Katharina Staritzs Erinnerungen an das KZ Ravensbrück, Des großen Lichtes Widerschein (1953): „Ich habe mich aber nicht zu diesen Freiwilligen gemeldet. Wenige Wochen später wurde der ganze Judenblock nach Auschwitz verlegt, das bedeutete: in den Tod. Es war gerade in der Freistunde, dass sie abmarschierten. Das ganze Lager machte um sie Spalier, rief und winkte ihnen zu. Aber ich habe damals nicht die Hand gehoben. Diese beiden Dinge sind für mich wie ein Verrat an meinen Schwestern, der mich beschämte und noch heute bedrückt.“

Nach ihrem Rundschreiben an die Breslauer Pfarrer zur gottesdienstlichen Solidarisierung mit Gemeindegliedern, die ab September 1941 den „Judenstern“ zu tragen hatten und dem Hetzartikel „Frau Knöterich als Stadtvikarin“ vom 18. Dezember 1941 in der SS-Zeitung „Das schwarze Korps“ wurde Katharina Staritz Anfang März 1942 in Marburg verhaftet und schließlich bis Mai 1943 im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück inhaftiert. Kurz vor ihrem Tod infolge einer Tumorerkrankung hatte sie ihrer Schwester Charlotte ihre Erinnerungen aus der Gefangenschaft in Ravensbrück diktiert. 1953 wurde diese dann von der Evangelischen Frauenhilfe unter dem Titel „Des großen Lichtes Widerschein“ veröffentlicht:

Des großen Lichtes Widerschein. Berichte aus der Gefangenschaft

Von Katharina Staritz

1. Aufl. o. J. [1953]

Druck: Evangelische Frauenhilfe in Deutschland, Münster i. Westf.

Ein Jahr des Herrn. Vorwort

Von Gerda Drewes

Die Vikarin Katharina Staritz nannte die Zeit ihrer Gefangenschaft von März 1942 bis Mai 1943 „ein Jahr des Herrn“. Sie wollte damit wohl sagen, daß sie diese Zeit als eine erfahren hat, die Gott in besonderer Weise gehören sollte. Das geschieht immer so, wenn der Mensch unter der Gewalt fremder Mächte auf die Freiheit eigener Lebensgestaltung verzichten muß und dadurch die Grenzen seines Menschseins oft erst recht erkennt.

Katharina Staritz war 38 Jahre alt, als sie im März 1942 auf Befehl der Gestapo in Marburg verhaftet wurde. Grund ihrer Verhaftung war ein Rundschreiben an die Pfarrer der Stadt Breslau und Umgebung mit der Aufforderung, die Gemeinden zur besonderen Liebe zu den jüdischen Christen anzuhalten, die seit kurzem den Judenstern tragen mußten.

Sie war Leiterin der schlesischen Hilfsstelle des Büro Grüber, Berlin, das die kirchliche Betreuung der nichtarischen Christen im Auftrag der Bekennenden Kirche übernommen hatte. Ihre Verhaf­tung zog weite Kreise, bis ins Ausland. Dem Buch „Über allen Völkern“ (Erlebnisberichte menschlichen Handelns inmitten des Kriegsgeschehens aus allen Völkern), noch während des Krieges in England erschienen, gesammelt von George Catlin, Vera Brittain, Shella Hodges, entnehmen wir, daß die englische Zeitung „Daily Herald“ sich schon am 8.1.1942 mit den Folgen ihres Rundschreibens beschäftigte, die zunächst darin bestanden, daß die NS-Presse sie als staatsgefährliche Person hinstellte. Aber die Empörung, die nach ihrer Verhaftung durch die Christenheit in Deutschland und des Auslands ging, verhinderte nicht die weiteren Maßnahmen der Gestapo. Sie mußte den Weg gehen wie alle Männer und Frauen, die angeklagt waren, politische Verbrechen gegen das Dritte Reich verübt zu haben. Bei ihr führte er über die Gefängnisse von Marburg und Kassel ins Arbeitshaus nach Breitenau, von dort ins Konzentrationslager nach Ravensbrück.

Hinter Gefängnismauern, im Arbeitshaus und im Konzentrations­lager sind die Gedichte entstanden. Sie selbst nennt sie „Worte aus der Gefangenschaft“. Sie sind die Zeichensprache zwischen ihr und den Angehörigen. Denn wer weiß, daß seine Briefe überwacht werden, hat eine natürliche Scham, in ihnen Gedanken und Erkenntnisse des Herzens auszusprechen. Sorge wegen falscher Deutung, die die Gefahr vergrößern, mögen das hindern, vor allem aber die Scheu, andere als die allernächsten Menschen an innerem Erleben teilhaben zu lassen. Mit dem Reim wurde ihren Worten das schützende Gewand gegeben. Und wie der Rhythmus beim Schreiten oft die Verkrampfungen im Körper entspannt, so werden die Verse auch ihr zur Lösung der inneren Konflikte geholfen haben, die keinem in solcher Lage erspart bleiben.

Einzelne dieser Gedichte sind in jener Zeit durch die Christenheit in Deutschland gewandert, stille Boten, die ihren Dienst besonders unter denen taten, die voll Sorge und Angst die Schrecken dieser Jahre durchlitten. Ihnen halfen sie zur Zuversicht, daß auch in den Zeiten der Preisgegebenheit an menschliche Willkür das Große Licht seinen Widerschein gibt, sichtbar für den, der sich danach ausstreckt. Für die fürbittende Gemeinde war damit aber das Zeichen aufgerichtet, daß ihre Fürbitte nicht vergeblich geschah. Denn ihr wurde ganz sichtbar, daß sich hier begab, was Käthe Staritz in einer ihrer Niederschriften so ausdrückt: „Daß Gott das Herz in seinem großen Gram behütet.“

Die Niederschriften sind die Ergänzung zu den Versen. Es ist wohl nicht zufällig, daß sie nach 10 Jahren wieder in einer Zeit entstanden, die für Käthe Staritz von neuem ein „Jahr des Herrn“ geworden ist – eine Zeit, die Gott in besonderer Weise gehörte. Denn im Frühjahr 1952 kam die Krankheit zum Ausbruch, an der sie Karfreitag 1953 starb. Abgesehen von kürzeren Unterbrechungen war ihr wieder fast ein Jahr die Möglichkeit genommen, im persönlichen Leben und im Beruf Geplantes nach eigenem Willen zur Ausführung zu bringen. Die Krankheit verhinderte es. In den letzten Wochen hat sie aufgeschrieben und diktiert, was ihr noch in Gedanken an die Gefangenschaft im Herzen lebte. Ihre Schwester half ihr dabei und schreibt darüber: „Als alles aufgeschrieben und unter großen Mühen von ihr gesagt war, hatte ich den Eindruck, daß eine Last von ihr abgefallen war, die ihr die letzten Schritte zum Ziel noch beschwerlich machte.“

Das ist auffallend, denn während ihrer Amtstätigkeit berichtet sie selten aus jener Zeit. Im Angesicht des Todes trieb es sie dazu, als ob sie ihr Schweigen darüber innerhalb der Gemeinde als Versäumnis empfand. Sie muß den Wunsch gehabt haben, Bestimmtes auszusagen. Nicht deshalb, weil es noch nie ausgesagt wäre, also etwas Besonderes darstellt, sondern deshalb, weil sie es als Auftrag empfunden hat.

