Über den Pfarrer Walter Höchstädter (Hitlers willige Vollstrecker)
Von Daniel Jonah Goldhagen
Sicherlich haben nicht alle Kirchenmänner, Generäle, Juristen und andere Führungskräfte die Vernichtung der Juden befürwortet. Einige wollten sie nur deportiert sehen, andere wünschten deren Sterilisierung, wieder andere wollten den Juden »nur« ihre Grundrechte nehmen. Aber auch solchen Ansichten liegt eine eliminatorische Idealvorstellung zugrunde. Wo sind die Belege für einen anderen Schluß?
Die folgenden Worte von Pastor Walter Höchstädter, der im Sommer 1944 als Lazarettgeistlicher in Frankreich tätig war, beleuchten schlaglichtartig, welche Macht das kognitive Modell des Antisemitismus in Deutschland selbst über jene hatte, die mit bestimmten Aspekten des eliminatorischen Programms nicht einverstanden waren. Höchststädter druckte Anklage und Einspruch heimlich und ließ tausend Exemplare durch die Feldpost an Frontsoldaten verschicken:
»Wir leben in einem Zeitalter, das nicht minder von Wahnideen und Dämonen durchtobt ist als das Mittelalter. Statt des Hexenwahns feiert in unserem angeblich so ›aufgeklärten‹ Zeitalter der Judenwahn seine Orgien. Der Judenwahn, der schon im Mittelalter furchtbar getobt hatte, ist heute in sein akutes Stadium getreten. Da hat die Kirche, die Gemeinde Jesu Christi, zu bekennen. Wenn sie es nicht tut, dann hat sie versagt, genauso wie damals zur Zeit der Hexenverfolgungen. Das Blut von Millionen hingemordeter Juden, von Männern, Frauen und Kindern schreit heute gen Himmel. Da darf die Kirche nicht schweigen. Sie darf da nicht sagen, die Regelung der Judenfrage sei eine Angelegenheit des Staates, wozu er auf Grund von Röm. 13 ein Recht habe. Die Kirche darf auch nicht sagen, in der heutigen Zeit vollziehe sich eben die gerechte Strafe für die Sünden der Juden … Es gibt keinen gemäßigten – christlichen – Antisemitismus. Auch dann nicht, wenn er einleuchtend mit vernünftigen (etwa nationalen) Gründen dargelegt wird, oder gar mit wissenschaftlichen (sage scheinwissenschaftlichen) Gründen. Auch der Hexenwahn wurde einst von Kapazitäten der theologischen, juristischen und medizinischen Fakultäten wissenschaftlich begründet. Der Kampf gegen das Judentum kommt aus derselben trüben Quelle wie einst der Hexenwahn. Das Suchen nach dem ›Sündenbock‹ hat auch die heutige Menschheit nicht verlernt. Darum fahndet sie nach allerlei Schuldigen, den Juden, den Freimaurern und überstaatlichen Mächten. Das ist der Hintergrund aller Haßgesänge unserer Zeit …
Wer gibt uns das Recht, die Schuld einseitig den Juden zuzuschieben? Einem Christen ist das verboten. Ein Christ kann kein Antisemit sein, auch kein ›gemäßigter‹ Antisemit. Der Einwand, daß ohne einen ›gesunden‹ Antisemitismus als Reaktion die Verjudung des Volkslebens eine schreckliche Gefahr würde, stammt aus einer glaubenslosen und rein säkularen Schau der Dinge, die für den Christen überwunden sein sollte …
Die Kirche hat aus der Liebe zu leben … Wehe ihr, wenn sie das nicht tut! Wehe ihr, wenn sie durch Schweigen oder durch allerlei zweifelhafte Ausflüchte an den Haßausbrüchen der Welt mitschuldig wird! Wehe ihr, wenn sie sich aus der Sphäre des Hasses stammende Worte und Parolen … zu eigen macht!«
