Predigt über Psalm 119,96 (Mai 1945)
Von Pfarrer Friedrich Wilhelm Hopf
Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserm Vater und dem Herrn Jesu Christo, der da ist und der da war und der da kommt! Amen.
Höret mit andächtigen Herzen heute als Predigttext Gottes Wort, das geschrieben stehet Psalm 119, Vers 96: „Ich habe alles Dinges ein Ende gesehen; aber dein Gebot währet.“ Amen.
Gemeinde des Herrn!
„Gottes Mühlen mahlen langsam, mahlen aber trefflich fein, was durch Langmut er versäumet, holt durch Schärf Er wieder ein“, – in diesem alten Merkvers fassen wir heute zusammen alles, was unsere Herzen erschüttert beim Rückblick auf die Ereignisse und Nachrichten der letzten Woche. Es geht nicht darum, daß wir jetzt an dieser heiligen Stätte persönliche Empfindungen aussprechen. Ich kann und darf auch nicht die allgemeine Stimmung hier zum Ausdruck bringen. Sondern es kommt darauf an, daß wir die geschichtlichen Tatsachen erkennen im hellen Lichte des Wortes Gottes. Es wird jetzt gefordert von der Gemeinde Jesu Christi in deutschen Landen, daß wir alle uns beugen unter Gottes gewaltige Hand, daß wir ernstlich hören auf das Zeugnis der ewigen Wahrheit und daß wir lernen, zu beten von Herzensgrund „Ja, Herr, allmächtiger Gott, deine Gerichte sind wahrhaftig und gerecht!” (Offenb. 16, 7.) Wir wollen nicht schelten und nicht jammern, wenn wir reden über die Tatsachen vor die uns Gott der Herr jetzt gestellt hat, sondern wir wollen betend davon sprechen, indem wir uns beugen vor Gott und Buße tun für unsere Sünden und für die Schuld unseres Volkes. Nur dann entspricht heute unser Gottesdienst auch dem Sonntagsnamen: Rogate! Das heißt: Betet! Dazu mögen uns der Predigttext aus dem 119. Psalm gesegnet sein. Ich will euch heute gestehen, daß ich dieses Gebetswort schon seit vielen Jahren bestimmt habe für den nächstfolgenden Sonntag, wenn die Ereignisse würden eintreten sein, die wir immer erwartet haben und die nun tatsächlich eingetreten sind, freilich viel furchtbarer und grauenhafter, als wir alle hätten ahnen und befürchten können. „Ja, Herr, allmächtiger Gott deine Gerichte sind wahrhaftig und gerecht!“ –
Unser Predigttext steht im Psalm 119, Vers 96, und lautet: Ich habe alles Dinges ein Ende gesehen; aber Dein Gebot währet! Schon oft habe ich dieses Psalmwort angeführt in der Predigt, im Unterricht und bei besonderen Gelegenheiten, weil ich wusste, daß wir alle die Wahrheit dieses Spruches noch würden erfahren müssen in bitterer Weise. Heute will ich nun versuchen, euch eine Auslegung und Anwendung dieses Textes zu geben, indem wir miteinander zwei Fragen betend beantworten: 1. Was ist zu Ende? Und 2. Was bleibt? – Noch einmal sei es gesagt: wir reden jetzt von den Dingen nicht, um zu schelten oder um zu jammern, sondern beten wollen wir und vor Gott dem Herrn aussprechen: Ich habe alles Dinges ein Ende gesehen; aber dein Gebot währet.
I.
