Peter Blickle, Christoph Schappelers „Reformation der Freiheit“ als theoretische Begründung von Bürgerrechten: „Für die von Schappeler entworfene neue politische Ordnung dienen die Verhältnisse in der römischen Republik und in der Eidgenos­senschaft als Vorbild. Folglich werden Freiheit als Status des Bürgers und politische Partizipation, von der hier angesichts der themati­schen Vorgabe nur am Rande zu reden war, als unverzichtbar ausgewiesen und ausdrücklich gegen die herrschenden Verhältnisse, Leibeigenschaft und tyrannisch entartete Herrschaft gekehrt. In Umrissen nimmt die Freiheit die Form von Bürgerrechten an, und in jedem Fall ist sie eine Abwesenheit von Leibeigenschaft.“

Christoph Schappelers „Reformation der Freiheit“ als theoretische Begründung von Bürgerrechten

Von Peter Blickle

Berndt Hamm hat sich als hervorragender Kenner von Huldrich Zwinglis Theologie einen Namen gemacht und seine Interpretation unter dem Titel ‘Zwinglis Reformation der Freiheit’ auf den Begriff gebracht[1]. ‘Freiheit’ dient ihm als Schlüsselbegriff des Zwinglischen Werkes. Freiheit hat zwei Seiten, eine weltliche und eine geistliche, eine diesseitige und eine jenseitige. „Die weltliche Gerechtigkeit und die durch eine beschirmende Rechtsgemeinschaft gewährte Freiheit werden zu der Form, in der ein Christ die ihn beschirmende Gerechtigkeit Christi und die den Nächsten beschirmende Gerechtigkeit der Liebe in der staatlichen Welt zur Geltung bringt; und umge­kehrt: nur in der Annäherung an die göttliche Gerechtigkeit, nur in der In-Dienst-Nahme durch den Geist Gottes kann die menschliche Gerechtigkeit des Staates eine gute Gerechtigkeit, eine wahre Freiheit, eine gelungene Politik sein”[2].

Zwinglis Freiheitsverständnis hat in der Herleitung durch Hamm zwei Wurzeln. Es erklärt sich einerseits aus der Differenz gegenüber der Zwei-Reiche-Lehre Martin Luthers. Luther hat zwischen einer Gerechtigkeit vor Gott und einer Gerechtigkeit vor den Menschen unterschieden und damit ecclesia und politia scharf getrennt, Zwingli hingegen „sieht die Gefahr in ihrem Auseinanderfallen, weil er der ratio eine eigene Fähigkeit zum Guten (zum bonum commune) abspricht”[3]. Nur das göttliche Recht, die göttliche Gerechtigkeit, die Bibel können und müssen Wegleitung für Gesetzgebung und Ver­waltung, kurzum: ein gutes Regiment sein, und folglich könnte man in einer anderen Wendung auch sagen, Zwingli glaube tendenziell an die Verzeitlichung des Jenseits wie Karl Marx an die Verzeitlichung der Utopie – beide verwirklichen sich in der Geschichte. Zwinglis Freiheitsverständnis resultiert andererseits aus seinem politischen Umfeld, der freien Eidgenossenschaft. Für ihn liegen „die Freiheit der Eidgenossenschaft und die Freiheit der Christengemeinde auf einer Linie”[4]. Wo göttliche und menschliche Gerechtigkeit konver­gieren, kann es verständlicherweise keine scharfe Trennung zwischen christlicher und politischer Freiheit geben, ganz im Gegensatz zu Luther, der eine theologische Begründung einer natürlichen Freiheit schroff zurückgewiesen hat. Hamm fasst seine monographische Darstellung dahingehend zusammen, „daß für Zwingli zwischen der politisch-sozialen Freiheit und der genuin christlichen Freiheit nicht nur eine Analogie besteht […], sondern ein unmittelbarer Kausal­zusammenhang”[5]. Allerdings bleibt Zwinglis Freiheitsbegriff in seiner naturrechtlichen, politischen und bürgerlichen Ausformung vage, er gewinnt keine Konkretisierung, die ihn politisch operationalisierbar gemacht hätte. Zwinglis Verweis auf die Freiheit erlaubt durchaus mehrere Interpretationen[6].