Beschäftigt man sich näher mit der Niederschrift, könnte man eine Erklärung dafür finden. Es fällt in fast allen Berichten das Bemühen auf, über freundliches oder gerechtes Verhalten von Menschen zu erzählen, von denen man es gar nicht zu erwarten brauchte, weil sie Christus ablehnen: Von Wachhabenden und Aufseherinnen, SS-Zugehörigen und Kommunistinnen unter den Häftlingen. Dabei wird nicht verschwiegen, wie hart gewöhnlich das Leben unter ihnen gewesen ist, eben weil es im Lager nicht christlich zugehen sollte. Nichts anderes wird damit ja ausgesagt, als daß Gottes schöpferische Macht auch sie als Werkzeug für den Widerschein seines Großen Lichtes gebraucht.

Es fällt auf, mit welcher Beharrlichkeit sie für die kurzen Wortauslegungen während des Hin- und Herschreitens den Ausdruck „Gottesdienst“ gebraucht. Wir sind heute wieder gewöhnt, mit dem „Gottesdienst“ bestimmte Vorstellungen von Raum, Liturgie, Person usw. zu verbinden. Es wird sichtbar, daß unabhängig von den äußeren Formen dort echter Gottesdienst von allen Beteiligten geschah, weil dazu ja der Mut gehörte, Gott zu dienen in dem Sinne: Ihm mehr zu gehorchen als den Menschen.

Es fällt auch der Wechsel in der Art der Schilderung auf. Wenn sie Szenen aus dem Lagerleben erzählt, verfällt sie unversehens in die Sprache der Häftlinge. Die Worte werden dann oft fast ungefüge – ausführlich werden die Lagersitten geschildert. Aber an jenen Stellen, an denen es ihr um das Lob Gottes im Leide geht, da spürt man ein Ringen um eine Ausdrucksweise, die das Unaussprechliche in Worten wiedergeben möchte: Das unmittelbare Wirken des „Großen Lichtes“. So etwa das Gewahrwerden der kargen Naturschönheiten, die man im Lager erhaschen kann, die seltsame Art der Weihnachtsverkündigung als letzte von kabarettistischen Darbietungen, die Schau des gegenwärtigen Christus.

Besonders fällt aber auf, wie schonungslos sie sich zu ihrer Schuld bekennen muß. Sie wird einen besonderen Fingerzeig darin gesehen haben, daß sie an denselben Menschen zu Fall kam, denen sie in der Zeit ihrer Freiheit in Liebe gedient hat und um derer willen sie nun dieses „Jahr des Herrn“ durchlebte und durchlitt – ein Fingerzeig für das, was sie an anderer Stelle so ausdrückt: „Ich glaube, daß auch unsere christlichen ‘guten Taten’ nicht unser Werk, sondern Gnadengaben Gottes sind.“

Gedichte und Niederschriften sind von ihr der Geschäftsstelle der Evang. Frauenhilfe in Deutschland e.V. anvertraut. Als sie im August 1952 die Gedichte sandte, schrieb sie: „Die Frauenhilfe wäre die richtige Stelle für die Herausgabe, weil durch sie einzelne der Gedichte 1943 in Rundschreiben weitergegeben sind und von Hand zu Hand abgeschrieben wurden.“ Und die Niederschriften ließ sie wenige Tage vor ihrem Tode nach der Fertigstellung an dieselbe Stelle senden mit dem Bemerken, daß sie nur das Material geben sollen und daß man es unterlasse, ihr Lebensbild mit einem „Heiligenschein zu putzen“. Die Urschrift wurde nur, wo es unbedingt nötig erschien, überarbeitet, im Wesentlichen erklingt in den Abschnitten ihre eigene Sprache.

So sind diese Blätter ein Vermächtnis an die Frauenhilfe. Darum möchten wir sie durch die Herausgabe allen denen zugänglich machen, die darin zu Hause sind. Denn Käthe Staritz war „eine von uns“. Sie begann ihren kirchlichen Dienst im Lehrvikariat der Schlesischen Frauenhilfe als Reisesekretärin. Seit 1949 hat sie bis zu ihrem Tode regelmäßig in den Frauenhilfen und Mütterkreisen der Stadt Frankfurt gearbeitet. Das Schicksal derer, die „zu uns“ gehören, geht uns aber in besonderer Weise an, weil die Sprache Gottes an sie auch uns gilt. Auch wir sind ja dem Zeitgeist unserer Generation verfallen, die ihre Tage heute mit Arbeit und Planungen für neue Arbeit so anfüllt, daß meistens nichts übrig bleibt für das Eigentliche, was „dem Herrn gehört“. Täglich exerzieren wir das durch und beobachten die Wirkung an uns und den anderen. Und wenn wir auch in rechter Dankbarkeit und Schaffensfreude durchleben, wie uns das Leben in der Kirche und im Staate heute so völlig beansprucht, kann es aber doch sein, daß uns oft eine unbestimmte Sehnsucht ergreift nach einer Lebenszeit, die allein „dem Herrn gehört“. Und daß uns so ist, als sei dieses unser Leben eines nach dem Bibelwort: Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz!

Wen diese Trauer und Sehnsucht gepackt hat, dem wird das Herz offen für das, was diese Blätter von dem Leben im „Jahr des Herrn“ zu sagen wissen. Wie es Selma Lagerlöf ausspricht: „Nicht auf Kerzen und Lampen kommt es an noch auf Sonne und Mond, sondern was nottut, ist einzig und allein, daß wir die rechten Augen haben, Gottes Herrlichkeit zu sehen.“

Kleine Blumen der Freude

Der politische Gegner, der zum Gefangenen eines totalen Staates wird, hat seine Menschenwürde verloren. Nichts liegt mehr an seinem Leben, seiner Gesundheit, seinem Schicksal. Er ist in das Rädergetriebe einer für ihn undurchschaubaren, unerbittlichen Vernichtungsmaschine geraten. Jeder solche Gefangene bekommt bald nach dem Eintritt durch die erste Gefängnistür das niederschmetternde Bewußtsein, einer bösen Macht ausgeliefert zu sein. Es ist ihm, als stünde unsichtbar über seiner Gefängniszelle das Wort geschrieben: „Der du hier eintrittst, laß alle Hoffnung auf Freiheit fahren, alle irdische Hoffnung, alle Hoffnung auf menschliche Hilfe und Gerechtigkeit.“ Wer aber darauf vertraut, daß über seinem persönlichen Schicksal nicht menschliche Willkür, sondern der Herr Himmels und der Erde zuerst und zuletzt entscheidet, für den beginnt ein Zeitabschnitt, in dem ihm die Nähe und Kraft Gottes in nie gekannter Unmittelbarkeit zuteil wird. Für den bleibt wohl die Zukunft das „nebelverhüllt unkenntliche Land“. Aber diese Erkenntnis bedrängt ihn nicht, weil sie ja in Gottes Hand liegt. Für ihn wird jede irdische Hoffnung unwesentlich, weil er anfängt, sein Zutrauen von der ewigen Hoffnung zu nähren. Er schiebt die Sorge um „morgen“ beiseite, das „Heute“ wird ihm wichtig: „Er hat nicht gewollt, daß wir sorgen und klagen, nein, täglich von neuem auf ihn es wagen.“

Und dann geschieht es: Er erfährt, wie Gott sein Herz in dem großen Gram behütet und ihm das Gemüt offen wird für die kleinen Freuden, die Gott an seinem aussichtslosen Weg als Trost und Kraftspende bereitet.