Wir fragen zuerst: Was ist zu Ende? Der Psalmist betet: Ich habe alles Dinges ein Ende gesehen. Wir müssen diesen Satz nachsprechen. Hinter uns liegt ein Zeitraum der Menschenvergötterung und Erfolgsanbetung wie nie zuvor in der Geschichte unseres Volkes. Es wurde nicht mehr gefragt nach dem heiligen, lebendigen Gott und nach seinem Willen. Und doch lässt sich Gott nicht spotten, sondern straft den Missbrauch seines heiligen Namens. Die heiligen 10 Gebote galten nicht mehr als der unverbrüchliche Maßstab des Urteils über Recht und Unrecht, Gut und Böse, Wahrheit und Lüge. Sondern wir hatten auf der einen Seite die
frevelhafte Selbstüberhebung derer, die sich hinwegsetzten über alle Ordnungen Gottes, weil ihre Macht sich gründete auf Lüge, Ungerechtigkeit, Mord und den grausamen Mißbrauch der obrigkeitlichen Gewalt, – ganz so, wie Luther einmal diese Art beschreibt, wenn er ihre Gesinnung ausdrückt mit den Worten: „Wir haben Recht und Macht allein; was wir setzen, das gilt gemein; wer ist, der uns sollt meistern?“ Auf der anderen Seite hatten wir die große Masse unseres Volkes, die sich verführen, betören und verblenden ließ, – teils im falschen Vertrauen auf Menschenworte, irdische Machtmachtmittel und scheinbare Erfolge, teils aus Furcht und unter dem Zwang. Nun ist das alles aus und vorbei. Zerbrochen und jämmerlich zu Schanden geworden ist alles, was man uns noch jahrelang hoch gepriesen hat, als sei es unvergänglich und heilbringend. Zerbrochen und zu Schanden geworden ist all das, wofür so viele Menschen haben leiden und sterben müssen, die Macht, durch welche unsägliches Herzeleid gebracht worden ist zuerst über viele andere Völker und nun über unser eigenes Volk. Zerstörte Städte, Berge von Leichen, Millionen von Gefangenen, Enthüllungen über Verbrechen und Greueltaten von ungeahnter Grausamkeit, Wahnsinn, Verzweiflung, Selbstmord – das ist das Ende, wahrlich ein Ende mit Schrecken, wie es uns immer wieder vorausgesagt worden ist durch Gottes Wort, auch von dieser Kanzel, seit vielen Jahren; ein Ende mit Schrecken, das uns angedroht worden ist besonders auch durch Luthers gewaltige Gerichts- | Prophezeiungen über das unbußfertige Deutschland; das Ende mit Schrecken, wie es längst mit Furcht und Zittern geahnt wurde von denen, die ihre Knie nicht gebeugt hatten vor den Götzen der Zeit.
Was wollen wir dazu sagen? Der Herr hat’s getan! Luk. 1, im Lobgesang der Maria, steht geschrieben: Er übet Gewalt mit seinem Arm und zerstreuet, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Stuhl (V 51-52). Was sollen wir dazu sagen? Die Antwort steht im Psalm 73, im Gebet Asaphs: „Es verdroß mich der Ruhmpredigten, da ich sah, daß es den Gottlosen so wohl ging. Denn sie sind in keiner Gefahr des Todes, sondern stehen fest wie ein Palast. Sie sind nicht im Unglück wie andere Leute und werden nicht wie andere Menschen geplagt. Darum muß ihr Trotzen köstlich Ding sein, und ihr Frevel muß wohlgetan heißen. Ihre Person brüstet sich wie ein fetter Wanst; sie tun, was sie nur gedenken. Sie achten alles für nichts und reden übel davon und reden und lästern hoch her. Was sie reden, das muß vom Himmel herab geredet sein; was sie sagen, daß muß gelten auf Erden. Darum fällt ihnen ihr Pöbel zu und laufen ihnen zu mit Haufen wie Wasser und sprechen: „Was sollte Gott nach jenen fragen? Was sollte der Höchste ihrer achten?“ Siehe, das sind die Gottlosen; die sind glückselig in der Welt und werden reich. … Ich dachte ihm nach, daß ich begreifen möchte; aber es war mir zu schwer, bis daß ich ging in das Heiligtum Gottes und merkte auf ihr Ende. Ja, du setzt sie aufs Schlüpfrige und stürzest sie zu Boden. Wie werden sie so plötzlich zunichte! Sie gehen unter und nehmen ein Ende mit Schrecken. Wie ein Traum, wenn einer erwacht, so machst du Herr, ihr Bild in der Stadt verschmäht“ (V. 3-12, 16-20).