In den Annalen der deutschen Geschichte während der NS-Zeit ist Höchstädters Brief mit seiner ausdrücklichen und uneingeschränkten Ablehnung des eliminatorischen Antisemitismus ein außerordentlich seltenes und leuchtendes Beispiel. Denn nahezu alle der wenigen Proteste und Bittschriften, in denen sich Deutsche gegen die Behandlung der Juden wandten, waren selbst von einem Antisemitismus durchtränkt, der irrational in seinen Überzeugungen und grausam in seinen praktischen Vorschlägen war und der nur dann als »gemäßigt« erscheint, wenn man ihn mit der mörderischen Variante vergleicht, der die Nationalsozialisten und die ganz gewöhnlichen Deutschen, die ihnen halfen, anhingen. Nahezu alle, die sich gegen die körperlichen Mißhandlungen und Grausamkeiten wandten, die Deutsche an Juden verübten, waren selbstverständlich davon überzeugt, daß es eine »Judenfrage« gab, daß die Juden ein Stamm von Übeltätern waren, die Deutschland Schaden zufügten, und daß man eine »Lösung« finden mußte, um ihre schädliche Anwesenheit erheblich zu reduzieren und ihren Einfluß auszuschalten. Auch diese »Kritiker« boten »Lösungen« an, allerdings »zivilisierte«, unblutige und ordentliche, die statt der gewaltsamen und grausamen Methoden der Nationalsozialisten praktiziert werden sollten. Auch diese »Kritiker« wollten die vermeintliche Macht der Juden beschneiden, wollten sie aus vielen Lebensbereichen vertreiben, ihnen den Zugang zu öffentlichen Ämtern verwehren und ihnen weitere Einschränkungen auferlegen, damit sie die Macht einbüßten, Deutschen Schaden zuzufügen. Der Antisemitismus sollte »anständig«, »gemäßigt«, »geistig«, »ethisch« und »heilsam« sein, wie es sich für eine zivilisierte Nation gehöre. So mahnte der Bischof von Linz, Johannes Maria Gfoellner, die Nationalsozialisten in einem Hirtenbrief von 1933: »Will darum der Nationalsozialismus nur diesen geistigen und ethischen Antisemitismus in sein Programm aufnehmen, so ist er durch nichts daran gehindert.«
Seid anständige, gemäßigte, geistige und ethische Antisemiten, beseitigt die Juden, aber tötet sie nicht: So lautete ausgesprochen oder stillschweigend die Maxime fast aller dieser nicht sehr zahlreichen Einsprüche, die Deutsche gegen den systematischen Mord ihrer Landsleute an den Juden erhoben.
Darüber war der unbekannte Pastor Höchstädter bestürzt. Für ihn entsprang die Verfolgung der Juden derselben trüben Quelle, aus der der mittelalterliche Hexenwahn hervorgegangen war. Den Anschuldigungen, die von Deutschen innerhalb und außerhalb der Kirche gegen die Juden erhoben wurden, lagen Phantasmagorien zugrunde. Mit Nachdruck hat dieser Pfarrer die in Kirchen und Widerstandskreisen vertretene Ansicht zurückgewiesen, man benötige einen »gemäßigten« und »heilsamen« Antisemitismus. Antisemitismus sei, so stellt er knapp und unmißverständlich fest, in jeder Form ein radikales Übel, ein bösartiges Lügengespinst. Dies macht Höchstädters Appell zu einem so einzigartigen Dokument. Ich kenne nur sehr wenige Stellungnahmen von NS-Gegnern, die die in Deutschland allgegenwärtigen antisemitischen Auffassungen als gefährlich und falsch, als durch und durch unwahr, als wahnsinnig, als ungeheuerliche Zwangsvorstellungen verdammten, wie es Höchstädter in seinem schmerzerfüllten Brief tat. Er forderte die Geistlichkeit auf, sich zu besinnen, aus ihrem Wahn zu erwachen, angesichts des millionenfachen Mordes an den Juden ihr Schweigen zu beenden. »Darum seid nüchtern!« lautet die Überschrift, die Höchstädter seinem Appell gegeben hat.