Für mich war die Zahl dieser täglichen Tröste-Freuden unzählbar groß und vielfältig. Von einigen möchte ich erzählen.

Am 4. März 1942 wurde ich in meinem Zimmer des Marburger Hospizes durch einen Beamten der Kriminalpolizei – weil in Marburg keine Stapoleitstelle bestand – verhaftet und in das Gerichtsgefängnis eingeliefert. Meine Lage kam mir schon zum Bewußtsein, als ich mein Köfferchen mit den notwendigsten Habseligkeiten allein schleppen und dabei noch versuchen mußte, mit dem kräftigen Mann Schritt zu halten, der sich in keiner Weise bemühte, mir zu helfen oder Rücksicht zu nehmen. Gefangene!

Im Gefängnis wurde mir vom Inspektor zunächst erklärt, daß ich durch meine Verhaftung aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen sei und kein Recht mehr habe, den deutschen Gruß zu verwenden. Dann wurden die üblichen Personalien aufgenommen. Der Kriminalbeamte, der mich verhaftet hatte, sah seine Pflicht erfüllt und wandte sich zum Gehen. Plötzlich kehrte er um, als habe er was vergessen. Er reichte mir die Hand und verabschiedete sich mit einer respektvollen Verbeugung.

Darauf kam der Wachtmeister, mich in die Zelle zu führen. Die Bettwäsche, die ich mitgenommen hatte, durfte ich nicht gebrauchen, ich sollte Anstaltswäsche bekommen. Er öffnete den Schrank und nahm das Bettzeug für mich heraus. Das Laken war voller Flecken, großer Dreiecke und Risse. Ganz beschämt legte er es zur Seite: „Nein, das sollen Sie nicht haben.“ Und er suchte, bis er das beste aus dem damals schon sehr kümmerlichen Gefängnisbestand gefunden hatte. Ebenso hat er mit viel Mühe eine Eßschüssel ohne Lücken und eine unverbogene Gabel nebst Löffel herausgesucht.

Ähnliche Freundlichkeiten widerfuhren mir auch von den Polizeibeamten in Kassel. Als meine Schwester, die von Breslau angereist kam, eine Sprecherlaubnis für 10 Minuten erreichte, setzte sich der Polizeibeamte im Sprechzimmer des Gefängnisses, der unser Gespräch zu überwachen hatte, mit dem Rücken nach uns an seinen Schreibtisch. Er brach das Gespräch erst nach 20 Minuten ab. Er erlaubte mir auch, aus einem Paket, das ich bekam, das Reclamheftchen von Shakespeares Julius Caesar in die Zelle mitzunehmen. Dabei war eigentlich jeder Lesestoff untersagt. Sogar Bibel und Gesangbuch hatte man mir gleich zu Anfang fortgenommen.

Als die Verhöre vorüber waren, wurde ich fast jeden Tag zur Arbeit geführt. Es war ein Kommando von etwa 10 Personen, außer mir noch eine Frau und einige Männer, die unter Begleitung von 2 SS-Männern vom Polizeigefängnis am Königstor auf der Fahrstraße nach dem Hause des Sicherheitsdienstes auf der Kölnischen Straße geführt wurden. Da unsere männlichen Gefährten unrasiert und sehr ungeschickt im Schonen und Ausbessern ihrer Kleidung waren – wir trugen die Zivilkleidung, in der man uns verhaftet hatte -, sahen wir wirklich wie eine Gruppe von Verbrechern aus. Es war jedesmal ein Marterweg, denn die Passanten starrten uns an, die Straßenjungen bewarfen uns mit dem letzten schmutzigen Schnee und Steinen. Im Hause des Sicherheitsdienstes hatten wir Frauen den Frühjahrsputz zu halten. Es lohnte sich gründlich, die weißen Türen undFensterrahmen abzuseifen – und Putzmittel bekamen wir ausreichend. Während ich auf der Leiter stand und nach Kräften schrubbte, kam ein Herr in Zivil mit einer Aktentasche vorbei, anscheinend der Abteilungsleiter, blieb stehen und sah mir eine Weile zu. Dann fragte er, wer und was ich sei und warum und für wie lange ich verhaftet sei. Ich antwortete so kurz wie möglich und auf die letzte Frage, daß ich die Haftdauer nicht wüßte. Er blieb eine Weile nachdenklich stehen, dann sagte er freundlich: „Es geht alles vorüber, auch das.“ Als wir zum Rückmarsch zum Gefängnis antraten, sagte der eine SS-Mann zum andern: „Der Chef hat angeordnet, daß die Weiber auf dem Bürgersteig gehen“ – und es folgte eine sehr deutliche Äußerung der Mißbilligung über den Befehl, aber er mußte ausgeführt werden. Mein Herz war voll Dank für diese Freundlichkeit, denn sie schützte uns vor den Anpöbelungen auf der Straße.

Als der Hausputz der Diensträume beendet war – in den eigentlichen Büroräumen hatten wir nur unter Aufsicht und in Gegenwart der amtlichen Putzfrauen arbeiten dürfen – wurde ich der Frau des Hausmeisters, der eine Mansardenwohnung im gleichen Hause innehatte, zugeteilt. Sie war sehr freundlich, obgleich sie eigentlich nur dienstlich mit den Gefangenen sprechen durfte. Als mir beim Bohnern ein Ärmel des einzigen Kleides, das man mir gelassen hatte, ausriß, gab sie mir Nadel und Faden, und ich durfte es mir in einer stillen Ecke ausbessern. Am Karsamstag bekam ich von ihr, ohne daß ihr Mann und Bub es sahen, ein großes Stück von ihrem Osterkuchen, Blechkuchen mit Rhabarber darauf. Gute Frau Dietrich! Ich glaube, es hat mir nie ein Kuchen wieder so geschmeckt! Und ich hatte solchen Hunger von der erbärmlichen Gefängniskost.

Von Kassel kam ich ins Arbeitshaus Breitenau. Dort gab man mir das Anständigste, was von der sehr heruntergekommenen Kleidung zu finden war. Man reihte mich in eine Kolonne mit sauberer Arbeit ein, die bei der Firma Braun in Melsungen Cutgut wickelte. Die Arbeit war leicht, aber ermüdend, die Arbeitszeit lang, das Essen, das wir von der Anstalt mitbekamen, völlig unzureichend. Wir freuten uns, wenn der gute Hilfsaufseher Fehr unsere Kolonne führte. Er schlug nicht und trat nicht. Er hatte immer sehr gute Wurstbrote mit, und eins davon bekam jedesmal heimlich eine von uns der Reihe nach. Ja, es geschah sogar, daß die Braunschen Arbeiterinnen, die unsern Hunger sahen, heimlich Kartoffeln mitbrachten, die wir uns auf einem elektrischen Kocher im Werk kochen durften. Von der Oberaufseherin und den Aufseherinnen dort habe ich viel Freundlichkeiten erfahren. Als der Befehl zu meiner Überstellung ins KZ Ravensbrück kam, lief eine von ihnen, Frau Bettenhausen, in ihrer Freizeit zum Pfarrer, daß er mir beistünde. Das hat er getan und auf sein Gedächtnis genommen, was für meine Angehörigen zu wissen nötig war.