Wenn wir diese Psalmworte heute aussprechen, so tun wir es nicht als Zuschauer, die selbst unbeteiligt wären. Wenn ihr im Rundfunk darüber hört, so klingt es dort anders. Wir können nicht in derselben Weise sprechen, denn es geht ja immer um unser eigenes Volk, um unsere eigene Zukunft und um unsere Gegenwart. Deshalb reden wir als eine betende Gemeinde, die sich beugt unter Gottes Gericht mit dem Bekenntnis der eigenen Schuld. Wir werfen jetzt nicht Steine auf andere, sondern schlagen an die eigene Brust und rufen: o unsere Schuld, unsere Schuld unsere übergroße Schuld! Denn wir haben oft geschwiegen, wo wir als Kirche Jesu Christi in Deutschland hätten laut reden und deutlich Zeugnis geben müssen: Es ist nicht recht! Wir hätten reden müssen zur Judenfrage. Wir hätten reden müssen um Mord an den Blöden in den Heil- und Pflegeanstalten. Wir hätten reden müssen zu dem großen Unrecht an anderen Völkern und zu der unheimlich anwachsenden Menschenvergötterung. Gewiß, es ist geredet worden, nicht nur von den tapferen katholischen Bischöfen, die durch ihr Zeugnis die Ehre des christlichen Namens hochgehalten haben; es ist auch auf evangelischer Seite gegen das Unrecht Zeugnis abgelegt worden. Aber doch nur vereinzelt, nicht allgemein. Im Großen und Ganzen wurde wohl in christlichen Kreisen oft geseufzt und geflüstert, aber nicht deutlich geredet. Stattdessen ist man lieber mitgelaufen, hat mitgeschrieen und mitgesungen, wo für einen Christen ein ernstes Schweigen das Richtige gewesen wäre. So war’s überall in Deutschland. So war’s auch in Mühlhausen. Denkt ihr noch an den November 1938, wie es damals in unserem Dorfe zuging, an jenem trüben Tag, der für immer ein häßlicher Schandfleck in der Geschichte unserer christlichen Gemeinde bleiben wird? Wißt ihr noch, was man damals unserer Schuljugend angetan hat, als man sie von Haus zu Haus führte dorthin, wo Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit verübt wurden, als man in den Herzen unserer getauften Kinder wirklich mehr zerschlug als die Scherben von Glas und Porzellan von damals? Wer aber hat damals laut und deutlich gesagt: Es ist nicht recht!? Ist nicht das Schweigen in solchem Fall auch eine Mitschuld? Und dann kam später ein Sonntagvormittag, da wurde in öffentlicher Versammlung zur Zeit unseres Hauptgottesdienstes das heilige Abendmahl verspottet mit der lästerlichen Rede, es sei Menschenfresserei, wie die Kannibalen sie trieben. Und gegen solchen Frevel erhob sich kein Sturm der Entrüstung, sondern es wurde dazu Beifall geklatscht, sogar von Frauen unserer christlichen Gemeinde. Endlich in den letzten Jahren, als viele Angehörige fremder Völker unter uns lebten und arbeiteten, teils als Kriegsgefangene, teils weil man sie aus ihrer Heimat verschleppt hatte, – wie sind sie behandelt worden? Teils hat man sie gut behandelt, anständig, menschlich, christlich, und das hat ja auch schon Segensfrüchte getragen! Aber teils war es auch anders; es hat ja leider oft gefehlt an Gerechtigkeit, an Mitgefühl und an christlicher Barmherzigkeit. Diese wenigen Beispiele mögen uns allen zum Bewußtsein bringen, wie auch unser Dorf und unsere Gemeinde mitverstrickt ist in die gemeinsame Schuld unseres Volkes. Deshalb sprechen wir betend vor Gott, indem wir und beugen unter sein Gericht: Ich habe alles Dinges ein Ende gesehen!
II.
Wir fragen zweitens: Was bleibt uns nun? „Ich habe alles Dinges ein Ende gesehen; aber Dein Gebot währet!“ Wie geschrieben steht, Jesaia 40: „das Gras verdorret, die Blume verwelket, denn des Herrn Geist bläst darein. Ja, das Volk ist das Gras. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich!“ Gottes Wort bleibt der einzige Trost für alle Betrübten und Verzagten, für alle Bekümmerten und Bedrückten. Gottes Wort allein bleibt der letzte Halt beim Zusammenbruch aller irdischen Stützen. Gottes Wort gibt uns klare Wegweisung, daß wir herauskommen aus aller Verirrung und Verwirrung.
