Bekenner und kritischer Geist. Zum 75. Geburtstag Karl Barths
Von Dr. Dr. Gustav Heinemann
Das theologische Werk von Karl Barth ist dadurch gekennzeichnet, daß er insbesondere dem Protestantismus zu einer neuen Besinnung verholten hat — zu einer Besinnung darauf, daß Jesus Christus nicht ein Leitbild oder Ideal menschlicher Entwicklungsmöglichketten, sondern die Hand Gottes ist, die der Schöpfer nach uns Menschen als seinen Geschöpfen ausstreckt, Von daher richtet sich die ständige unerbittliche Kritik von Karl Barth sowohl gegen die Aufweichung des Evangeliums nach Maßstäben der Vernunft als auch gegen jede Vermengung mit Ansprüchen einer Ideologie oder irgendwelcher Interessen einer Gesellschaftsordnung.
Karl Barth, obwohl Schweizer von Geburt und Prägung, lebte und lehrte von 1920 bis 1935 an deutschen Universitäten und ist allein von daher auch mit den politischen Vorgängen bei uns eng verbunden. Wählend der Weimarer Republik verfolgte er, wie sein Briefwechsel mit Thurneysen ausweist, mit Sorge, daß die evangelischen Kirchen trotz der Katastrophe von 1918 in ihrer deutschnationalen Vergangenheit befangen blieben. Er, schon damals Sozialdemokrat, hörte die Deutschen unter Hindenburg im unmittelbaren Miterleben „in ihrer großen Mehrheit politisch nach irgendeinem in der ganzen übrigen Welt unbekannten Abc räsonieren.“
Dem nationalsozialistischen Rausch von 1933, der so erschreckend breit auch in die Kirchen einbrach, setzte Karl Barth die Parole entgegen, daß es bei der Predigt des Evangeliums zu beharren gelte, „als wäre nichts geschehen“. Alle Aufgeregtheiten der deutsch-christlichen Lehren vom arischen Christus oder von „Blut und Boden“ waren in seinen Augen nur Anzeichen dafür, daß die Entartungen des Protestantismus durch sogenannte Aufklärung, Romantik und Idealismus zu ihren Höhepunkten kamen, denen es nun endlich und endgültig zu widerstehen galt.
Den Aufbruch der Bekennenden Kirche gegen Irrlehre und Gewaltregiment der „Deutschen Christen“ begleitete Karl Barth von Anfang an mit der ganzen Vollmacht seiner theologischen Erkenntnis. Bekannt ist seine entscheidende Mitwirkung auf der ersten Synode der Bekennenden Kirche in Barmen (Mai 1934), deren von ihm entworfene Erklärung gegen die Irrlehren der Zeit ein fester Bestandteil des theologischen Rüstzeuges vieler Kirchen des In- und Auslandes geworden ist. Ich erinnere stets gern daran, daß Karl Barth als Universitätsprofessor auf der je zur Hälfte aus Pfarrern und Laien zusammengesetzten Synode uns Laien zugerechnet wurde. 1935 mußte Karl Barth Deutschland verlassen. Seitdem begleitet er von Basel aus unsere Wege und Schicksale.
Als 1938 England, Frankreich und Italien im Münchner Pakt mit Hitler unter Preisgabe der Tschechoslowakei den Frieden retteten, war es Karl Barth klar, daß nun der neue Weltkrieg heraufzog. Sein damaliger Brief an Prof. Hromadka in Prag bleibt Zeugnis eines tieferen Verständnisses vom Zeitgeschehen, wie es nur aus der Kraft zur Unterscheidung der Geister erwachsen kann.
Als die Katastrophe sich ausgetobt hatte und Deutschland 1945 zerschmettert am Boden lag, war Karl Barth einer der ersten, die inmitten des Strafgerichtes über unserem Volk einer Versöhnung aus neuen Anfängen das Wort redete. Die Stuttgarter Erklärung vom Oktober 1945, in der Männer der Bekennenden Kirche sich anklagten, daß sie „nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben“, sollte von uns aus den Ansatz dazu bieten. Karl Barth hat sie darum lebhaft begrüßt, in der Folge aber auch immer wieder gefragt, ob sie auch in den Gemeinden in Deutschland Wurzel fasse und gestaltende Kraft entfalle.
Es ist kein Zweifel daran erlaubt, daß Karl Barth die Entwicklung in Deutschland seit langem mit neuer Sorge betrachtet. Wiederum ist so erschreckend vieles rückläufig geworden. Antikommunistische Aufgeregtheit ist noch längst kein Aufbruch aus dem Evangelium.
„Das christliche Wort heute“ – so schrieb Karl Barth 1950 in Unterstützung meines Protestes gegen die eingeleitete Remilitarisierung – „muß dahin lauten, daß wir uns nicht fürchten sollen … Wir werden nicht dringlich genug darauf aufmerksam machen können, daß es dem Kommunismus gegenüber letztlich und im Grunde nur die positive Abwehr gibt, die in ihr Schaffung gerechter, für alle Schichten tragbarer sozialer Verhältnisse besteht … Es muß in Deutschland zu vieles radikal neu gelernt und zu viel radikal vergessen werden, was heute noch keineswegs vergessen und noch keineswegs gelernt scheint, bevor man an die Existenz von deutschen Soldaten wieder ohne Grauen denken kann …“[1]
Wer wollte das vor zehn Jahren hören? Wer nimmt es heute mit Bedacht auf, wo so viel vergessen ist, was nicht vergessen werden durfte, so daß ein Eichmann-Prozeß wieder daran erinnern muß?
Kölner Stadtanzeiger, Mittwoch, 10. Mai 1961.
[1] Karl Barth, Brief vom 17. 10. 1950 an W.-D. Zimmermann, in: Ders., Offene Briefe 1945–1968, hrsg. v. Diether Koch, Zürich: TVZ, 1984, S. 207.210.213.