Karl-Fritz Daiber über die Volkskirche religionssoziologisch betrachtet: „In der beschriebenen Gestalt haben sie nur so lange Bedeutung, wie das Christentum kulturrelevanter Faktor ist, und zwar auf der Ebene des Individuums, der Kleingruppen wie der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Reduziert sich die kulturelle Relevanz des Christentums auf den verschiedenen Sozialebenen, dann kann das Christentum nicht mehr volkskirchliche überleben, sondern nur in gemeinschaftsstiftenden Gruppierungen, die sich durchaus zu gesellschaftlichen Großorganisationen ausgestalten kön­nen, ohne freilich noch eine kulturprägende Bedeutung zu gewinnen ähnlich der, wie sie sich in volkskirchliche Traditionen widerspiegelt.“

Volkskirche 1. Religionssoziologisch (1996)

Von Karl-Fritz Daiber (06.08.1931-25.05.2025)

1. Begriff

Zu Beginn des 19.Jahrhunderts ist Volkskirche eine Programmbegriff, um die Mitte des Jahrhunderts nimmt er zugleich deskriptive Züge an. In der gegenwärtigen Diskussion kann man, ohne daß eine völlig eindeu­tige Trennung möglich wäre, einen eher programmatischen und einen eher deskriptiven Be­griff der Volkskirche erkennen. In beiden Varianten kommt er in Deutschland v.a. innerhalb des Prote­stantismus vor. Er läßt sich schwer in andere Sprachen übersetzen; im Englischen kann er weder durch national church noch durch popular church bzw. people’s church angemessen wiedergegeben werden. Dies weist darauf hin, daß der Begriff Volkskirche keine religionssoziologische Kategorie im strengen Sinn ist, sondern einen hist. Begriff darstellt, der eine bestimmte Sozialverfassung des Christentums v.a. in Deutschland benennt.

2. Merkmale

Als Sozialgestalt des Christentums in Deutschland ist Volkskirche empirisch gesehen durch folgende Merkmale gekennzeichnet:

2.1. Die Mehrheit der Bevölkerung erwartet von der Kirche eine geistliche Begleitung an den wichtigsten Stationen der Biographie (Lebensanfang, Pubertät, Phase der Eheschließung, Trauer und Tod). Träger einer derartigen Kirchlichkeit ist die Familie bzw. die lokale Ge­meinschaft. Formen des religiösen Brauchtums, ja überhaupt der Volksreligiosität verknüpfen sich mit dieser Kirchlichkeit.

2.2. Volkskirchliche Kirchlichkeit ist dadurch bestimmt, daß über die lebenszyklischen Rituale hinaus allenfalls an Schwerpunkten des Kirchenjahres am kirchlichen Leben teilgenommen wird, sonst nur gelegentlich, bei Katholiken regelmäßiger als bei Protestanten.

2.3. Die Motive, mit der Kirche als Volkskirche verbunden zu sein, sind für die Menschen höchst unterschiedlich. Eine religiös-christl. Gestimmtheit darf als Basismotiv angenommen werden. Im übrigen spielen Motive wie das der Traditions-Bejahung, des sozialen Engagements, der Unterstützung einer moralischen Instanz u.a. eine wichtige Rolle. Eine streng religiöse Moti­vation ist nur für eine Minderheit innerhalb der Volkskirche handlungsrelevant.

2.4. Die Volkskirche verfügt über keine klaren Organisationsgrenzen, Formelle Mitgliedschaft und formelle Nichtmitgliedschaft werden höchst relativ erlebt, jedenfalls nicht als unbedingt über das eigene Christsein zureichend Auskunft gebend. Das Christentum hat über einen engeren Kreis von christl. Engagierten hinaus kulturelle Bedeutung.

1.2.5. Die Volkskirche in diesem Sinne ist eine Sozialgestalt des Christentums, in der die christl. Kirche innerhalb der Gesellschaft in den Prozeß öffentlicher Meinungsbildung einbezogen ist.

Die genannten fünf Merkmale lassen sich nicht zuletzt auf zwei hist. Bedingungen zurückfüh­ren: zum einen, daß in den Volkskirchen die flächendeckende religiöse Versorgung der Bevölkerung in der Gestalt von Parochien, seit dem 19.Jh. von örtlichen Kirchengemeinden, sichergestellt ist; zum anderen, daß die Volkskirche, aus den territorialen Staatskirchen hervorgegangen, öffentlich rechtl. organisierte Sozialgestalten des Christentums darstellen, keine Staatskirchen sind, aber staatskirchliche Erbe in hohem Maße verwalten.

