie die Zeit halbieren, daß sie wohl – vita brevis[22] – von der befristeten Lebenszeit sprechen, die entfristete Weltzeit aber sich selbst überlassen. Wie immer es um die philosophische Zeitdiskussion stehen mag: Huldigt hier die Theologie nicht einem gefährlichen Dualismus? Sie überläßt die Weltzeit einer leeren anonymen Evolution und sucht nur die individuelle Lebenszeit in ein Verhältnis zu Gott zu bringen. Hat sie damit aber nicht – gut gnostisch – den Schöpfergott längst preisgegeben und bespricht sie nicht ausschließlich einen in den Tiefenräumen unserer Seele vermuteten Erlösergott? Erklärt das womöglich die Konjunktur einer alteritätsblinden, einer weltblinden und politiklosen Psychotheologie? Kann sich aber eine Theologie, die am Bekenntnis zum Schöpfergott festhält, der Spannung zwischen Kosmologie und Psychologie, zwischen kosmologischer und psychologischer Zeitauffassung entziehen? Muß sie hier nicht postmoderner Individualisierungslust und Gefühlsseligkeit ins Antlitz widerstehen? Und zwar um Gottes und der Menschen willen? Denn die vermeintlich befristete und an dieser Frist sich selbst orientierende und festigende Lebenszeit der Menschen wird immer mehr überwältigt von der Vorstellung der entfristeten Weltzeit, der Zeit ohne Finale. Woher sonst die wachsende Anonymisierung, die wachsende Desorientierung und normative Taubheit[23] unserer Lebenswelt? Ob uns da der postmoderne Kulturkarneval wirklich weiterhilft? Oder ob er nicht nur etwas übertönt?
Eines der berühmten Stücke von Samuel Beckett trägt den Titel Endspiel. In ihm fragt der eine Dialogpartner, namens Hamm, voller Angst: »Was ist los? Was passiert eigentlich?« Und der andere namens Clov, antwortet ihm: »Irgendetwas geht seinen Gang.« Das sind Dialogfetzen aus der Tragödie vom Erlöschen des Lebens, vom lautlosen Erlöschen des Lebens, ohne jegliches apokalyptisches Geschrei. »Irgendetwas geht seinen Gang«. An dieser Zeit ohne Finale stirbt der Mensch, der Mensch, wie wir ihn bisher geschichtlich kennengelernt haben. Hier bereitet sich der sanfte und lautlose Untergang des uns bisher vertrauten Menschen vor. Doch was ist mit Nietzsches Traum vom neuen Menschen, vom erhöhten Menschen, vom Übermenschen, der aus seiner Botschaft von der Zeit ohne Finale geboren werden soll? Es fällt mir schwer, dem Vorschlag Nietzsches zu folgen und in seinem erhöhten Menschen die Heimkehr in die Heiterkeit, in die mittägliche Existenz mediterraner Lebensfreude zu feiern. Das ist mir zu viel mythische Unschuld nach so viel realer Passionsgeschichte der Menschen! Deshalb fällt mir zu diesem neuen Menschen der Postmoderne eigentlich nur die Vision vom ganz und gar zeitunempfindlichen Menschen ein, vom Menschen als sanft und unschuldig funktionierender Maschine in der Technopolis von morgen.
Dagegen hätte das Christentum seine befreienden Erinnerungen vom Ende der Zeit aufzubieten und seine sperrigen Vermissungen am Heute ressentimentfrei zu formulieren. Das verlangt mehr als je eine Art metaphysischer Zivilcourage[24]. Denn solches Zeitdenken wird sich kaum dem Vorwurf der Naivität entziehen können. Aber wie schwer wiegt er angesichts der Gefahr expandierender Banalität? Und tödlicher als der Verdacht, ungleichzeitig zu sein, wäre für das Christentum der Verdacht, überflüssig geworden zu sein.[25]
Vortrag, gehalten auf dem am 16. Juni 1993 von der Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Münster veranstalteten Symposion zur Verabschiedung von Johann Baptist Metz.
Quelle: Diagnosen zur Zeit, Düsseldorf: Patmos, 1994, S. 76-92.
[1] Interessante Beobachtungen dazu bei J. Ebach, Biblische Erinnerungen, Bochum 1993, passim.
[2] Ed. Schlechta II, 205.
[3] Aus gratia supponit naturam wurde gratia sibi supponit naturam; der Kreis der Offenbarungsidentität ist geschlossen, deutlich bei K. Barth, ähnlich übrigens auch bei K. Rahner.
[4] Vgl. einschlägige Beobachtungen zum jüngsten Konzil bei K. Rahner, in: ders., Schriften zur Theologie XIV, 287ff.
[5] Die erste Auflage des RGG spricht im Artikel über den Monotheismus (Bd. 4, 1913) von einer »Erscheinung, die sich in der indischen, ägyptischen, babylonischen, ja in allen polytheistischen Religionen überall da beobachten läßt, wo innige Frömmigkeit nach Ausdruck ringt. Denn die Aussagen des andächtigen Beters haben oft monotheistische Färbung, so daß man von einem Monotheismus der Andacht geredet hat.« – Vgl. auch das Resümee zur Religionsgeschichte des Gebets in RGG3, Bd. 2, 1958 und das abschließende Urteil von C. H. Ratschow in TRE über das Gebet in der Religionsgeschichte.
