Dietrich Ritschl, Predigt zu Hebräer 11,8-9 und dem »story«-Konzept (1975): „Wollen wir neu in diese Geschichte eintreten? Damit Sie mich nicht mißverstehen: man kann auch leben, ohne ein Christ zu sein, auch glücklich leben; auch nützlich leben. Natürlich kann man das. – Wollen wir in diese Geschichte eintreten? Wohin sollen wir denn sonst gehen? Der Gott der Zelte ruft. Ihm sei Lob und Ehre und Preis und Anbetung von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Predigt zu Hebräer 11,8-9 und dem »story«-Konzept

Von Dietrich Ritschl

Aus Glauben erwies sich Abraham, als er berufen wurde, gehor­sam, an einen Ort auszuziehen, den er zum Erbteil empfangen sollte,- und er zog aus, ohne zu wissen, wohin er komme. Aus Glauben siedelte er sich an im Lande der Verheißung als in einem fremden und wohnte mit Isaak und Jakob, den Miterben der­selben Verheißung, in Zelten. Hebr 11,8-9

Wie ein fliegender Pfeil lädt der Hebräerbrief – so habe ich ihn immer verstanden – zum Gottesdienst ein, zum Lob Gottes, zum Eintreten in seine Bewegung, in seine Geschichte. – Mit Abraham beginnt eine Geschichte, eine »story« – man weiß nicht, ob man sie die »story« Abrahams oder die »story« Gottes nennen soll. Es ist die »story« beider. (Entschuldigen Sie, daß ich das englische Wort benütze, Sie werden gleich spüren, daß es keinen guten Ersatz auf Deutsch gibt.) Bei Abraham ruht der theologische Kar­dinalsatz, bei ihm hängen die Scharniere ein, der Kardinalsatz, der Satz von der Erwählung. Hier münden »stories« ineinander. Hier beginnt die Geschichte, die »story«, die ich wiedererkenne, wenn ich in anderen Ländern reise, auf anderen Kontinenten, wenn ich verschiedene Teile der Kirche besuche, verschiedene Konfessionen.

Wollen wir in diese Geschichte eintreten? Wollen wir unsere Lebensgeschichte aufs neue in diese »story« einfügen –? uns aufs Neue durch diese »story« überprüfen lassen? Oder wollen wir diese Geschichte nur betrachten? Etwa auch die Jesus-Geschichte nur betrachten? Die biblischen Geschichten sind ja nicht gut für Zuschauer.

Ich möchte mit Ihnen fünf Fragen besprechen über das Eintreten in die »story« Abrahams – die in die Geschichte von Jesus mündet:

1. Ist das überhaupt unsere »story«? Entspricht sie uns? Ist sie uns kongenial? Passen wir in diese Geschichte – läuft sie dem parallel, was wir ohnehin tun? Nein, das tut sie eben nicht; nein, so ist es eben nicht. Es ist zunächst alles ganz fremd in dieser »story«. Keine Kultur, keine politische Position oder Partei ist dieser »story« kongenial. Aber Gott – wenn man überhaupt von ihm redet – Gott wird, solange es die Welt gibt, nach Abraham, Isaak und Jakob benannt werden. Diese Namen sind sein Name geworden. Er ist der Gott dieser Geschichte; der »Gott Abra­hams, Isaaks und Jakobs«, der Gott unserer Väter. Wollen wir in diese Geschichte eintreten?

2. »Aus Glauben« brach er auf. Was ist denn das? Pisteifide – beginnen all diese Sätze der Summierung der großen »story« im Kapitel 11. Was ist denn das? Wie reiht man sich denn ein in diese Geschichte? »Aus Glauben« – ist das die Bestätigung des­sen, was wir schon wissen? Ist es die Verstärkung unserer Ge­fühle? Glaube – ist das die Überhöhung unserer Emotionen? Ist es ein Sich-Aufschwingen? Ein Gehorsam gegenüber der Kirche? Oder gar ein Akzeptieren von Unverstandenem? Ja – es mag dies oder jenes sein oder auch nicht. Ich mag die meisten dieser Antworten nicht; nein, »aus Glauben« heißt Aufbruch, Weggehen von dort, wo wir sind; ausziehen, weiterziehen. Neues finden, Neues suchen, auf Neues hoffen. Im Anderen Neues erwarten; selbst Neuanfänge beginnen. Festungen verlassen, Vorurteile aufgeben, Urteile neu bilden. Ausziehen, um das Erbteil zu emp­fangen.

3. Wohin denn? Wohin sollen wir denn gehen? Wohin sollen wir ausziehen? Zu welchem Neuen denn? Sind wir nicht zu alt, zu erfahren schon, um so etwas zu riskieren? Wohin denn? In das Lang-Ersehnte? In das Paradies? In den Sieg? In den Erfolg? – In die Kirche? Ja, in die Kirche – leicht gesagt! Da sind wir ja längst, und wo ist das Neue? In die ecclesia trium­phans? Nein, es ist viel gewagter. Also wohin? In die terra promissionis. Die aber ist ein fremdes Land, eine terra aliena. Da ist Gott, im frem­den Land! Man kennt es nicht, man kann es nicht beschreiben, nicht fotografieren, nicht definieren – auch nicht theologisch defi­nieren. Man kann nur hingehen. Man kennt es nicht im Voraus. Gott kennt es. Man kennt die Zukunft nicht. Er kennt sie. Man muß Neues explorieren, probieren, riskieren.

