Von Norbert Lohfink
Kohelet analysiert das menschliche Dasein als Sein in der nur im gleitenden Jetzt gegebenen und im Tod für den Einzelnen beendeten Zeit. Es ist als Glück erfahrbar. Es ist mehr als Versinken ins Nichts, weil es in seiner je eigenen Gestalt aus der Ewigkeit des welttranszendenten, aber in allem Geschehen ausnahmslos wirkenden Gottes entspringt. Sein Tun ist vollkommen. Er richtet auch das Böse. Doch der Mensch kann das Handeln Gottes nicht durchschauen, so daß er es als unberechenbar und amoralisch erfährt. Er weiß zwar, daß es umfassenden Sinn gibt, aber nicht er verfügt über ihn, sondern nur Gott. Er selbst kann sich nur dem anvertrauen, was im jeweiligen Augenblick von Gott her auf ihn zukommt.
Ist das wahr, dann entstehen sehr tiefgreifende hermeneutische Probleme für das normalerweise in der Bibel übliche Reden von Gott und von seinem Handeln in der Welt, vor allem für alles Reden, das man als »heilsgeschichtlich« zu bezeichnen pflegt. Zwar wäre es falsch, Kohelets wegen nun nicht mehr vom Handeln Gottes in der Geschichte, von der Erwählung eines Volks, von persönlicher Beziehung zu Gott, von Gottes weitersagbarem Willen und verheißener Zukunft zu sprechen. Aber solches Sprechen muß sich selbst zugleich so verstehen, daß es hinter die radikale Gott-Welt-Metaphysik Kohelets nicht zurückfällt und mythologisch wird. Wo dieses Sprechen theologisch expliziert wird, muß es auch möglich sein, darüber begrifflich Rechenschaft abzulegen. Die großen Theologen haben dies, wenn auch von anderen Systemen sei es der griechischen, sei es der neuzeitlichen Philosophie ausgehend, auch stets als ihre Aufgäbe angesehen. Wenn man, wie es unter Exegeten Mode geworden ist, Kohelet im Namen der restlichen Bibel mit Etiketten wie »kein persönlicher Gott«, »Leugnung der menschlichen Freiheit«, »Abfall vom heilsgeschichtlichen Denken«, »Verlust des Vertrauens zum Leben« versieht, flüchtet man vor dem Anspruch, der durch dieses Buch ans Denken gestellt wird, und setzt sich dabei der Gefahr aus, das, was man zu verteidigen glaubt, selbst sogar falsch zu verstehen.
Zur radikalen Gott-Welt-Lehre tritt die radikale Diesseitigkeit des Buchs. Kohelet hat sie zwar mit fast dem ganzen AT gemein. Doch gab es, vor allem durch die Vorstellung von der Unterwelt als einem Ort schattenhafter Weiterexistenz, die durch Gedenken der Lebenden und durch Totenopfer gefördert werden könnte, geheime Verschleierungen. Aus dem griechischen Raum drang die Unsterblichkeitslehre platonischen Typs vor und wertete die gesamte materielle Wirklichkeit ab. Apokalyptische Erwartungen, die damals anfingen, konnten, wenn ihre Bildwelt real genommen wurde, ebenfalls den Ernst der Todesgrenze in Frage stellen. Demgegenüber hat Kohelet, auch hierin der Popularphilosophie folgend, den Endcharakter des Tods scharf herausgestellt. Es gibt, von den letzten Büchern des AT und vom NT her, ein legitimes christliches Sprechen vom Jenseits. Doch dürfte Kohelet dadurch nicht einfach ins Unrecht gesetzt sein. Der Tod bleibt das vollständige Ende des in der gleitenden Zeit lebenden Menschen. Christliche Hoffnung aufs Jenseits muß so sein, daß der Endcharakter des Tods nicht verschleiert wird und weiter alles für den Menschen an diesem Leben hängt. Die mittelalterliche Theologie hat dies gesichert durch die Unterscheidung von Status viae und Status termini. Diese besagt, daß mit dem Tod die irdische Zeit mit den immer offenen Möglichkeiten des jeweils nächsten Augenblicks schlechthin beendet ist. Jenes andere Leben, das der Mensch bei Gott zu finden vertraut, kann nur als Frucht oder Versammlung und Endgültigwerden der hiesigen, verwehenden Zeit gedacht werden. Wollte man dies von Kohelets Denken her formulieren, dann dürfte man nicht seine Aussagen über den Tod als Ende für falsch erklären, sondern müßte seine Aussage darüber, daß jedes menschliche Tun zugleich Gottes Tun ist, daß Gottes Tun vollkommen ist, daß alles Geschehen Ewigkeit an sich trägt, durchdenken und vertiefen. Kohelet hat an dieser Stelle nur eine alte mythische Chiffre eingesetzt, und dies nur andeutend: die ewige Wiederkehr aller Dinge. Dieses Kreislaufbild, am Kosmos abgelesen, ist nicht, wie fast alle Ausleger wollen, ein Bild der Verzweiflung, sondern ganz und gar positiv. Es meint die Partizipation der Seienden an dauerndem Sein. Die naturwissenschaftlich überholten, hier aber mitschwingenden Kosmosvorstellungen machen uns den Zugang zu diesem Bereich seines Denkens sehr schwer. Aber wir sollten ihn, wenn von seiner Dialektik von Tod und Leben die Rede ist, nicht aus den Augen verlieren. Dem Tod wird hier jedenfalls nichts von seinem Ernst genommen. Der jeweilige jetzige Augenblick bekommt unendlichen Wert, der aber nur ergriffen werden kann im Vertrauen auf den unbegreiflichen Gott. Es kann kein Jenseits als Legitimation einer Flucht vor der Verantwortung dieses Augenblicks und als Vertröstung eingesetzt werden.