Politisiert, radikalisiert und weiterentwickelt hat diese Ansätze Chris­toph Schappeler[7]. Ihn verband mit Zwingli, dass er Schweizer war und dessen Theologie in ihren Grundzügen teilte. 1513 war er, der gebürtige St. Galler, nach Memmingen auf die dortige hochdotierte Prädika­tur an der Pfarrkirche St. Martin berufen worden. Nachhaltigen Einfluss übte er auf die Gemeinde aus, die offenbar von seinen sozial- und kirchenkritischen Predigten wie von seiner charismatischen Aus­strahlung fasziniert war. Seine Predigten gegen den von ihm als unbiblisch eingeschätzten Zehnten und die daraufhin erfolgenden Zehntverweigerungen in der Stadt und auf der Memminger Land­schaft – betroffen war vor allem das städtische Spital – führten zu einem tiefen Zerwürfnis mit dem Rat, so dass Schappeler zeitweilig sogar erwog, seine Predigerstelle aufzugeben. Kurzfristig war er in der Schweiz, präsidierte auch die zweite Zürcher Disputation von 1523, kehrte aber dann doch wieder nach Memmingen zurück. Dank des starken Rückhalts in der Gemeinde konnte er an St. Martin am Nikolausfest 1524 erste liturgische Kirchenreformen im reformatori­schen Sinne (Abendmahl in beiderlei Gestalt) durchfuhren. Auf Druck der Gemeinde wurde auch — nach Tumulten und einem Bildersturm an Weihnachten[8] in der zweiten Kirche der Stadt (Unser Frauen) – in der Woche vor dem kommenden Dreikönigsfest ein Glaubens­gespräch mit den altgläubigen Priestern durchgeführt, das der Rat, erweitert um Vertreter aus allen Zünften, zugunsten Schappelers ent­schied. Damit stand Memmingen als erste Reichsstadt Oberschwabens im Lager der Reformation.

Schappeler hat seine Disputationsthesen von 1525 ganz im Sinne der Theologie Zwinglis ausgearbeitet[9]. Ermessen lässt sich sein nach­haltiger Einfluss auf zweifache Weise: in der Stadt selbst hatte er dazu geführt, dass diese bis weit ins 16. Jahrhundert hinein eine der wenigen Hochburgen des Zwinglianismus in Süddeutschland blieb[10], auf dem Land galt die Stadt zu Recht als besonders aufgeschlossen für alles Neue und wurde deswegen auch von den aufständischen oberschwäbischen Bauern 1525 als Versammlungsort gewählt. Mit Zustimmung des Rates tagten sic dreimal im März in der Stube der Kramerzunft. Ergebnis dieser Verhandlungen waren die ‘Zwölf Artikel der oberschwäbischen Bauern’ und die ‘Bundesordnung’ der drei oberschwäbischen Haufen, beides mehrfach als Flugschriften gedruckte Texte. Schappeler dürfte für dieses ‘Bauernparlament’ beratend tätig gewesen sein, jedenfalls genoss er unter den Bauern ein hohes Ansehen: der Memminger Rat hielt ihn offenbar für den geeignetsten Mann, um zwischen dem städtischen Magistrat und den Untertanen auf der Memminger Landschaft zu vermitteln[11].

In der ereignisreichen und politisch explosiven Phase zwischen der Memminger Disputation vom Januar, der redaktionellen Ausarbeitung der ‘Zwölf Artikel der oberschwäbischen Bauern’ vom März und den ersten militärischen Auseinandersetzungen mit dem Schwäbischen Bund im April 1525 dürfte jene Schrift entstanden sein, die zwar einige Beachtung gefunden hat, aber nicht umfassend kontextualisiert und interpretiert werden konnte, weil ihr Autor nicht identifi­ziert werden konnte: ‘An die versamlung gemayner Pawerschaft[12]. Anfang Mai in Nürnberg erschienen, brachte sie ihren Verleger Hieronymus Höltzel umgehend ins Gefängnis und führte schließlich zum Stadtverweis[13]. Ihr Autor ist, wie man heute mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weiß, Christoph Schappeler. Die Zu­schreibung des anonymen Textes wäre ohne die von Berndt Hamm besorgte kritische Ausgabe der Werke von Lazarus Spengler nicht möglich gewesen, doch soll die Beweisführung hier im Einzelnen nicht wiederholt werden[14].

‘An die versamlung gemayner Pawerschaft’ sollte offenkundig den aufständischen Bauern Mut machen, ist also eine Kampfschrift. Sie ist auf weite Strecken derb im Stil, leidenschaftlich im Ton, hektisch in der Argumentation und fraglos unter großem zeitlichem Druck entstanden. Dennoch muss man sie auch als einen politiktheoreti­schen Text lesen, der sich hinsichtlich seines intellektuellen Niveaus durchaus mit anderen zeitgenössischen Werken aus der Feder von Humanisten und Reformatoren vergleichen lässt[15]. Man kann den Text um zwei zentrale Probleme zur Darstellung bringen, die Freiheit (1) und die göttliche Gerechtigkeit (2). Beide hat Berndt Hamm als konstitutiv für Zwinglis Theologie ermittelt. Schon aufgrund der sach­lichen Nähe erweist sich Schappeler als Schüler Zwinglis, er geht aber über diesen auch hinaus, indem er am Realitäts- und Praxisbezug von Freiheit und göttlicher Gerechtigkeit stärker interessiert ist und die für eine revolutionäre Situation grundlegenden Legitimitätsprobleme im Horizont reformatorischer Theologie diskutiert.

