Ulrich Peter über Günther Dehn (1882-1970): „Dagegen sind Dehns Studien aus den zwanziger Jahren über die religiöse Lage der großstädtischen Arbeiterjugend weitgehend verges­sen. Der Pionier empirischer Religionssoziologie hatte hierzu mehrere beeindruckende Studien publiziert, die auf der Befra­gung mehrerer tausend Berliner Lehrlinge basierten.“

Günther Dehn

Geb. 18. 4. 1882 in Schwerin; gest. 17. 3. 1970 in Bonn

Von Ulrich Peter

Günther Dehn wurde am 18. April 1882 in Schwerin geboren. Sein Vater Karl Dehn war Oberpostdirektor und seine Mutter Kathinka die Tochter des Stettiner Postdirek­tors von Groß. Dehn wuchs in die­ser bürgerlichen und nicht sehr kirchlichen Beamtenfamilie auf. Er absolvierte das Gymnasium und bestand im Juli 1900 das Abitur in Konstanz, wohin sein Vater 1895 versetzt worden war. Der »humanistisch-anti­christlich« denkende Dehn begann in Berlin ein Studium der Philologie, das er in Halle und Bonn fortsetzte. Unter dem Einfluß eines Kommilitonen zu »positiver Gläubigkeit be­kehrt«, studierte er in Bonn auch Theologie. Bestimmend für sein Interesse waren die Lektüre Kierkegaards und ein inten­sives Bibelstudium. Die letzten Semester, jetzt ausschließlich in Theologie, absolvierte Dehn wieder in Berlin. 1906 bestand er dort das erste theologische Examen und 1908 das zweite. Von 1909 bis zu seinem Ausscheiden am 1. Oktober 1911 war er Inspektor des Domkandidaten-Stifts in Berlin. Danach trat er die 2. Pfarrstelle der Reformationsgemeinde in Berlin-Moabit an. 1915 heiratete Dehn Luise Lahusen, die Tochter des Berliner Generalsuperintendenten, eines konservativen Kirchenpoliti­kers.

Er kam als Pfarrer im Berliner proletarischen Norden und, bewegt durch die Gedanken der Begründer des religiösen Sozialismus Christoph Blumhardt, Hermann Kutter und Leon­hard Ragaz, zur sozialen Frage. Dehn suchte bereits vor dem Ersten Weltkrieg Kontakt zu den »Religiös-Sozialen« in der Schweiz. Er war Abonnent ihres Organs Neue Wege, hatte in dem Nachbarland Hermann Kutter gehört und ihn dort im Januar 1911 besucht.

Die Versöhnung von Kirche und Arbeiterschaft war Dehns Hauptziel. In seiner Gemeinde initiierte er mit (allerdings ausschließlich männlichen) Arbeiterjugendlichen eine in Ber­lin bis dahin beispiellose Jugendarbeit, aus der viele spätere religiöse Sozialisten hervorgingen. Einer von ihnen war Bern­hard Göring, nach 1945 zweiter FDGB-Vorsitzender (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund in der DDR).

Im Februar 1919 gab Dehn in Moabit den Anstoß für die Grün­dung der ersten Organisation religiöser Sozialisten in Berlin, des »Bundes sozialistischer Kirchenfreunde«, der Ende 1919 in den »Bund religiöser Sozialisten« (BRSD) umgewandelt wurde. Auf dem ersten Kongreß des BRSD, der sich mitt­lerweile auf ganz Preußen ausgedehnt hatte, wurde Dehn 1921 in den Organisationsausschuß gewählt.

In fast allen Kirchengeschichtsdarstellungen wird behauptet, daß Dehn, der seit 1919 die dialektische Theologie Karl Barths rezipierte, sich danach vom religiösen Sozialismus distanziert habe. Dehn blieb tatsächlich bis 1933 religiöser Sozialist und erneuerte seine Mitgliedschaft in den fünfziger Jahren. Auf der Meersburger Tagung 1924, die die Fusion der verschiedenen regionalen Bünde zur »Arbeitsgemeinschaft der religiösen So­zialisten Deutschlands« zum Ergebnis hatte, wählte man Dehn in den Arbeitsausschuß. Er gehörte auch der »Bruderschaft sozia­listischer Theologen« an. Dehn war noch im September 1928 so fest im Moabiter BRSD verankert, daß er als »Auskunfts­person« für diesen bei der Kirchenwahl in der Reformations­gemeinde fungierte. Seit September 1931 gehörte Dehn, inzwischen in Halle lebend, zur dortigen Ortsgruppe des BRSD, die Pfarrer Johannes Jänicke leitete.

Von März 1920 (als die Republik durch den reaktionären Kapp-Putsch bedroht wurde) bis November 1922 war Dehn außerdem Mitglied der SPD. Was veranlaßte einen Pfarrer einer theologisch wie politisch konservativen Gemeinde dazu, sich der »Partei der vaterlandslosen Gesellen« anzuschließen? Seine Zugehörigkeit zur SPD erklärte er damit, er habe in der religiös-sozialen Bewegung gestanden und den Arbeitern sei­ner Gemeinde zeigen wollen, daß er auf ihrer Seite sei. In einem Schreiben an seinen Schwiegervater Lahusen, Mitglied des Preußischen Herrenhauses, erläuterte er seine Entschei­dung für die SPD ausführlich. Erstens habe die SPD in den Kriegsjahren die bessere Politik betrieben, zweitens sei über diese Welt Gottes Gericht gekommen und daraus müsse ge­lernt werden. Im Gegensatz zu vielen anderen religiösen Sozialisten setzte Dehn allerdings keine großen Erwartungen in die SPD oder in eine »Mission der Arbeiterschaft«. »Ich eifere nicht um die Seele der Arbeiterschaft. Wenn Gott es will, kann er ihr täglich das Evangelium schenken, und wenn er es nicht will, so kann die ganze Pastorenschaft in die sozialdemokrati­sche Partei eintreten, es wird doch alles bleiben, wie es war. Ich vertrete meine Meinung lediglich um des Zwanges der aufgedämmerten Wahrheitserkenntnis willen«.

