Über Karl Barth in seiner Frühzeit
Von Eduard Thurneysen
Karl Barth war von 1911—1921 Pfarrer in Safenwil. Bedenken wir diese Jahreszahlen. Sie umgrenzen eine überaus bewegte Zeit. Der Erste Weltkrieg bricht aus, schwere soziale Erschütterungen werden dadurch ausgelöst. Die Schweiz erlebt die Mobilmachung der Armee zum Schutz der Grenzen und nach Abschluss des Krieges einen Generalstreik als Protest gegen die um sich greifende Verarmung. Die wehrfähigen Männer mussten zu langfristigem Waffendienst einrücken, verloren also weithin ihren Verdienst, ohne dass dieser durch Staat oder Gemeinde ersetzt worden wäre. Im April 1917 reist Lenin von Zürich aus in plombiertem Wagen, damit er nicht etwa schon in Deutschland aussteige, nach Russland und führt dort die Revolution zum Siege. In Deutschland läuft der Krieg ebenfalls in eine Revolution aus. Und dann reift der Nationalsozialismus heran. Adolf Hitler tritt auf und wird Reichskanzler, ja Reichspräsident. Der Kirchenkampf bricht aus. Alle diese Entwicklungen und Verwirrungen erlebt Barth als politisch interessierter und bewegter Mann aus nächster Nähe schon in seiner Aargauer Zeit. Und erst recht nach seiner Übersiedlung nach Deutschland. Sie bedeuteten für ihn wie für alle seine Zeitgenossen eine tiefe Erschütterung, eine in ihrer Bedeutung nicht zu überschätzende Begegnung mit der Wirklichkeit des damaligen Lebens. Aber wohlverstanden, nicht diese Erschütterung, nicht die damalige Krisensituation als solche ist es, was für Karl Barth den entscheidenden Anstoss bedeutet hat zu seinem theologischen Aufbruch, so gewiss die Krise der Zeit dazu führte, dass dieser Aufbruch fällig wurde. Dessen eigentlicher Sinn 5 und Gehalt aber wurzelt in einer ganz andern Tiefe.
Wenden wir uns diesem Aufbruch zu. Barth selber hat unmittelbar vor seinem Tode sehr genau dargelegt, was unter einem Aufbruch im Raum von Kirche und Theologie zu verstehen sei. Denn darum handelt es sich bei ihm schon in seinen Anfängen und später immer wieder neu in seinem ganzen Denken und Handeln. «Aufbrechen als solches» — so sagt er — «findet da statt, wo ein Bisheriges veraltet ist und Zurückbleiben muss, indem es vergangene Nacht geworden ist, und wo an seiner Stelle ein Neues sich ankündigt, ein neuer Tag im Kommen ist. Wo beides miteinander wahr ist und als wahr erkannt wird, da ereignet sich Aufbruch. Aufbrechen vollzieht sich also in einer Krisis. Entschlossener Abschied wird da genommen von einem Bekannten, jetzt noch sehr Nahen, und entschlossene Zuwendung findet da statt zu einem noch Fernen, in Hoffnung Bejahten, das (freilich) den Nachteil hat, in seiner herrlichen Gestalt noch reichlich unbekannt zu sein.» (Aus «Letzte Zeugnisse», EVZ-Verlag Zürich 1969.)
Besser als mit diesen Sätzen Barths könnte man das nicht beschreiben, was damals in den Jahren 1913—1921 in Barths Gemeinde Safenwil und — ich darf mich ja dazu rechnen — in meiner damaligen Gemeinde Leutwil sich an uns ereignet hat.
Also: Weltgeschichtliche Erschütterungen und Not im eigenen Lande — das steht am Anfang des Aufbruchs, den Barth jetzt in Gang bringt. Er erkennt die tiefe Notwendigkeit einer Veränderung und Erneuerung der gesellschaftlichen und kirchlichen Verhältnisse ringsum. Lind er stellt sich an seinem Orte dem Gebot der Stunde. Er sieht sich als Pfarrer seiner Industriegemeinde dazu aufgerufen, der arbeitenden Bevölkerung in ihrer Notlage beizustehen. Er tut das, indem er sich wie andere Pfarrer auch selbstverständlich an allerlei Wohlfahrtsdiensten beteiligt. Aber das sind Tropfen auf einen heissen Stein. Und Barth genügt das nicht. Er tritt 1915 in die sozialdemokratische Partei ein, um solidarisch an der Seite der organisierten Arbeiter sich für den Aufstieg der bedrückten lohnarbeitenden Bevölkerung einzusetzen. Er vertieft sich eingehend in sozialistische Literatur, hält Kurse und Vorträge über die anstehenden politischen und sozialen Probleme und wendet viel Zeit und Kraft an diese Arbeit. Als deren Ergebnis liegt eine ganze Reihe von Niederschriften seiner Ansprachen und Kursentwürfe vor, die aus dem Nachlass veröffentlicht werden sollen. Er wird «der rote Pfarrer von Safenwil» genannt und erfährt Angriffe aus bürgerlichen Kreisen.