[6] J. Derrida, Wie nicht sprechen. Verneinungen (Ed. Passagen 29), Wien 1989.
[7] In einem späten Text von Samuel Beckett (deutsch gesammelt unter dem Titel »Auf’s Schlimmste zu«) steht zu lesen: »Verlangend, daß alles vergehe. Trübe vergehe. Leere vergehe. Verlangen vergehe. Vergebliches Verlangen, daß vergebliches Verlangen vergehe.«
[8] Archäologie des Wissens, Frankfurt 1973, 301.
[9] A. a. O. 205.
[10] Nach einem Ausdruck von Kenneth Galbraith.
[11] Einzelheiten dazu wie auch zu der kritischen Frage, ob es tatsächlich die Praxis eines einheitlichen und ungeteilten Menschenrechts gibt, in meinem Text »Die Dritte Welt und Europa«, in: Stimmen der Zeit, Januar 1993.
[12] Zur Halbierung des Geistes des Christentums bei der Theologiewerdung des Christentums vgl. z. B. meinen Text: »Anamnetische Vernunft«, in: A. Honneth, Th. McCarthy, C. Offe, A, Wellmer, Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung ( = FS Jürgen Habermas), Frankfurt 1989, 733-738.
[13] Zur theologischen Stillegung der Theodizeefrage (klassisch bei Augustinus, aktuell in den zeitgenössischen Trinitätstheologien) vgl. meine Textbeiträge unter dem Titel »Plädoyer für mehr Theodizee-Empfindlichkeit in der Theologie«, in: W. Oelmüller (Hrsg.), Worüber man nicht schweigen kann, München 1992. Für die religionsphilosophische Kontingenzbewältigung muß natürlich die Theodizeefrage auch stillgestellt werden: bei H. Lübbe mit Motiven aus der Stoa, bei P. Sloterdijk mit Hilfe gnostischer Motive.
[14] Schließlich wurde die die biblische Tradition beunruhigende Frage nach der Gerechtigkeit für die unschuldig Leidenden selbst soteriologisch verschlüsselt, sie wurde zur Variante der Frage nach der Erlösung für die Schuldigen. Die Frage »Warum das Leid in Gottes guter Schöpfung?« hatte eine soteriologische Antwort gefunden: wegen der Schuld, der Erbschuld der Menschheit. Ungefragt und entsprechend unbeantwortet blieb die Frage: Warum aber überhaupt die Schuld, da doch Gott offensichtlich auch, ohne die kreatürliche Freiheit anzutasten, einen schuld- und sündelosen Menschen hätte schaffen können?
[15] Die Leidempfindlichkeit der Theologie ist übrigens nicht etwa dort erfolgreich überwunden, wo die (zeitgenössische) Theologie vom Leiden Gottes bzw. vom leidenden Gott selbst spricht. Ich sehe in dieser ungenierten, ja zuweilen euphorischen Übertragung des Leidens auf Gott eher die Vorherrschaft der Ästhetik und einer Ästhetisierung des Leidens in der Theologie: vgl. dazu meine Beiträge unter Anm. 13.
[16] Diese Formulierung habe ich bewußt in Anlehnung an eine kritische Bemerkung von J. Habermas (Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt 1985, 53) zur funktionalistischen Begründungsweise gewählt.
[17] Der Gehorsam gegenüber dieser Autorität und ihren Befehlen wäre also unbedingt in die Begriffe der Freiheit, der Autonomie und der Emanzipation einzutragen.
[18] Vgl. dazu meinen Text »Perspektiven eines multikulturellen Christentums«, in: Frankfurter Rundschau, Weihnachten 1992. Jetzt auch unter dem Titel »Das Christentum und die Fremden«, in: F. Balke, R. Habermas, P. Nanz, P. Sillem (Hrsg.), Schwierige Fremdheit, Frankfurt 1993.
[19] Ed. Schlechta II, 126.
[20] Ed. Schlechta III, 853 (Nachlaß).
[21] Zitiert aus einer Updike-Rezension in der »Zeit« vom 2. Oktober 1992.
[22] Vgl. den Text von O. Marquard, Zeit und Endlichkeit. Gedanken über die temporale Entzweiung des Lebens, in: Information Philosophie 5 (Dezember 1992).
[23] Formulierung J. Habermas.
[24] Formulierung G. Anders.
25 Zu meinem Verständnis des Verhältnisses von »Gott und Zeit« wie zum Zeitkern des biblisch geprägten Wahrheitsbegriffs vgl. bereits meinen Vortrag beim XIV. Deutschen Kongreß für Philosophie 1987 (abgedruckt im einschlägigen Kongreßband: O. Marquard (Hrsg.), Einheit und Vielheit, Hamburg 1990, 170-186); zum Begriff einer »produktiven Ungleichzeitigkeit« vgl. meinen gleichnamigen Beitrag in: J. Habermas (Hrsg.), Stichworte zur »Geistigen Situation der Zeit«, es 1000,2. Bd., Frankfurt 1979, 529-538.