4. Ja, wo wird man denn da wohnen? werden Sie fragen. Wenn man es riskiert, wenn man aufbricht – wo denn? In seiner Gegen­wart? Ja, aber die ist unter den Armen und Elenden. In der Kirche? Ja, aber die ist unterwegs; man kann in ihr nicht wohnen, nur laufen. Sie ist kein Hafen, keine Festung. Aber Sie sagen: wohnen wir nicht in festen Häusern, die uns gehören? Haben wir nicht Sakramente und Lehren, die uns stärken? Mag sein, aber das Feste verbindet uns nicht mit der »story« Abrahams und seines Gottes – und einen anderen Gott gibt es nicht – und die Häuser können uns genommen werden. Wer in die Geschichte Gottes eintritt, wohnt in einem Zelt.

5. Können wir in diese »story« eintreten? Können wir da mit­gehen? Wollen wir wirklich da sein, wo des Menschen Sohn keinen Ort hat, wohin er sein Haupt legen kann? Wir sind da­heim in der Diaspora, in der Heimatlosigkeit Gottes. Die Kirche hat ¡a dort nicht sein wollen, sie sträubte sich schon früh gegen den Ruf des Gottes der Zelte. Justin Martyr dachte noch, es könnte etwas ganz Neues kommen; Hippolyt von Rom bestritt das dann in seinen »Chroniken« und Augustin gar lehrte, jetzt schon sei die Zeit des Neuen und Endgültigen. Jetzt baute man das Neue in seine Pläne ein, man schaffte Raum für kleine Über­raschungen und persönliche Ungewißheiten. Aber alles war vom Definitiven umgeben. Es war schon Hippolyt gewesen, der das Bild vom sicheren Hafen gebraucht hatte: nach der Fahrt über das stürmische Meer werden wir uns in der Festung des Hafens der Sicherheit erfreuen. Aber dahin ruft ja der Gott der Zelte nicht! Sie mögen sagen: doch, doch, wir wollen christliche Prin­zipien bewahren helfen, wir wollen nicht gehen lassen, was wir haben! Versuchen Sie es doch! Es wird nicht gehen, das ist nicht die Dynamik der »story« Gottes und Abrahams. Dahin ruft der Gott der Zelte nicht.

Was besagt denn nun diese »story« für die Frage nach der Ein­heit der Kirche, die zum Denk­thema dieser Woche erklärt wurde? Sicher nicht dies, daß wir uns nun für diese oder jene theologische Position entscheiden sollen, daß wir diesem oder jenem Autor nachlaufen sollen – einem progressiven zum Beispiel – oder daß wir mit all unserer Beobachtungsgabe und analytischer Kraft diese biblischen Geschichten betrachten sollten. Nicht betrachten, eintreten! Unsere eigenen Gedanken, die Einzelheiten unserer eigenen Lebens-stories in diese große Geschichte einfügen, mit ihr parallel setzen, sie durch diese überprüfen lassen! Nicht be­trachten, was da erzählt wird über Abraham, Isaak und Jakob; nicht Jesus betrachten oder gar Prinzipien aus ihm ableiten wol­len; nicht das verteidigen, was wir schon wissen und haben und glauben – auf das Neue warten! Es gibt so wenig Menschen in der Welt, die das wagen.

Unser gemeinsames Eintreten in diese »story« würde uns auf eine wunderbare Weise miteinander verbinden. Wir würden viel ver­lieren, aber noch mehr gewinnen. Ja, wie wird denn das werden, wird nicht doch zu viel verloren gehen? Wie wird es denn aussehen, wenn wir es riskieren? Ich sagte Ihnen schon: man weiß das nicht. Man kann diese Zukunft — es ist ja die Zukunft unseres Lebens miteinander und mit Christus – man kann diese Zukunft nicht beschreiben, nicht fotografieren, nicht definieren. Sie ist Teil der »story«, in der wir drinstehen, der »story« Abrahams und Gottes, der »story« beider. Erkennen wir uns gegenseitig in die­ser »story«? Was wir sind, sind wir ja in dieser Geschichte; für andere, füreinander. Erkennen wir uns gegenseitig?

Wollen wir neu in diese Geschichte eintreten? Damit Sie mich nicht mißverstehen: man kann auch leben, ohne ein Christ zu sein, auch glücklich leben; auch nützlich leben. Natürlich kann man das. – Wollen wir in diese Geschichte eintreten? Wohin sollen wir denn sonst gehen?

Der Gott der Zelte ruft. Ihm sei Lob und Ehre und Preis und Anbetung von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

Gehalten in der Kommunitätsmesse in der Theologischen Hoch­schule St. Georgen, 21. Januar 1975.

Quelle: Dietrich Ritschl/Hugh O. Jones, »Story« als Rohmaterial der Theologie, TEH NF 192, München: Chr. Kaiser, 1976, S. 70-73.

Hier der Text als pdf.

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