Dehn wurde von der Moabiter SPD bereits für die Tiergartener Bezirksverordnetenwahl am 20. Juni 1920 aufgestellt. Aber der als »Nachrücker« gewählte Dehn zog nicht mehr ins Parla­ment ein, da er die SPD bald wieder verließ. Er war es leid, in der Partei als »Vorzeige-Pas­tor« eingesetzt zu werden. »Mein Eintritt in die Partei hatte sich (…) als Mißgriff erwiesen«, schrieb er später.

Nach jahrelangen Auseinandersetzungen mit seinem deutsch­völkischen Amtskollegen Karl Jakubski verließ Dehn, im Dezem­ber 1930 durch den preußischen Kultusminister und religiösen Sozialisten Adolf Grimme zum Professor für praktische Theo­logie in Halle berufen, die Reformations-Gemeinde. Hier kam es zu den sogenannten »Hallenser Krawallen«, die als »Fall Dehn« Geschichte machten. Am 6. November 1928 hatte Dehn in der Magdeburger Ulrichskirche einen Vortrag zum Thema »Kirche und Völkerversöhnung« gehalten, in dem er das Verhältnis der Christen zum Krieg behandelte und Helden­denkmäler in evangelischen Kirchen kritisierte. Dehns Rede wurde durch die Rechtspresse verzerrt. Ihm wurde unterstellt, er habe die »im Weltkrieg gefallenen Helden als Mörder be­schimpft«. Für den deutschnationalen, militaristisch ausge­richteten Mehrheits-Protestantismus war dies ein Sakrileg. Als Dehn 1930 nach Heidelberg berufen werden sollte, lehnte ihn die theologische Fakultät deshalb ab. In Halle, zwei Jahre nach Dehns inkriminiertem Vortrag, machten die rechtsradikalen Studen­ten, angeführt vom NS-Studentenbund, gegen ihn mobil und sprengten seine Lehrveranstaltungen. Studenten und theo­logische Fachschaft forderten seine Abberufung und drohten im Falle der Nichtbefolgung mit dem Exodus der Studenten­schaft aus der Hallenser Universität. Dehn veröffentlichte in einer Broschüre die Vorgänge in Halle, woraufhin der Konflikt weiter eskalierte. Fakultät und Senat rückten von Dehn ab, der nur durch den Protest liberaler Teile der Theologenschaft und die Standhaftigkeit der preußischen SPD-Regierung im Amte bleiben konnte. Nach dem »Preußenschlag« des Reichskanzlers Franz von Papen, der Absetzung der sozialdemokratisch ge­führten preußischen Regierung am 20. Juli 1932, wurde Dehn sofort beurlaubt und 1933 als politisch unzuverlässig aus dem Staatsdienst entfernt. Er kehrte daraufhin nach Berlin zurück als Hilfsprediger in der Gemeinde »Zum Heilsbronnen« in Schöneberg.

Früh in der »Bekennenden Kirche« (BK), jenem Teil der evangelischen Kirche, der auf Distanz zur Diktatur ging, enga­giert und Leiter der BK im »Heilsbronnen«, war er von 1935 bis 1942 Dozent an der von der BK illegal betriebenen Kirch­lichen Hochschule Berlin. Zeitweise gehörte er zur theo­logischen Prüfungskommission, aus der er auf Druck kon­servativer BK-Kreise – eine Spätfolge von »Halle« – wieder ausscheiden mußte. Am 9. Mai 1941 verhaftet, wurde Dehn im Dezember 1941 in einem Sondergerichtsprozeß gegen den Lehrkörper der Kirchlichen Hochschule zu einem Jahr Haft verurteilt, die er bis zum 3. Juli 1942 in Moabit, Tegel und im Polizeigefängnis Alexanderplatz »absaß«, und es wurde ihm seine Pension aberkannt. Durch Vermittlung des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm erhielt Dehn 1942 eine Stelle als Pfarrverweser in Ravensburg, die er bis 1946 ausübte. Im selben Jahr wurde Dehn als Ordinarius für praktische Theologie nach Bonn berufen. Hier blieb er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1952.

Dehn ist Autor eines umfangreichen Schrifttums. Seine Bibelaus­legungen und seine Predigtmeditationen sind Ausdruck seiner von Karl Barth beeinflußten »Theologie des Wortes«. Dagegen sind Dehns Studien aus den zwanziger Jahren über die religiöse Lage der großstädtischen Arbeiterjugend weitgehend verges­sen. Der Pionier empirischer Religionssoziologie hatte hierzu mehrere beeindruckende Studien publiziert, die auf der Befra­gung mehrerer tausend Berliner Lehrlinge basierten.

Bizer, E.: »Der Fall Dehn«, in: Schneemelcher, W. (Hg.): Festschrift für Günther Dehn zum 75. Geburtstag. Neukirchen 1957. – Peter, U.: Der Bund der religiösen Sozialisten in Berlin von 1919 bis 1933. Geschichte – Struktur – Theologie und Politik. Bern, Frankfurt, Berlin 1995.

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