Wie einzigartig Höchstädters cri de coeur in seiner Nüchternheit, seiner »Unnormalität« und auch seiner Hilflosigkeit ist, wird deutlich, wenn man ihn neben die antisemitischen Äußerungen der Bischöfe, Kirchenführer und anderer bekannter Kirchenmitglieder stellt – etwa neben die Bemerkung von Pastor Martin Niemöller, des berühmten NS-Gegners, die Juden vergifteten alles, was sie berührten; oder neben die von Bischof Dibelius überlieferte Hoffnung, die jüdische Gemeinde würde aufgrund ihrer niedrigen Geburtenrate aussterben und Deutschland so von ihrer schädlichen Gegenwart befreien; oder neben die Versicherung von Bischof Wurm, er »bestreite mit keinem Wort« das Recht des Staates, die Juden als ein gefährliches Element zu bekämpfen, das auf »religiösem, sittlichem, literarischem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet« zersetzend wirke; oder neben die Äußerung von Bischof August Marahrens, mit der er nach dem Krieg, im August 1945, sein Bekenntnis der Schuld, nicht für die Juden eingetreten zu sein, ergänzte: »Wir mögen im Glauben noch so sehr von den Juden geschieden sein, es mag auch eine Reihe von ihnen schweres Unheil über unser Volk gebracht haben, sie durften aber nicht in unmenschlicher Weise angegriffen werden.«
Wie betört Marahrens und alle anderen, die diesen »ethischen Antisemitismus« teilten, selbst nach dem Krieg noch waren, zeigt jene bischöfliche Bemerkung, eine humanere Züchtigung hätte wohl ausgereicht. Besonders auffallend ist der Kontrast zwischen Höchstädters Appell und der gemeinsamen Erklärung der Landeskirchen von Mecklenburg, Thüringen, Sachsen, Hessen-Nassau, Schleswig-Holstein, Anhalt und Lübeck vom 17. Dezember 1941, die den Ausschluß aller jüdischen Konvertiten aus der Kirche, strengste Maßnahmen gegen die Juden und ihre Verbannung aus Deutschland forderte. Zum Zeitpunkt dieser Erklärung war der Massenmord an den sowjetischen Juden bereits im Gang, die Erklärung ist also ein in der Geschichte des Christentums vielleicht einzigartiges Dokument, nämlich die kirchliche Billigung des Völkermords. Selbst wenn diese führenden Kirchenmänner nicht gewußt hätten, daß die Juden in den sicheren Tod deportiert wurden (was höchst unwahrscheinlich ist, da die Informationen über die Massenmorde auch unter den Kirchenoberen bereits weit verbreitet waren), wäre diese Erklärung ein für die moderne Geschichte der christlichen Kirchen seltenes und vielleicht einzigartiges Dokument – ein kirchlicher Aufruf an einen tyrannischen und ungeheuer brutalen Staat, ein ganzes Volk noch härter zu behandeln und ohne jede Mäßigung gegen es vorzugehen. Diese Kirchenmänner nahmen die Verfolgung der Juden nicht nur stillschweigend hin, sondern forderten sogar aus eigener Initiative nicht nur strenge, sondern strengste Maßnahmen. Damit können nur solche gemeint sein, die über das, was die Juden bis dahin schon hatten erleiden müssen, noch hinausgingen; Maßnahmen also, die die Juden noch tiefer herabwürdigen und ihr Leiden noch vergrößern mußten. Ein bedeutender Teil der evangelischen Kirchenführung Deutschlands erhob gemeinsam die Stimme und äußerte sich kaum anders als die Nationalsozialisten selbst. Zweifellos meinte Höchstädter diese kirchliche Geisteshaltung, als er in seinem Appell warnte: »Wehe ihr, wenn sie sich aus der Sphäre des Hasses stammende Worte und Parolen … zu eigen macht.«
Wenn Nachgeborene über das Dunkel nachdenken, das in Deutschland während der NS-Zeit herrschte, wird ihnen Höchstädters Brief wie ein strahlendes Licht erscheinen; er erinnert an den Vers aus dem Kaufmann von Venedig: »Wie weit die kleine Kerze dort ihre Strahlen wirft! So scheint eine gute Tat in einer bösen Welt.« Aber in der ungeheuren antisemitischen Finsternis, die sich über Deutschland gelegt hatte und die auch die Kirche umfing, war Höchstädters Aufruf nur eine schüchterne Flamme der Vernunft und der Menschlichkeit, die im geheimen in einer entlegenen Ecke des besetzten Frankreich entzündet wurde, ein stilles, kaum sichtbares Licht.
Daß Höchstädter in seinem prinzipiellen Dissens so einsam war, zeigt, daß wir uns unbedingt näher mit den christlichen Kirchen befassen müssen, wenn wir das Wesen des Antisemitismus in NS-Deutschland verstehen wollen. Die Untersuchung von Kirchen und Geistlichkeit ist insofern aufschlußreich, als sie ja ein weites Geflecht nichtnationalsozialistischer Institutionen bildeten und als sich dort reichhaltiges Quellenmaterial erhalten hat, aus dem sich die Haltung der Kirchen zu den Juden, zu ihrer Verfolgung und Vernichtung erkennen läßt. Hinzu kommt, daß dieses Material vor dem Hintergrund der christlichen Morallehren und der komplexen Geschichte der Beziehungen zwischen Christen und Juden von besonderem Gewicht ist.
Quelle: Daniel Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust (Siedler, 1996).