Eberhard Schockenhoff über Versöhnung: „Auch Gott vergibt den schuldig Gewordenen nicht anstelle derer, die sie durch ihr Unrecht-Tun verletz­ten; vielmehr heilt Gott durch sein Erbarmen die durch die menschliche Sünde ge­störte Beziehung zwischen ihm und den Menschen, um in der Folge zwischen­menschliche Versöhnung zu ermöglichen.“

Versöhnung

Von Eberhard Schockenhoff (1953-2020)

Die Tragweite des christl. Liebesgebots zeigt sich neben dem Gebot der Feindesliebe und den Mahnungen zum Gewalt- u. Racheverzicht v.a. in der Aufforde­rung zu einer Grundhaltung der Versöhnlichkeit und einer unbegrenzten Verge­bungsbereitschaft. Während die Bewertung des Verzeihens in der antiken Ethik von wenigen Ausnahmen abgesehen der stoischen Maxime folgte, dass der Weise alle erlittenen Beleidigungen u. Schmähungen im Gedächtnis bewahrt und nichts ver­zeiht, fordert Jesus von seinen Jüngern, denen bedingungslos u. ohne Einschrän­kung zu vergeben, die an ihnen schuldig werden. Auf die Frage des Petrus, wie häufig er dem Bruder, der sich ihm gegenüber verfehlte, verzeihen muss, präzisierte Jesus: »Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal« (Mt 18,22). Er weist damit jede Orientierung an einer Grenze zurück, jenseits derer die Verpflichtung zu einer ver­söhnlichen Grundeinstellung gegenüber dem Nächsten erlischt. Vielmehr sollen die Jünger Jesu in grenzenloser Vergebungsbereitschaft gegenüber allen Menschen die Vollkommenheit seines himmlischen Vaters nachahmen, der seine Sonne über Bösen u. Guten aufgehen lässt (vgl. Mt 5,45). Die Dringlichkeit der zwischenmenschlichen Versöhnung wird auch in der Mahnung ersichtlich, sich »zuerst« mit dem Bruder zu versöhnen, bevor jemand die eigene Opfergabe zum Altar trägt (vgl. Mt 5,23f).

Obwohl die Forderung nach einer unbegrenzten, einseitigen Versöhnungsbereitschaft über das allen zumutbare Maß vernünftiger Humanität u. rationaler Konfliktlösungsbereit­schaft hinausgeht, lassen sich Gründe angeben, warum Vergeben-Können eine un­verzichtbare Einstellung gegenüber den anderen ist. In dem Augenblick, in dem Vergebung als einseitiger Schritt zur Versöhnung gewährt wird, weiß der Vergebende noch nicht, ob seine Initiative beim Gegenüber auf Resonanz stößt, wie es ein auf Rezipro­zität angelegtes Deeskalationsmodell als erwartbare Reaktion unterstellt. Doch ver­bindet sich die Erstinitiative der Vergebung, auch wenn sie aus unbegrenzter Bereit­schaft zur Wiederholung erfolgt, mit der Hoffnung, die unversöhnliche Abwehrhand­lung des anderen aufbrechen und ihn zur produktiven Aufarbeitung der Konflikte u. Interessengegensätze in einem versöhnten Miteinander bewegen zu können.

Den Auftrag zur Versöhnung bildet die Bereitschaft, eine neue gedankliche Beziehung zu demjenigen einzunehmen, der an uns schuldig wurde. Doch beschränkt sich Versöhnung nicht darauf, dass wir dem anderen im Herzen nicht mehr böse sind und ihm das Unrecht nicht mehr übel nehmen, das er uns zufügte. Die gedankliche Wiederan­erkennung des anderen stellt nur den Beginn eines Prozesses dar, der nach einer äußeren Wiederanknüpfung der Beziehung und einer in der Sprache der Vergebung geäußerten Versöhnung verlangt, in der eine neue Wertschätzung des Gegenübers sichtbar wird.

In den Analysen ihres Werkes »Vita activa oder Vom tätigen Leben« beschrieb Hannah Arendt diese Initiative zur Versöhnung als ein schöpferisches Handeln, in dem die endliche Freiheit des Menschen an das Vorrecht der göttlichen Liebe rührt, Nicht-Seiendes hervorzubringen. In der bedingungslos gewährten Versöhnung ereignet sich der Höchstfall schöpferischer Freiheit, weil die Versöhnungsbereitschaft zwar durch das erlittene Unrecht veranlasst wird, aber dennoch eine unvorhersehbare Antwort darauf dar­stellt, die beide Seiten – dem, der Versöhnung anbietet und dem, der in sie aufgenommen wird – von den zerstörerischen Folgen des Unrechts befreit. Die Fähigkeit, vergeben zu kön­nen und die Bereitschaft zur Versöhnung sind gemäß Ahrendts Analysen das einzige Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit der Folgen unserer aneinander geübten Verfehlungen ebenso, wie das Versprechen-Können das einzige Heilmittel gegen die Ungewissheit über unsere zukünftigen Absichten ist.

Die Aufforderung Jesu zur grenzenlosen Vergebungsbereitschaft will ein unversöhntes Festhalten-Wollen an dem erlittenen Unrecht überwinden. Damit ist jedoch keineswegs ein Vergessen von Unrechtserfahrungen gemeint, das im Gegensatz zu der anamnetischen Solidarität stünde, die dem Andenken der Leidenden und der Opfer des Unrechts zu erweisen ist. Dies gilt innerhalb einer christl. Gedächtniskul­tur schon deshalb, weil man nur das Unrecht verzeihen kann, das einem selbst zuge­fügt wurde. Fremdes Leid stellvertretend für die Opfer zu vergeben, die dazu (noch) nicht bereit sind, ist nicht der Sinn des biblischen Versöhnungsauftrages. Auch Gott vergibt den schuldig Gewordenen nicht anstelle derer, die sie durch ihr Unrecht-Tun verletz­ten; vielmehr heilt Gott durch sein Erbarmen die durch die menschliche Sünde ge­störte Beziehung zwischen ihm und den Menschen, um in der Folge zwischen­menschliche Versöhnung zu ermöglichen. Wird das generelle Bedingungsverhältnis zwischen göttlichem u. menschlichem Tun richtig gedeutet, kann die göttliche Vergebung für die Schuld der Menschen nur der Ermöglichungsgrund, nicht jedoch der Ersatz für die Versöhnung unter den Menschen sein.

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