Kohelet also als kritische Instanz gegen die latenten Gefährdungen christlicher Rede! Doch dürfte auch Kohelets eigentliches Unternehmen, seine Destruktion überlieferter Formeln, die dem Menschen die Kenntnis der Zukunft vorspiegeln, seine Einladung, sich wieder ins Offene des jeweils nächsten Augenblicks zu stellen, einfach in Gottes Verfügung, bleibende Bedeutung haben. Die analoge Übersetzung für unsere Zeit liegt oft so nah. Hier ist vor allem auch darauf hinzuweisen, wie viele Bezüge sich zu Jesus von Nazaret, der wie ein Wanderprediger auftrat, aufweisen lassen. Auch er hat in vielen Gleichnissen die Plausibilitäten seiner Zuhörer in Frage gestellt. Oder handelt Jesu Weinbergsbesitzer (= Gott) etwa entsprechend den moralischen Erwartungen, wenn er dem Arbeiter einer Stunde genauso viel Lohn gibt wie dem, der die Hitze des Tages getragen hat? Zu diesem Gleichnis Jesu enthält ausgerechnet der Midrasch Kohelet ein Gegengleichnis, das moralisch begründet, warum der Weinbergsbesitzer so handelte. Da werden also Kohelet und Jesus zugleich zur Ordnung gerufen! Aber Jesu wie Kohelets Gott läßt seine Sonne nun einmal nicht nur über den Guten, sondern auch über den Bösen aufgehen. Die von Jesus proklamierte Herrschaft Gottes macht die Welt genauso unberechenbar und stellt den Menschen genauso in den stets überraschenden Augenblick wie Kohelets Wort. Auch in ihr kann man, ebenso wie bei Kohelet, nicht immer gesetzestreu sein: Jesu Gottesfurcht bringt ihn dazu, das Gottesgebot des Sabbats zu brechen. Diese vermehrbaren Analogien zwischen Kohelet und Jesus sind noch kaum beachtet worden. Analysiert man sie, dann zeigt sich in aller Analogie nun allerdings auch eine Differenz. Kohelet bleibt der Lehrer, der aufdeckt und zeigt. Wenn er alles gesagt hat, muß er seine Schüler wieder ziehen lassen, und sie müssen in einer Gesellschaft, deren Trug sie durchschauen, allein von Augenblick zu Augenblick ihren Weg suchen. Gehen sie in den Tempel oder in die Synagoge, dann vernehmen sie zwar die Tora Moses und das Wort der Propheten, die Gottes Willen für die Gesellschaft aufzeigen und für seine Durchsetzung eintreten. Aber weder die Priester leben nach dem, was sie sagen, noch ist sonst jemand sichtbar, der Gottes Herrschaft wirklich durchsetzen könnte. Jesus deckt ebenso auf wie Kohelet, zeigt dann aber auch auf sich selbst und kann sagen, man solle ihm nachfolgen. Dadurch schafft er eigentlich erst die Möglichkeit, die Sicherungen der alten Gesellschaft loszulassen und wirklich im jeweiligen Augenblick der Herrschaft Gottes zu leben. Kohelet mußte noch sagen, auch der Gerechte wisse nicht, ob er von Gott geliebt oder verschmäht sei. Wer Jesus nachfolgt, weiß, daß er geliebt ist, auch wenn er ein Sünder ist. Erst in diesem Zusammenhang dürfte man in bezug auf Kohelet sagen, daß er zum Alten Testament gehört.
Quelle: Norbert Lohfink, Kohelet, NEB 1, Würzburg: Echter, 62009, S. 14-17.