Aber das alles ist nur die eine und für ihn selber nicht einmal die hauptsächliche Seite seiner Arbeit. Er ist und bleibt ja Pfarrer und vergisst das keinen Augenblick. Sonntag für Sonntag steht er auf der Kanzel und hält seine schriftlich wohlvorbereiteten Predigten. Viele Hunderte solcher Predigtmanuskripte aus dieser Zeit liegen vor und harren der Veröffentlichung. Man wird daraus ersehen, wie intensiv Barth neben seiner politischen Tätigkeit theologisch geforscht und weitergearbeitet hat. Zeugnis davon ist die berühmt gewordene, damals verfasste Auslegung des Römerbriefes, in welcher er auch seine Erkenntnis der politischen Lage und Aufgabe theologisch verarbeitet hat. Dazu kommt seine unablässige Bemühung um eine neue Art der Erteilung seines Konfirmandenunterichts. Auch davon liegen ausführliche Entwürfe vor. Barth ist also nicht nur Sozialist, sondern er ist in dieser Frühzeit mit ganzem Einsatz und auf völlig neuen Wegen auch zum Theologen geworden. Was hat ihn dazu inspiriert und getrieben? Wir haben nun zu bedenken: schrecklicher als die Kriegsbegeisterung, die damals das deutsche Volk ergriff und beherrschte, war für Barth die Tatsache, dass die Kriegsideologie gerade in der deutschen Theologie und Kirche um sich griff. Er sah mit Entsetzen, wie seine von ihm verehrten theologischen Lehrer ihr verfielen. Ein kleines Beispiel: Als Barth 1915 nach Marburg reiste, — ich war dabei — um an der Hochzeit seines Bruders teilzunehmen, der die Tochter eines führenden deutschen Theologen heiratete, stiess Barth sehr direkt auf diese kirchlich-theologische Kriegshysterie. Wir sassen eines Abends zusammen mit dem zum Politiker gewordenen Theologen Friedrich Naumann, einem Onkel der Braut, und hörten Naumann sagen: man sehe jetzt, wie gut man doch «die Religion für Zwecke der Kriegsführung brauchen könne». Barth fuhr auf: «Was sagen Sie, die Religion brauchen?, darf man, kann man das?» Dazu gehört das Weitere, dass Barth und ich auf der Heimreise zu Pfarrer Christoph Blumhardt in Bad Boll gingen zum Erstaunen der in Marburg anwesenden Theologen, die uns rieten, besser bei Prof. Ernst Troeltsch in Heidelberg vorzusprechen. Wir führten dann Gespräche mit Blumhardt und hörten ihn im Blick auf die Lage sagen: «Welt ist Welt, aber Gott ist Gott!» Barth hat später diese Parole aufgenommen und auf seine Weise ausgelegt. Die Reichsgottesbotschaft Blumhardts wurde ihm zur wichtigen Leitlinie. Es war und blieb für ihn unfasslich, dass Gott und sein Wort im Raum der damaligen Kirche zur Erreichung irdisch-politischer Zwecke missbraucht werden könne. Er sah darin einen tiefen Zerfall und konnte sich den neuen Weg, den er für Kirche und Gesellschaft erhoffte und suchte, nur denken in einer grundlegend neuen Besinnung auf Gottes Wort und seine Verheissung. Und das trieb ihn jetzt tief in theologische Arbeit. Es kam zu einer Abrechnung mit der ganzen herrschenden Theologie und zum Legen neuer Fundamente, auf denen sowohl die kirchliche wie die politische Arbeit ruhen könnten. Er trachtete nach einer neuen Verkündigung der biblischen Verheissung vom Reiche Gottes und damit zugleich nach einem, mit Bonhoeffer zu reden, neuen «Tun des Gerechten» draussen im Raum der Gesellschaft und Politik. Es wurde ihm klar: Die Erneuerung aller Dinge in der Welt kann nur geschehen aus einer Erneuerung des Glaubens. Daran begann Barth zu arbeiten. Darum wählte er nicht politisches Tun als seinen Hauptberuf, so nahe es ihm gelegen hat, Redaktor, Grossrat oder Nationalrat zu werden. Aber er bleibt Pfarrer und wird als solcher zum Theologen von grossem Format. Er gibt sein politisches Tun im Raum seiner Gemeinde keineswegs auf, er bleibt Sozialist, aber nicht zufällig zieht sich durch seine politischen Reden jener Zeit der Versuch hindurch, seine Zuhörer auf das Evangelium hinzuweisen, wie er es jetzt neu zu lesen und zu verstehen beginnt.