Als ich ins KZ-Lager kam, fand ich auch dort Hilfe. Sie geschah durch die Häftlinge, die schon jahrelang dort waren. Sie warnten den Neuling vor Gefahren, in die man unversehens geraten konnte. Sie lehrten ihn, die Gesundheit zu schützen, soweit es möglich war. Ja, sie sorgten in den ärgsten Hungerszeiten für zusätzliche Nahrungsmittel.

Als ich nahe daran war, in der Tag- und Nachtarbeit der Pelznäherei zusammenzubrechen, waren es die Kommunistinnen, die in der Selbstverwaltung des Lagers den Arbeitseinsatz ordneten, die mir eine Stelle im Büro verschafften. Das bedeutete zugleich die Versetzung in den Eliteblock, wo ich unter so viel menschlicheren Bedingungen leben konnte als bisher. Eine der Kommunistinnen, die wie ich im Büro arbeitete und im Block an meinem Tisch saß, nahm mich einmal in Schutz, als man mich meiner christlichen Haltung wegen anpöbelte. Als ich mich bei der Kommunistin bedankte, konnte ich nicht umhin zu sagen: „Hier bist du so freundlich zu mir, wenn wir uns draußen einmal treffen, fürchte ich, wirst du auch gegen mich sein.“ – „O nein“, antwortete sie, „du leidest wie ich um der Gesinnung willen. Solche Menschen werde ich immer achten, sie sind unsere Kameraden.“

Noch viele haben mir Freundlichkeit erwiesen – einer der beiden SS-Männer, unter denen ich im Büro arbeitete, ein Schlesier aus der Gegend von Liegnitz besonders. Er gab mir oft ein Stück Pappe zu Einlegesohlen oder ein Stück Schnur, um einen Karton zu verschließen. Auch manches ermutigende Wort hörte ich von ihm, wenn er mit mir allein war.

Ja, erst wenn man ganz verstoßen, verachtet und verlassen ist, bekommt man Augen für die Güte, die einem widerfährt, und wird dankbar für jede kleine Freude am Weg. Voller Staunen mußte ich immer wieder feststellen, daß sie mir von Menschen kamen, die dem Christentum fernstehen. Sind die Tugenden der Heiden wirklich „glänzende Laster“, wie Augustin gesagt hat? Ich glaube vielmehr, daß auch unsere christlichen „guten Taten“ nicht unser Werk, sondern Gnadengaben Gottes sind. Dann aber habe ich erfahren, daß er mit diesen Gnadengaben sogar die beschenkt, die ihn leugnen. Ich habe es als Anruf an mich selbst empfunden, daß er dadurch gleichsam die anschaut, die ihm den Rücken gewendet haben – ein Aufruf zur Freude und Dankbarkeit über diese unbegreifliche Güte!

Versuchungen

Als ich verhaftet wurde, kam ein großer Friede über mich. Und als die Zellentür sich hinter mir schloß, fühlte ich, wie alle Verantwortung für Dienst, Amt, für die Menschen, für die ich zu sorgen hatte, von mir abfiel. Ich war in die Hände der Feinde gefallen, aber nichts würde mir geschehen, als was nach Gottes heiligem Willen geschehen mußte. Darum habe ich nirgends so gut und ruhig geschlafen wie in den ersten Nächten der Haft.

Aber die Haft hatte auch ihre besonderen Bedrohungen in den Versuchungen, die die häufigen Verhöre mit sich brachten. Den wunderbaren Frieden der ersten Zeit meiner Verhaftung empfand ich nur in der Einzelzelle. Die Kasseler Verhöre waren nicht schlimm. Ich wurde nicht geschlagen, nur angeschrien. Und als sie merkten, daß sie dadurch nichts mehr herausfragen konnten, gingen sie zum gewöhnlichen Gesprächston über. In dieser Zeit geschah es, daß ein Grußschreiben vom Bibelstundenkreis der Bekennenden Kirche aus Breslau an mich in die Hand der Gestapo gefallen war. Ich sollte sagen, wer die Verfasserin wäre. Da die Unterschriften so unleserlich waren, konnte ich mit gutem Gewissen sagen, daß ich sie nicht kenne. Doch eine BK-Pfarrfrau nannte ich. Sie war ohnehin der Gestapo bekannt. Und in dem Brief stand ja nur, daß sie meine Abwesenheit bedauerten und für mich beteten, also nichts politisch Bedeutungsvolles. So konnte ihr nichts passieren und passierte auch nichts. Aber heute noch quält es mich, daß ich ihren Namen angab.

Welche Versuchung auch im Dichtleben mit so vielen ganz anderen Menschen! Der gleiche Drang und dieselbe Verpflichtung wie sie, Leben und Gesundheit zu erhalten, und doch so oft die stille Aufforderung des Herzens zum Verzicht, etwa beim Empfang der Essensrationen, wenn zu wenig Essen da war, oder bei Duschmöglichkeiten und eine Dusche zu wenig. Wie oft habe ich nicht hingehört!

Welche Versuchungen durch die oft sinnlosen Verbote, die eine Hilfeleistung selbstverständlicher kleiner Dienste an die anderen Lagerinsassinnen unmöglich machten: Briefe zu schreiben für ausländische Frauen, die nicht deutsch schreiben konnten, ihnen die empfangene Post vorzulesen. Besonders die Zigeunerinnen waren schlecht dran. Sie konnten überhaupt nicht23 lesen. Auch hier Angst vor den Strafen, wenn die Übertretung der Gebote entdeckt wurde, und doch Bedürfnis und Freude, helfen zu können.

Bestandene oder nicht bestandene Versuchungen? Auch dieses weiß Gott allein. Eindrücklich aber sind mir zwei Ereignisse haften geblieben, in denen ich in Gegenwart vieler die Versuchungen nicht bestand. Die Jüdinnen, 500 im Lager, an meiner Arbeitsstätte etwa 10 – die Vorarbeiterin war eine jüdische Kürschnersfrau – wurden oft für kleine Vergehen hart gestraft. Eines Tage erhielten sie für eine Woche Essensentzug, kein Mittag- und Abendessen, nur die übliche Brotration und Kaffee am Morgen, und mußten dabei arbeiten wie immer. Die Leiterin unseres Arbeitsblockes schlug vor, ihnen die Brotecken zu geben, die immer von den Brotrationen abfielen, und die denen zufielen, die die Kaffeekessel und Brotbretter von der Küche bis zum andern Ende des Lagers, wo die Arbeitsbaracke stand, schleppen mußten. Das war dieses Gewinnes wegen eine beliebte Arbeit. Nun, wo es darum ging, diesen Gewinn zu opfern, rief sie Freiwillige zu dieser Arbeit auf. Ich habe mich aber nicht zu diesen Freiwilligen gemeldet. Wenige Wochen später wurde der ganze Judenblock nach Auschwitz verlegt, das bedeutete: in den Tod. Es war gerade in der Freistunde, daß sie abmarschierten. Das ganze Lager machte um sie Spalier, rief und winkte ihnen zu. Aber ich habe damals nicht die Hand gehoben. Diese beiden Dinge sind für mich wie ein Verrat an meinen Schwestern, der mich beschämte und noch heute bedrückt.