3. Zur Typologie

Angesichts derartiger Merkmale der Volkskirche kann gesagt werden, daß nicht nur die dt. ev. Landes­kirchen Volkskirchen darstellen, sondern auch die röm.-kath. Kirche. Man kann weiter davon ausgehen, daß der volkskirchliche Typ nicht nur in Deutschland auftritt, sondern, gewiß in unterschiedlichen Varianten, aber doch mit übereinstimmenden Grundlinien, im gesamten kath. und prot. ge­präg­ten Mittel-, West, Nord- und Südeuropa, also überall dort, wo das Christentum entweder formell Staatskirche war oder jedenfalls einen staatskirchenähnlichen Status innehatte.

Kategorial gefaßt kann Volkskirche unter Anwendung der Kirche-Sekte-Mystik-Typologie von E. Troeltsch (1865–1923) bzw. in der Fassung als Kirche-Sekte-Typologie von M. Weber (1864–1920) dergestalt beschrieben werden, daß sie diejenige Sozialgestalt von Kirche ist, in der anstaltskirchliche Elemente in hohem Maße fortdauern, wobei diese durch freiwilligkeitskirchliche Elemente ergänzt bzw. z.T. überlagert werden. Deutliche Ausprägungen eines Individual­christentums (Mystik im Sinne von E. Troeltsch) bestimmen unter Einfluß von Individualisie­rungstendenzen in modernen Gesellschaften in wachsendem Ausmaß das Bild. Kirche als Institution religiöser Versorgung der Bevölkerung zu verstehen und in Anspruch zu nehmen entspricht anstaltskirchliche Traditionen. Allerdings sind die gegenwärtigen Volkskirchen von einem sol­chen anstaltskirchliche Verständnis nicht mehr ausschließlich geprägt. Vielmehr wird sowohl auf der programmatischen als auch auf der kirchenpraktischen Ebene im Mitgliederverhalten ein Verständnis des Christlichen verwirklicht, das auf bewußter Beteiligung aufbaut, ein klar formuliertes christl. Selbstverständnis fordert und von daher neue Formen der religiösen Gemeinschaftsbildung im Sinne von freiwilligkeitskirchliche Gruppierungen nach sich zieht.

Freiwilligkeitskirchen haben sich insbesondere seit dem 19.Jh. neben den klassischen Volkskirchen gebildet. Die amerikan. Denominationen unterscheiden sich von den europ. Volkskirchen dadurch, daß sie, obwohl sie wie diese religiöse Großorganisationen darstellen, einen freiwilligkeitskirchliche Entstehungshintergrund haben, der sie bis heute prägt. Basisgemeinden mit ihren Anfängen in Mittel- und Südamerika sind ihrem Typus nach freiwilligkeitskirchliche orientiert. Sie verwirkli­chen ein gemeinschaftsbezogenes Christentum mit z.T. deutlichen politischen Schwerpunkt­setzungen.

Die Beobachtung von E. Troeltsch, daß die Sozialgestalten des Christentums durch einen höchst sozialitätsreduzierten, individualisierten Typ zu ergänzen sind, bestätigt sich bei der Analyse volkskirchliche Situationen. Volkskirchen lassen individualisierte Ausdrucksformen des Christ­lichen zu. Für diese ist der Sozialbezug dann nur über eine christl. geprägte Gesamtkultur gegeben.

4. Zukunft

Damit ist das Problem der Zukunft von Volkskirchen angesprochen. In der beschriebenen Gestalt haben sie nur so lange Bedeutung, wie das Christentum kulturrelevanter Faktor ist, und zwar auf der Ebene des Individuums, der Kleingruppen wie der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Reduziert sich die kulturelle Relevanz des Christentums auf den verschiedenen Sozialebenen, dann kann das Christentum nicht mehr volkskirchliche überleben, sondern nur in gemeinschaftsstiftenden Gruppierungen, die sich durchaus zu gesellschaftlichen Großorganisationen ausgestalten kön­nen, ohne freilich noch eine kulturprägende Bedeutung zu gewinnen ähnlich der, wie sie sich in volkskirchliche Traditionen widerspiegelt.

Quelle: EKL3, Bd. 4/11 (1996), Sp. 1199 ff.

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