Ich habe alles Dinges ein Ende gesehen, aber Dein Gebot währet. Wir müssen zurückkehren zum klaren Gehorsam gegen Gottes Gebote: Ich bin der Herr, dein Gott; du sollst keine anderen Götter neben mir haben! Du sollst den Namen deines Gottes nicht mißbrauchen! Du sollst den Feiertag heiligen! Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren! Du sollst nicht töten! Du sollst nicht ehebrechen! Du sollst nicht stehlen! Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten! Du sollst dich nicht lassen gelüsten deines Nächsten Haus! Du sollst dich nicht lassen gelüsten deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh, oder alles, was sein ist! Ich, der Herr dein Gott, bin ein eifriger Gott, der über die, so mich hassen, die Sünder der Väter heimsucht an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied; aber denen, so mich lieben und meine Gebote halten, denen tue Ich wohl bis in tausend Glied! „Gott dräuet zu Strafen alle, die diese Gebote übertreten. Darum sollen wir uns fürchten vor seinem Zorn und nicht wieder [sic] solche Gebote tun. Er verheißt aber Gnade und alles Gute allen, die solche Gebote halten. Darum sollen wir ihn auch lieben und vertrauen und gerne tun nach seinen Geboten.“ –
Was bleibt uns in dem großen Zusammenbruch? „Dein Gebot währet.“ ER hat uns geboten, zu predigen dem Volk und zu zeugen, daß ER ist verordnet von Gott ein Richter der Lebendigen und der Toten, und – daß durch seinen Namen alle, die an ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen sollen. (Apg. 10, 43). Wie Gottes Gesetz bleibt in seiner Kraft und Gültigkeit, so bleibt auch das teuerwerte Evangelium von dem gekreuzigten und auferstandenen Heiland der armen Sünder. Diese frohe Botschaft muß unserem Volk gerade jetzt verkündigt werden mit großer Kraft und Freudigkeit wie bisher. Denn es ist in keinem anderen Heil zu finden. Unsere Kirche braucht sich nicht umzustellen. Unser lutherisches Bekenntnis braucht den veränderten Verhältnissen nicht erst angepasst zu werden. Die Gemeinde des Herrn braucht nicht anders zu singen und zu beten, als wir es immer getan haben. Denn wir setzen unsere Zuversicht nicht auf Menschen; die können ja doch nicht helfen, wer sie auch sind und woher sie auch kommen mögen. Sondern wir vertrauen allein auf den lebendigen Herrn, der uns verheißen hat: „Siehe, Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende!“ (Matth. 28, 20) „Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt | unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken, wenngleich das Meer wütete und wallte und von seinem Ungestüm die Berge einfielen. Dennoch soll die Stadt Gottes sein lustig bleiben mit ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind. Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie fest bleiben. Gott hilft ihr frühe am Morgen“ (Psalm 46,2-6).
So finden wir betend vor Gott die Antwort auf die beiden Fragen: Was ist zu Ende? Und: was bleibt? Ich habe alles Dinge ein Ende gesehen; aber dein Gebot währet! – Rogate! Betet! Lasset uns mit allen unseren Anliegen betend zu unserem Gott und Herrn flüchten. Laßt uns beten für unser armes, liebes deutsches Volk, daß Gott ihm schenke Buße zum Leben! Lasset uns beten, daß Gottes heilige Gebote möchten anerkannt werden als die Grundlage aller Lebensordnungen in Haus und Familie, in Schule und Gemeinde und im ganzen Volk! Lasset uns beten, daß Gott der Herr uns endlich wieder schenken möchte eine echte Obrigkeit, „fromme und getreue Oberherrn, gut Regiment“, damit Recht und Gerechtigkeit geübt werden möchte und der Frieden erhalten bleibe nach innen und außen. Lasset uns auch nicht müde werden in der Fürbitte für alle unsere Soldaten, die jahrelang für uns gekämpft und geblutet haben und die nun, soweit sie noch leben, alle in Gefangenschaft geraten: „Herr, bringe wieder unsere Gefangenen, wie du die Bäche wiederbringst im Mittaglande. Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben“ (Ps.126, 4-6).
So halten wir den Sonntag Rogate am Ende des furchtbaren Krieges, auf einem Trümmerfeld ohnegleichen, mit dem Ausblick auf eine finstere Zukunft, als betende Gemeinde, die sich demütigt unter Gottes gewaltige Hand. Was ist zu Ende? Was bleibt? Ich habe alles Dinges ein Ende gesehen; – aber dein Gebot währet. – „Denn siehe, die von Dir weichen, werden umkommen; du bringest um alle, die von dir abfallen. Aber das ist meine Freude: daß ich mich zu Gott halte und meine Zuversicht setze auf den Herrn, daß ich verkündige all Dein Tun!“ (Ps. 73, 27,28) Amen.
Gehalten am Sonntag Rogate, 6. Mai 1945, gehalten in der Evangelisch-Lutherischen Pfarrkirche zu Mühlhausen (Oberfranken). Im Druck erschienen Mühlhausen 1945.
Quelle: LuThK 37 (2013), 224-231.