Es ist leichter, die Versuchung zu bestehen, die man erwartet, als die, die unversehens über einen kommt. Von Zeit zu Zeit geschah es, daß eine von uns vor den Oberkommandanten zitiert wurde. Etwa im Januar 1943 wurde ich mit acht anderen aus dem Lager herausgeführt und in das Verwaltungsgebäude gebracht. Wir mußten an der Eingangstür die Holzpantinen und Strümpfe ausziehen und wurden im Vorflur des Kommandantenzimmers aufgestellt. Es waren alles Frauen, die für einen Sekretärinnenposten in die engere Wahl gezogen worden waren. Nach dem Alphabet wurden wir einzeln hereingerufen. Das Ergebnis der Befragung erfuhren wir nicht. Als ich hereinkam, durfte ich nicht grüßen, sondern mußte stramm stehen und mich mit den Worten melden: Schutzhäftling Nr. 11575 Block 7.

Der Kommandant hatte mein Aktenstück vor sich und blätterte darin. Er kam auch auf die Judenfrage zu sprechen und sagte: „Glauben Sie – die Anrede ‚Sie‘ bedeutete eine Ausnahme, sonst wurden wir mit ‚Du‘ angeredet – denn immer noch, daß aus einem Juden ein Christ werden kann? Ein Hering wird durch vieles Im- Wasserliegen doch kein anderer Fisch.“ Ich antwortete: „Ein Hering durch Wasser nicht, aber ich glaube an den Hl. Geist, der durch die Taufe einen Menschen gänzlich verwandeln kann. Es gibt dafür Beispiele: Paulus, der ein Jude war und durch die Taufe ein Diener Christi wurde.“ Darauf sagte er: „Dann haben Sie hier noch nichts gelernt und werden noch hier bleiben müssen.“

Damit war ich entlassen. Ich vermutete, daß ich zu lebenslänglicher Haft verurteilt war. Das schien auch der Befehl zu bestätigen, auf den hin ich vom nächsten Tage ab im Büro arbeiten sollte. Ich hatte gezittert vor meiner Antwort. Aber als mir die Worte kamen, war ich in tiefs­ter Seele dankbar, ja froh.

Über den Befehl zur Versetzung war die Leiterin der Pelznäherei empört. Ich fragte die Aufseherin, ob ich nicht lieber in meiner Abteilung bleiben sollte. Aber sie erinnerte mich an meinen Gehorsam als Gefangene. „Du gehst, wohin dich der Kommandant bestellt hat!“ So trat ich am nächsten Tag bei den Büroarbeitern an. 2 Monate darauf wurde ich entgegen der sonst üblichen Lagerordnung völlig unerwartet frei.

Wer auch in Sachen der Kirche und des Glaubens in Gefangenschaft kommt, ist damit noch nicht im Sinne Gottes ein Märtyrer. Denn wenn es wirklich geschieht, daß er für Christus ein Zeugnis ablegt, dann redet Christus durch ihn. Darum gilt ihm kein Ruhm und keine Ehre.

Der gegenwärtige Christus. Die Schau.

Wer als Gefangener das Lager zuerst betritt, das von einer hohen Mauer mit Hochstromdrähten umgeben, völlig nach außen abgeschnitten ist, und dann die Lagerstraße entlang sieht – sie wirkt eher wie ein unendlicher Platz –, zu deren beiden Seiten die Baracken der Gefangenen stehen, ungefähr 20 an jeder Seite, der fühlt sich von der Welt völlig ausgeschlossen, wieviel mehr noch, wenn er erfährt, daß es hier kein Buch, keine Bibel, kein Gesangbuch gibt, ja daß sie nicht einmal ausgehändigt werden, wenn Verwandte sie schicken – dem wird allmählich klar, daß auch Christus hier ausgesperrt werden soll. Nur mit den Bibelforschern wurde eine Ausnahme gemacht. Aber sie waren in einem Seitenlager, das uns nicht zugänglich war. Uns andern wurden sogar aus den Briefen bei der Zensur die Bibelstellen herausgeschnitten.

Und doch war Christus im Lager. Christus war gegenwärtig, wo er und sein Wort in den Herzen lebte. Ich habe jeden Sonntag aus Bibel und Gesangbuch Gottesdienst gehalten, freilich nur einer kleinen Gruppe von 14 Frauen im Auf- und Abgehen. Das geschah in unserer Freistunde, wenn wir auf der Lagerstraße auf- und abgingen. Dann mußten wir immer zu 5 in einer Reihe gehen. Aber es durfte nicht bekannt werden, was wir sprachen. Ich ging in der Mitte von drei Fünferreihen. Lang konnte dieser Gottesdienst nicht sein, und ich nahm als Text stets ein Wort, das wie für unsere Lage geschrieben schien. Die Hörerinnen waren meist aus Schwaben. Eine davon fiel dann ab aus Furcht, daß es bekannt wurde. Denn uns allen drohte der Bunker. Sie kam freilich wirklich in den Bunker, aber nicht deshalb, sondern weil sie einen Fluchtversuch gemacht hatte.

Christus war auch da, wenn abends zwei Frauen an mein Bett kamen und ich ihnen einen Abendsegen über die Bergpredigt hielt. Die Blockälteste, Lagerälteste und Stubenälteste drückten dann die Augen zu, denn sie waren in ihrem Herzen selbst Christen. Aber all das ging natürlich nur, weil ich den Text auswendig wußte.

Zum Nachdenken über die Texte diente mir immer die Appellzeit. Wir standen mindestens 3mal täglich Appell. Alle Blöcke marschierten auf der Lagerstraße auf zu 10er Reihen, 10 Frauen tief, in der Länge so viel, wie der Block Inhalt hatte. Es durfte dabei nicht gesprochen werden. Das geschah aber manchmal doch, wenn die Aufseherin am andern Ende der Lagerstraße war. Die Abendappelle im Sommer sind mir in geradezu schöner Erinnerung. Manchmal, während wir schon standen, rückten noch Gruppen ein. Sie sangen dabei: „Weit ist der Weg zurück ins Heimatland.“ Zuweilen hörte man Schüsse. Sie galten wahrscheinlich denen, die in der Nachmittagszeit von der Arbeit in das politische Büro geholt worden waren.

Bei diesen Appells gingen die Aufseherinnen die Reihen ab. Die Blockältesten legten ihnen die Zahlen der Blockinsassen vor mit den Abschreibungen derer, die krank im Revier lagen, oder zu einem andern Arbeitsblock abkommandiert waren. Wenn es nicht stimmte, wurde von vorne durchgezählt. So mußten wir oft entsetzlich lange stehen.

Hinter der riesigen Lagermauer, durch deren Draht schon mancher sein Leben geendet hatte, ragte nach dem Lager scharf abfallend eine riesige Hügelkette hervor, an der SS-Männer auf und ab patrouillierten. An den dämmernden Sommerabenden stand ich dort und genoß die Stille und die Sommerluft und überließ mich meinen Gedanken.

Da geschah einmal etwas Wunderbares. Ich hatte eine Schau. An Stelle des SS-Mannes sehe ich über den Hochgrat des Hügels Jesus Christus gehen. Er geht sehr langsam. Schließlich bleibt er auf der Höhe stehen und wendet sich den Menschen unter ihm zu. Es dauert lange Zeit, bis die andern ihn sehen: Der Kommandant, der Adjutant, die SS-Männer, die Aufseherinnen alle und die Häftlinge, die mit dem Rücken nach der Lagermauer stehen. Er steht und sagt kein Wort. Er ist nur da, und die Gefangenen drehen sich um nach ihm. Die Aufseher treten zu einer Gruppe zusammen.

Da kommt plötzlich Bewegung in die Menschengruppen. Aus ihnen heraus strecken sich flehende Hände, dringen hilfesuchende Schreie von den Häftlingen: den Bibelforschern, Kirchenchristen und allen anderen!

