Paul Schempp, Brief an eine Schwermütige in der Heilanstalt G. (1945): „Wenn ich könnte, so würde ich Sie zu Weihnachten holen und Ihrer Mutter und Schwester bringen, und Sie müssten die Engelein singen hören, bis auch Ihnen das Herz im Leibe lacht: »Ja, in dir ist Freude in allem Leide, o du süßer Jesus Christ!« Aber so oder so, Sie werden bald aus Ihrer Höhle herauskommen und sich wundern müssen, »wenn Er, wie Ihm gebühret, mit wunderbarem Rat das Werk hinausgeführet, das dich bekümmert hat«.“

Brief an eine Schwermütige in der Heilanstalt G.

Kirchheim, den 12. Dezember 1945

Liebe Frau N.!

Mit Erschrecken und Trauer habe ich neulich erfahren, daß Sie wieder in G. sind. Ihre liebe Mutter erzählte mir Genaueres über Ihr Befinden. Nun glauben also auch Sie wieder wie so manche liebe und angefochtene Christen, daß der Satan mehr Macht über Sie habe als der Sohn Gottes, dem alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist. Da kommt nun Weihnachten, und die Engel und der ganze Himmel freuen sich, daß uns der Heiland und Retter geboren ist, und Sie schließen sich aus von der Freude, kramen in Ihrem eigenen Herzen und Ihren eigenen Gedanken herum und finden da bloß müdes Versagen, Schwäche, Verwirrung, Überdruß, tolle Begehrungen und Sünde. Sie meinen vielleicht, es sei Überheblichkeit oder ehrgeizige Absicht, Ihr Vertrauen zu gewinnen, wenn ich Ihnen sage: das alles kenne ich aus eigener Erfahrung sehr genau. Da müßte ich schon zwanzig Jahre in G. sein und mich selber und meine Angehörigen beklagen und plagen, wenn Sie auch nur einen Schimmer von Recht und Wahrheit hätten bei dem, was Sie so ernst nehmen und was doch nur Ihre Einbildung ist. Sie wollen den Heiland aus dem Elend Ihres Herzens, aus der Sünde Ihrer Gedanken, aus der Krankheit Ihrer Nerven ausschließen, und Er läßt sich nicht abweisen und will gerade da, bei den zerschlagenen und gedemütigten Herzen sein. Da singt die ganze Christenheit für Sie, weil Sie ja auch durch die Taufe zu ihr gehören: »Freue dich, freue dich, o Christenheit!«, und Sie wollen nicht hören, lieben sogar Ihren Trotz und schieben ihn auf den Teufel, anstatt den Herrn Jesus anzusehen, der längst Ihre Schwermut besiegt hat und sie bloß als Mittel gebraucht, daß Sie umso mutiger und herzhafter allein an seiner Verheißung hangen und beweisen, wie schnell die Trauergeister fliehen, wenn der Freudenmeister sein Machtwort spricht. Darf ich Sie herzlich bitten, sich doch nun lieber einmal mit aller Kraft die Wahrheit einzubilden anstatt den Irrtum, nämlich die unum­stößliche, Ihnen genau wie mir geltende Wahrheit, daß Er bei uns ist alle Tage bis an der Welt Ende und nichts uns scheiden kann von der Liebe Gottes? »Das ewig Licht geht da herein«, »es leucht’ wohl mitten in der Nacht«, in Ihrer Nacht, und macht Sie zum Kind des Lichts, auch wenn Sie es noch gar nicht fühlen. Denken Sie auch statt an sich an die Millio­nen, die in ganz anderem Jammer noch stecken als Sie und Menschen brauchen, die ihnen die Liebe Gottes zeigen. Das dürfen Sie tun in ganz kleinen, nötigen täglichen Arbeiten – ob’s gut oder mäßig vorwärts geht –, jedenfalls ist Er mächtig in Ihrer Schwachheit und ersetzt das bißchen Ohnmacht und Kranksein der Natur durch die Macht seiner göttlichen Wunderhilfe.

Wenn ich könnte, so würde ich Sie zu Weihnachten holen und Ihrer Mutter und Schwester bringen, und Sie müßten die Engelein singen hören, bis auch Ihnen das Herz im Leibe lacht: »Ja, in dir ist Freude in allem Leide, o du süßer Jesus Christ!« Aber so oder so, Sie werden bald aus Ihrer Höhle herauskommen und sich wundern müssen, »wenn Er, wie Ihm gebühret, mit wunderbarem Rat das Werk hinausgeführet, das dich bekümmert hat«.

Haben Sie ein wenig Vertrauen zu mir und schreiben Sie mir, was Ihnen so Angst macht. Ich weiß einen, der uns gesagt hat: »In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost! ich habe die Welt überwunden.«

Der Gott allen Trostes erhöre unser Gebet und mache Sie fröhlich und gesund und bewahre Ihren Geist ganz samt Seele und Leib, wie er versprochen hat und auch halten wird.

Mit herzlichem Weihnachtsgruß

Ihr Paul Schempp

Quelle: Paul Schempp, Briefe, ausgewählt und herausgegeben von Ernst Bizer, Tübingen: J.C.B Mohr, 1966, S. 82-84.

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