Und nun gilt es hinzuweisen auf das Aufsehen erregende Buch, das Friedrich-Wilhelm Marquardt geschrieben hat unter dem Titel «Theologie und Sozialismus, Das Beispiel Karl Barths». Marquardt weist mit grosser Sachkenntnis hin auf die sozialistisch-politischen Implikationen, die Karl Barths ganzes Lebenswerk durchziehen. Sein Buch bedeutet insofern geradezu eine Entdeckung, als es ein Bild Karl Barths entwirft, wie wir es bisher so nicht kannten. «Karl Barth ist Sozialist.» Das ist seine These. Die weiterschreitende Barthforschung wird daran nicht vorbeigehen können, sondern muss sich damit auseinandersetzen und aufnehmen, was hier zutage gefördert worden ist. Wir halten aber daran fest, dass der Ausgangspunkt und die innerste Motivation von Karl Barths Denken und Handeln der eben geschilderten innern Situation des Pfarrers entspringt, dem die ganze überlieferte Theologie und das ihr entsprechende Pfarrerdasein tief fraglich geworden sind, weil Theologie und Kirche seiner Zeit der Problematik des in tiefe politische und gesellschaftliche Krisen geworfenen Lebens des Menschen von heute nicht mehr gewachsen waren. Barth stand in einer Gemeinde, die von diesen Krisen geschüttelt war. Er las, wie er selber sagt, täglich die Zeitung und sah diese Krisen weltweit aufbrechen. Er las jedoch weiter und weiter auch seine Bibel und musste dabei in steigendem Masse erkennen, dass das biblische Wort so, wie er es nach Anweisung der bisherigen Theologie las, keine Antwort hergab auf die drängenden Fragen von Zeit und Welt. Also musste er ganz neu die Augen öffnen, um das Zeugnis der Propheten und Apostel so zu erfassen, dass er zu Antworten vorstiess, die wirklich erhellend, helfend und rettend in die weltweite Not seiner Zeit hineinleuchteten. So wurde er zum Theologen, der einen neuen Zugang zum Worte Gottes erschloss, und der zugleich zu einer sozialistisch-politischen Praxis durchstiess. Es ist das Verdienst Marquardts, dass er unnachgiebig darauf hinweist, dass man danebengreift, wenn man Barths Neuentdeckung der biblischen Botschaft isoliert als Werk eines Gelehrten verstehen will, der in einem pietistischen oder existentialistischen Ghetto lebt. Barth ist nicht nur «Hieronymus im Gehäuse», der ist er wohl auch, aber zugleich ist er der Kämpfer für Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit, der vom Evangelium her die Not der ganzen Welt als das Feld sieht, auf dem es zu wirken gilt. Es muss, wie Barth gelegentlich zu sagen pflegte, zwischen Bibel und Zeitung zu blitzen beginnen wie zwischen den beiden Polen eines elektrischen Lichtbogens, damit es hell wird auf Erden.
Barths Theologie ist also praxisbezogen. Das ist Marquardts These, und er erhebt damit den Anspruch, dass jede Art von Theologie daraufhin befragt werden muss, ob und wie sie dieser These gerecht wird. Sein Sozialismus dient, so meint es Marquardt, dazu, das Realwerden des in Christus erschienenen jenseitigen Heils in der irdisch-diesseitigen Welt aufleuchten zu lassen. Um die Botschaft vom Hereinbrechen des jenseitigen Reiches ins Diesseits geht es Barth lebenslang. Das zeigt sich bei ihm in der Christologie. Christus entäussert sich seiner göttlichen Herrlichkeit, er «wird niedrig und gering», um hier auf Erden das Werk der Errettung an allen Niedrigen und Geringen zu vollbringen. Dieses Reich ist für Barth keine Utopie, die aus menschlicher Kraft zu verwirklichen wäre. Die vollkommene Gesellschaft, den gerechten Staat, die bell friedete Völkerwelt, also den Himmel auf Erden können wir Menschen nicht schaffen, weil uns durch Sünde und Tod Grenzen gesetzt sind, die wir von uns her nicht überschreiten können. Gott allein kann sie überwinden. Ja, er hat sie in Jesus Christus schon überwunden. Diese Überwindung der Mächte der Bosheit und des Todes wird im Anbruch seines Reiches endgültig an den Tag treten. Das bedeutet für uns nicht Resignation, sondern Hoffnung, die uns zu einem immer erneuten Exodus aus den Gefängnissen dieser Welt antreibt im Trachten nach der kommenden, endgültigen Erlösung. Solches Hoffen und Trachten lässt nicht zu Schanden werden. Unter dieser Verheissung steht für Barth echter Sozialismus. Er ist reales Zeichen unseres Erwachens für das Kommen der neuen Welt der Gerechtigkeit und des Friedens.
Quelle: Eduard Thurneysen, Karl Barth – «Theologie und Sozialismus» in den Briefen seiner Frühzeit, Zürich: Theologischer Verlag, 1973, S. 5-12.