„Bist du endlich gekommen? Wir leiden für Dich. Nun richte Dein Reich auf und belohne uns als die 144000, die darin herrschen. Vernichte alle, die Dir auf falsche Weise gedient haben!“ – „Wir haben Dir getraut und wollten nach Deinem Willen handeln. Wir haben geglaubt, in dein Reich zu kommen, weil wir gut sind. Nun gib uns Deinen Lohn, wir haben ihn verdient!“ – „Herr Jesus Christus, wie froh sind wir, daß wir dich schauen dürfen, wir haben uns nach niemand anderem gesehnt als nach dir allein, nimm uns zu dir.“ – „Herr Christus, wir haben dir viel Leid angetan durch alles Unrecht, was wir dir taten! Wir wissen nicht, was wir jetzt tun sollen, aber wir sind froh, daß du da bist, erbarme dich über uns.“

Aber ebenso angstvoll kommt es aus der Gruppe der Wachtmänner und Kommandanten: „Wer du auch sein magst, der du so viel Macht hast, du kannst uns nicht zuwider sein. Recht und Macht ist Gesetz auf der Erde, ihm muß gehorcht werden. Das haben wir getan, ihm dienen wir, darum kannst du uns nicht verurteilen!“

Über dem Lager kreist ein Flieger. Als sie alle so gerufen haben, wirft er eine Bombe ab. In der Höhe schwebt das Christusbild, und rings herum kreisen die Menschen. Sie sind alle in gleiche weiße Kleider gekleidet. „Erwartet das jüngste Gericht“, spricht Christus.

Und war nichts mehr von dem Bild zu sehen, und wir waren wieder in unserem Block. Und dort blieben wir, wenn uns Christi Hand nicht herausführte, bis zum Einmarsch der Russen.

Aber das wissen wir, wir müssen noch warten bis zum Jüngsten Tage.

Und Weihnachten?

Viele unter uns waren gewohnt, das Weihnachtsfest in der Familie und auch mit dem Gottesdienst der Gemeinde zu verleben. Für sie war die Weihnachtszeit im Lager von Ravensbrück schrecklich. Eher war sie ein Fest der Verzweiflung als der Freude. Zwar hatte die Lagerleitung mitten auf die Lagerstraße einen riesigen ungeschmückten Tannenbaum setzen lassen. Man hatte auch Erlaubnis erteilt, Pakete zu empfangen. Aber gerade durch diese unerwarteten Freundlichkeiten entstand im Herzen neue Sehnsucht und Sorge: Die Sehnsucht nach dem geliebten geschmückten Baum in der Heimat, die Sorge um das zu erwartende Paket: Würde es rechtzeitig da sein? Und die Gedanken, die entwöhnt waren, sich mit irgendwelchen Hoffnungen auf Verbesserungen abzugeben, beschäftigten sich mit der Frage, wie man einen etwaigen freien Tag feiernd werde verbringen können!

Die Natur tat nichts zur Weihnachtsstimmung. Am Heiligen Abend waren 12 Grad Wärme. Dafür hätten wir dankbar sein sollen, denn so froren wir doch nicht in unserer luftigen Kleidung. Um 12 Uhr mittags bekamen wir frei. Zuerst war freilich noch Appell. Dann gingen wir in unseren Block, um die Weihnachtsfeier vorzubereiten. Viel zu tun gab es dafür freilich nicht. Einige Außenarbeiterinnen hatten auf die Bitte der Blockleiterinnen ein Bäumchen organisiert. Es war bis dahin ängstlich in einem Nebenraum des Aufseherinnen-Clos versteckt worden. Die Aufseherinnen waren nur alle drei Tage im Block anwesend und sahen die Bücher durch. So wurde es selten benutzt. Sie würden an diesem Tag gewiß nicht kommen und lieber mit den SS-Männern feiern. So konnten wir ungestört unser Bäumchen schmücken: Ein paar Wattebäuschchen von den Revierarbeiterinnen, ein paar Zapfen von den Außenarbeiterinnen.

Der erste Festakt bestand darin, daß wir uns gründlich Zeit zum Waschen nehmen konnten. Dann ging’s an das Festessen: Die Kommandantur hatte Nudeln in süßer Magermilch gestiftet. Es ist mir unvergeßlich, was uns das für eine Festspeise war. Als alle Reste verteilt waren, fragte man scherzhaft, wer noch einen Schlag wolle. Alle Hände hoben sich. Aber die Töpfe waren leer. Wer schon ein Päckchen bekommen und Gutes daraus entnehmen konnte, der stiftete davon einiges. Das brachte nun aber erst die meisten unter uns ins große Heulen.

Währenddessen begann das Festprogramm. Damals gehörte ich schon zum sogenannten Eliteblock, und unter den Insassen waren sehr viele entschiedene Kommunistinnen. So durfte das Programm nichts Geistliches enthalten. Zuerst wurde die Schlauste unter uns als Spitzel ausgeschickt, um festzustellen, ob der Kommandant auch nicht im Lager wäre. Sie kam bald mit der guten Botschaft zurück, daß anscheinend alle Aufsichtspersonen in die SS-Kantine abgerückt seien. Nun konnte es losgehen. Es sollte ein regelrechtes Kabarett werden. Unsere Blockälteste war heimlich mit der Blockältesten des Franzosenblocks befreundet. Es war eine Holländerin. Sie hatte ihren Block für eine Stunde verlassen, um uns mit Deklamationen und einem Monospiel zu erfreuen. Sie erntete großen Ruhm. Andere lösten sie mit kleinen, oft rührend naiven kabarettistischen Leistungen ab. Aber die Dankbarkeit unter der Hörerschar war jedesmal sehr groß.

Um Stimmung zu schaffen, hatte man alles Licht gelöscht bis auf das Kerzenlicht am Christbaum. Aus buntem Papier hatte ich einen Leuchter um eine Weihnachtskerze geschnitten. Die leuchtete weiter, als das Weihnachtslicht am Bäumchen verlöscht war. Als ich merkte, wie sie alle hören und aufnehmen wollten, bat ich die Blockälteste um die Erlaubnis, eine Geschichte zu erzählen. Ich erzählte die Geschichte vom falschen Weihnachtsmann von Esther von Kirchbach. Bei der Erklärung der Weihnachtsgeschichte verweilte ich etwas länger: „Das ist ein Geheimnis, daß das Christkind jedes Jahr wiederkommt, auch zu dir, auch zu mir, und daß wir Stall und Krippe herrichten können unter dem Weihnachtsbaum, so gut wir’s verstehen. Es hängt damit zusammen, daß der Engel von der großen Freude spricht, die allem Volke widerfahren soll, das heißt, damals in Bethlehem und nun all die Jahrhunderte in all den verschiedenen Ländern, bei allem Volke immer wieder. Denn Gottes Gaben sind nicht so, daß wir sie mit einem Male fassen oder bekommen können, sondern wir Menschen können durch unser Leben in jedem Jahr ein Stückchen mehr verstehen, und jedes Land muß es auf seine Weise erkennen, was er schickt. Ich habe vierzig Weihnachten gehabt …, aber es ist jedesmal wieder nötig gewesen, daß das kleine Kind, das Gott uns schickte, für dich und für mich in der Krippe lag …“

Und siehe da, sie hörten dabei sehr andächtig zu. Wir sangen „O du fröhliche …“ Und danach konnte ich ihnen noch erzählen, wie das Lied im Hause Falk entstanden ist. Freilich sangen nicht alle Kommunistinnen mit, aber sie hatten es doch wohl verstanden, denn kein Widerspruch wurde laut wie so oft bei ähnlichen Gelegenheiten.

Hinterher nahm mich meine Freundin Hedwig beiseite: Sie hätte Angst gehabt, was wohl daraus werden würde. Aber es wurde nichts daraus, nicht einmal eine Anzeige. Und so gingen wir beide noch ein wenig hinaus vor die Blocktür und freuten uns unter dem tiefdunklen Himmel mit dem Hell der wenigen Sterne und dem ungewissen Flackern der dritten Kriegsweihnacht. Bis eine Stimme flüsterte, die wir sofort weitergaben: „Der Kommandant!“ Wir verschwanden im Block und waren gleich darauf in unseren Betten. Wahrscheinlich war es aber nur Probealarm.

Nur einen Besuch habe ich später noch gemacht bei einem unserer Schwabenmädchen, die krank in einem anderen Block lag. Ich erbat mir von ihrer Stubenältesten die Erlaubnis dazu. Mit ihr feierte ich gleichsam „Christmesse“, denn ihr konnte ich die Weihnachtsgeschichte erzählen, wie sie in der Bibel steht. Das war ihre Weihnachtsfreude.

Am nächsten Tag hatten wir unseren Weihnachtsgottesdienst während des Auf- und Abschreitens auf der Lagerstraße. Aber am 2. Weihnachtsfeiertag mußten wir darauf verzichten, weil wir nicht wußten, wann die Freistunde angesetzt wurde und deshalb keine Zeit verabreden konnten.

Ich muß sagen: Für mich war dieses Weihnachtsfest im Lager Ravensbrück von besonderer Schönheit und Feierlichkeit. Es war frei von Reklame und christlichem Kitsch, und seine Freude war wirklich die Freude an dem Gottessohn, der auf die Erde kam, den Leidenden zum Trost, weil er durch sein Leid unser Leid mitträgt.

Gottes Lächeln

Wie seltsam ist es – auch in der schwersten Zeit, in der allertiefsten Erniedrigung kann es geschehen, daß Herz und Gemüt bewegt werden durch eine leise Heiterkeit. Das wurde manchmal gerade von denen bewirkt, die dazu bestellt waren, uns politische „Verbrecher“ zu bestrafen und zu ordentlichen Staatsbürgern des 3. Reiches zu erziehen. Das war neben anderem die Aufgabe der Wachhabenden und Aufseherinnen. Ihre kindlich-pädagogischen Methoden – wenn sie nicht gerade grausam wurden – konnten einen in ein herzhaftes inneres Gelächter hineintreiben, das aber beileibe nicht laut erklingen durfte. Ich empfand diese kurzen Augenblicke, als ob Gott dem armen geängsteten Herzen aus dem Füllhorn seiner Gaben ein Lächeln in sein Elend herabsende. Während des einen Jahres meiner Gefangenschaft geschah das oftmals. Aber im Gedächtnis haften geblieben sind mir nur zwei Szenen, von denen ich erzählen will.

Vom Kasseler Polizeigefängnis wurde ich wiederholt mit anderen Gefangenen nach der Kölnischen Straße 112, dem Haus des Sicherheitsdienstes, geführt. Dort hatte man mich zu allerhand Arbeiten ausersehen. Zur Aufsicht über uns waren SS-Männer, junge, meist ziemlich rohe Burschen kommandiert. Der größte und schlimmste von ihnen, der mit Spottreden und Grobheiten nicht sparte, war ängstlich darauf bedacht, daß wir Gefangenen seinen Namen nicht erfahren sollten.

Nun geschah es eines Tages, daß ich zu einem Hackblock geführt wurde, neben dem ein Haufen riesiger Holzklötze und Wurzeln lag. Jener gefürchtete SS-Mann drückte mir ein Beil in die Hand und stellte sich mit der Reitpeitsche neben mich. Das Beil war für mich viel zu groß und schwer, mit einer Hand konnte ich es überhaupt nicht halten, mit beiden nur mühsam umspannen. Da die Reitpeitsche sich bedenklich bewegte, nahm ich alle Kraft zusammen und schlug das Beil mit beiden Armen in einen Klotz. Aber o weh, heben konnte ich es nicht mehr, um es auf dem Block aufzuschlagen. Mein Wächter hielt mir eine zornige Rede, wie mein Mann mich schlagen würde, wenn er heimkäme, und es wäre kein Essen gekocht, weil ich nicht einmal Holz hacken könnte. Obwohl er sonst sehr neugierig war, schien er nichts von meinem persönlichen Leben zu wissen. Diese Drohung war zwar für mich bedeutungslos, aber ich raffte alle Kraft zusammen und versuchte es von neuem – wieder ohne Erfolg. Da reißt ihm die Geduld. Die Reitpeitsche schleudert er auf die Verandabrüstung, nimmt mir das Beil mit dem Kloben aus der Hand und, um mir zu zeigen, was er für ein Prachtskerl und ich für ein jämmerliches Geschöpf wäre, beginnt er zu hacken, daß die Scheite splitterten. Er läßt es nicht bei einem Kloben bewenden, der nächste kommt dran und der dritte, und er arbeitet sich in einen wahren Feuereifer von Tüchtigkeit und Kraftgefühl hinein und sonnt sich in meiner Bewunderung. Da steht die Gefangene nun und läßt ihren Wachmann arbeiten, und die Reitpeitsche liegt ganz still auf der Brüstung, als ob sie vergessen habe, wozu sie eigentlich mitgenommen worden war. Als zum Rückmarsch in das Polizeigefängnis gerufen wurde, war der riesige Holzhaufen fertig gespalten. Die Gefangene hat dazu nichts weiter getan als die Scheite geschichtet.

Der Tag der Entlassung aus dem KZ war gekommen. Es war üblich, daß die zur Entlassung kommenden Häftlinge, nachdem sie alle Stationen – Bunker, Bad, Arzt, Kleiderkammer, politische Abteilung usw. passiert hatten, zuletzt noch der Oberaufseherin vorgestellt wurden. Sie wurden von ihr auf ihre Besserung überprüft und bekamen gute Ermahnungen auf den Weg in die Freiheit. Lagergerüchte wollten wissen, daß die recht ordentliche Oberaufseherin gerade damals wegen ihres zu milden Verhaltens gegenüber den Häftlingen selbst im Gefängnis säße. Tatsache war jedenfalls, daß seit ein paar Tagen sie niemand gesehen hatte. Kein Wunder, daß ängstliche Gedanken uns bedrängten. Wer würde uns nun den Abschied geben, und wie würde das vor sich gehen?

Außer mir kamen zwei andere zur Entlassung, jüngere Frauen vom Lande. Wie üblich mußten wir eine geraume Zeit vor dem Dienstzimmer der Oberaufseherin warten. Dann wurden wir hineingerufen und mußten uns in strammer Haltung – obwohl schon in unseren eigenen Kleidern – gegenüber dem Schreibtisch aufstellen. Ich stand als Letzte. Da saß eine der älteren Aufseherinnen, die sonst in der Verwaltung beschäftigt war. Ich hatte sie als streng und kühl, aber gerecht kennengelernt. Trotz ihrer kessen Uniform wirkte sie fast ebenso verlegen und hilflos wie wir drei in unserer Aufregung. Denn sie hatte wohl noch nie eine solche Entlassungsbesprechung gehalten. Anweisungen dazu hatte man ihr anscheinend nicht gegeben. Sie wandte sich an die dem Fenster Zunächststehende: „Warum warst du hier?“ – „Weil ich mit einem Polen gegangen bin.“ – „Wirst du wieder mit einem Polen gehen?“ – „Nein.“ Der Fall war erledigt.

Nun kam die Nächste dran. „Weswegen warst du hier?“ – „Weil ich Butter schwarz verkauft habe.“ – „Wirst du wieder Butter schwarz verkaufen?“ – „Nein.“

Nun kam die Reihe an mich. Was sollte ich nur dieser Frau, die den kirchlichen Dingen so fremd war, über meine Arbeit für die getauften Juden sagen? Über meinen Kampf, ihnen in der evangelischen Kirche die Anerkennung als Brüder und Schwestern in Christus zu verschaffen und zu erhalten! Über meinen inneren Drang, gerade jenen Verachteten zu helfen, die um ihrer Not willen besondere Liebe brauchen. Was würde sie von dem Rundschreiben verstehen, das ich deswegen an die Breslauer Pfarrer verfaßt hatte? Noch war ich nicht mit meinen Überlegungen zu Ende, da traf mich schon die gefürchtete Frage: „Warum bist du hier gewesen?“ Ich, halb besinnungslos: „Weil ich einen Brief geschrieben habe.“ Wenn ihr die Antwort nicht genügte, konnte sie ja weiter fragen. Und schon fragte sie – ich traute meinen Ohren nicht – „Wirst du wieder Briefe schreiben?“ Merkte sie denn die Torheit dieser Frage nicht? Und schon war’s heraus: „Nein.“ – „Es ist gut, ihr könnt gehen.“ Sie schellte, und die junge Aufseherin trat herein, die uns im Geschwindschritt zur Bahnstation brachte, an den Zug, der in die Heimat fuhr.

Noch heute muß ich lächeln, wenn ich an diese Szene denke! Und wenn meine Angehörigen mich einen Brief schreiben sehen, necken sie mich: „Hast du nicht versprochen, nie wieder Briefe zu schreiben?“ Und ich selber nehme das Versprechen als Grund, meine Schreibfaulheit zu beschönigen.

Vom Wunder in der Schwachen

Von Charlotte Staritz

Wenn ich nun zum Abschluß noch ganz kurz etwas aus dem Leben meiner Schwester hinzufüge, so tue ich das, weil ich darum gebeten worden bin und weil vielleicht dadurch noch deutlicher wird, was meine Schwester dazu bewogen hat, die Verse mit den kurzen Aufzeichnungen aus der Zeit ihrer Haft einem größeren Kreis von Menschen zugänglich zu machen.

Es könnte sein, daß ein Leser zum Schluß das Büchlein aus der Hand legt mit den Gedanken: „Ach, wer doch erst so weit wäre!“ und damit in meiner Schwester einen Menschen zu sehen meint, dem es durch die Gewißheit des Glaubens leichter gewesen sei, allen Bedrohungen und Versuchungen zu widerstehen. Daß dies nicht der Fall war, wird ja schon in dem Abschnitt „Versuchungen“ deutlich.

Eine grausame Begleiterin war meiner Schwester von früher Kindheit an für ihren Lebensweg zur Seite gestellt: Die Angst.

Schon als ganz kleines Mädchen, so erzählten die Eltern, hatte sie große Bange vor den Hunden unserer Nachbarn, die spielend und kläffend um sie herum sprangen. Die Erwachsenen trösteten sie immer mit den Worten: „Der tut dir nichts!“ Dieses Wort der Großen nahm sie gleich einer Zauberformel auf und gebrauchte es als Waffe gegen die Furcht, wenn sie klopfenden Herzens allein an einem so „gefährlichen“ Tier vorübergehen mußte; sie sprach dann laut vor sich hin: „Der tut dir nichts!“ Die Furcht als heimliche Begleiterin wurde für sie bedrückender, als in den ersten Schuljahren die Dinge ihrer Umgebung für sie die Gestalt der Märchenwelt annahmen, in der sie intensiv zu leben begann. Sie erzählte später, daß der alte Park, in dem unsere Mutter öfter mit ihr spazieren ging, für sie immer der Märchenwald aus Hänsel und Gretel gewesen sei und daß sie vor diesen Spaziergängen immer große Angst gehabt habe, weil sie fürchtete, die Mutter würde sie wie einst Hänsel und Gretel darin aussetzen. Diese Furcht wuchs mit ihr in die Jugendzeit hinein und begleitete sie in schrecklichen Angstträumen.

Ein Erlebnis möchte ich noch kurz anführen: Meine Schwester war schon mehrere Jahre als Stadtvikarin in Breslau tätig. Es war im Sommer 1941. Die Lage der nichtarischen Gemeindeglieder, die ihr zur Betreuung anvertraut waren, spitzte sich immer stärker zu. Wir verlebten unseren letzten gemeinsamen Urlaub in Kärnten. Nach einer wunderschönen Wanderung über die Millstädter Alp wanderten wir zum Abstieg. War der Aufstieg heiter und fröhlich und von allerlei humoristischen Erlebnissen unterbrochen, so schien es uns beim Ab­stieg, als ob sich eine gewisse Bedrückung unserer bemächtigte. Die Gespräche kreisten um das Schicksal der nichtarischen Schützlinge, und wir ahnten die Bedrohung, die diesem ganzen Arbeitsgebiet bevorstand. Da überkam meine Schwester plötzlich ein Schwäche­anfall, sie mußte sich auf den Waldboden legen und war für länger als eine Stunde unfähig weiter zu gehen. Wie sie später sagte, sei es damals die Angst vor dem Unbekannten, das auf sie zukam, gewesen, was ihre Kräfte plötzlich lähmte. Zwei Monate später begann dann der Konflikt, der im Frühjahr 1942 zu ihrer Verhaftung führte.

Mir, die ich damals wohl als einziger Mensch um diese verborgene Not meiner Schwester wußte, wurde nun doppelt bange um sie, weil ich mir nach diesem letzten Ferienerlebnis nicht vorstellen konnte, daß sie all das, was ihr nun auferlegt wurde, überleben würde. –

Und dann geschah es, daß sie, wunderbar bewahrt, wider alles menschliche Erwarten unserer Familie und darüber hinaus der Gemeinde zu neuem und reicherem Dienst wiedergeschenkt wurde. Auch dieser neue Dienst begann unter dem Zeichen der Angst mit der Flucht aus der Heimat.

Darum, weil sie selbst um das Versagen aller menschlichen Kräfte unter dem Banne der Angst wußte, durfte sie Zuflucht und Beraterin für viele Geängstigte sein und durfte ihren Blick aus der Angst auf den hinwenden, der gesagt hat: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Joh. 16,33)

Die Erfahrung, daß mitten in aller Angst Christus uns hält, wo wir versagen, hat sie bewogen, das Büchlein besonders all denen zu widmen, die in unserer Zeit von mancherlei Ängsten bedrängt und versucht werden, damit es ihnen Trost, Wegweiser und Hilfe werden möchte. Der Trost aber liegt für uns auch darin, daß wir es hier, wie Gertrud von Le Fort sagt, „nicht mit dem Sieg einer Heldin zu tun haben, sondern mit dem Wunder in der Schwachen“.

Hier der Text als pdf.

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