(1) Die Reformatoren haben einen Freiheitsbegriff entwickelt, von ihnen ‘christliche Freiheit’ genannt, der auf die durch die Gnade Gottes gewirkte Fähigkeit abstellt, sich über den Glaubenszwang der Kirche und die Gesetze des kanonischen Rechts hinwegzusetzen, der folglich Gewissensfreiheit war[16]. In diesem Sinn hat ihn Martin Luther zum Proprium seiner Theologie und Ethik gemacht. Eine Verbindung zu Freiheit als Status- oder politischem Begriff, wie er in der deut­schen Sprache üblich war, hat Luther nicht hergestellt, im Gegenteil abgewehrt. Freiheit theologisch begründen zu wollen, also aus den Testamenten, hieße christliche Freiheit „fleischlich machen”[17]. Zwingli unterscheidet sich hierin von ihm. Die ‘Freiheit der Eidgenossen’ schafft geradezu eine Prädisposition für die ‘christliche Freiheit’. Es gäbe, so Zwingli, „ghein volck uff erden [. . .], dem christliche fryheit bas anston wirt und ruwiger möge ggegnen, denn einer löblichen Eydgnosschafft”[18]. Freiheit wird, der Geschichte der Eidgenossen­schaft entsprechend, auch gegen Tyrannei konzipiert — der Befreiungs­mythos von tyrannischen Vögten gehörte seit dem 15. Jahrhundert zur Traditionsgeschichte der Schweiz[19] — und der Befreiung Israels aus der Hand Pharaos parallelisiert, „welicher fryheit got selber gün­stig ist”[20]. Freiheit bleibt damit so schillernd wie der Begriff der eid­genössischen Freiheit auch. Die allgemeinste Definition findet Zwingli nach der Hammschen Interpretation in dem Satz: „Frygheit hat iren grund in der krafft des schirmenden. Also: Schirmpt einer nit, so fryt er ouch nit”[21]. Das war die Sprache der mittelalterlichen Rechtsquellen, namentlich in Oberdeutschland war diese Vorstellung durch den ‘Schwabenspiegel’, der in mehr als 300 Handschriften verbrei­tet war, geläufig[22].

Schappeler hat diese politisch schwer handhabbare Sprechweise Zwinglis in dem Sinn radikalisiert, dass er Freiheit als Gegenteil und Abwesenheit von ‘Leibeigenschaft’ konzipierte. Damit waren über­schlägig mehrere Millionen Menschen im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation angesprochen. Zwar nimmt auch Schappeler die Überlegung Zwinglis auf, jede Obrigkeit legitimiere sich dadurch, dass sie das Land schütze und den gemeinen Nutzen fördere; wo Obrigkeit diese Pflicht verfehle, entstehe Tyrannei. Sie dürfe man beseitigen, wie die Eidgenossen den „vermessen aigen Gewalt vom Adel” abgeworfen hätten. Tyrannei indessen wird bei ihm immer über Sklaverei und Leibeigenschaft konturiert. Roms Ansehen sei zur Zeit der Republik gewachsen; als dieses erprobte und gebräuchliche ‘gemeine Regiment’ in Abgang gekommen sei, wurden aus Untertanen ‘Eigenleut’. Eigenleute ist der noch um 1525 gebräuchliche Wechsel­begriff zu Leibeigenen. Nichts anderes lehre die Geschichte der Israeliten, heißt es bei Schappeler weiter. Bei denen „wonet Got hertzlich”, solange sie ein gemeines Regiment führten, als sie davon abfielen, kamen sie in „eilend vnd jamer mit leib aygenschafft vnd anderm”[23]. Tyrannen seien immer solche, die Menschen zu Leibeigenen machten. Vertreibe man sie nicht, werde die Zukunft zur Hölle. Leibeigene würden zu ‘send’, und als Sklaven, so richtet Schappeler seine Befürchtung direkt an die Bauern, wird man „euch verkauften, wie daz vich, roß vnd ochsen”[24]. Für Tyrannen müsse alles ihr „aigen sein […] mit leib vnd guet”[25].

Leibeigenschaft dient Schappeler dazu, herrschaftliche Verhält­nisse als Tyrannei zu denunzieren. Dennoch wird Leibeigenschaft nicht nur metaphorisch für Sklaverei gebraucht. Wo der Begriff inhalt­lich aufgefüllt wird, deckt er sich mit den realen Verhältnissen Süd­deutschlands. Frondienste gehören dazu. Sie seien bislang von den Herren berechtigterweise als ‘gutwillig’, sprich freiwillig, verlangt wor­den, aber es gemahne an die ‘babylonische Gefangenschaft’, also an Tyrannei, wenn Bauern bei schönem Wetter den Herren die Ernte einbringen müssten, während ihre eigene im Regen verfaule, und wenn sie gezwungen würden, die abgeernteten Felder und gemähten Wiesen mit Flachs einzusäen, ihn dann zu raufen, zu brechen, zu rösten und zu spinnen[26]. Es ist diese rechtwidrige Kommerzialisierung (Herstellung von Textilien) alter berechtigter Dienste (Hilfen bei der Ernte), welche die Eigenschaft zur Tyrannei pervertieren lässt. Ähn­lich verhält es sich mit dem ‘Hauptrecht’, dem Einzug von Vieh im Todesfall, das Witwen und Waisen ihrer Erbschaft beraube[27]. Fronen und ‘Hauptrecht’ waren die wirt­schaftlich gravierendsten Folgen der Leibeigenschaft, die sozialen, nämlich die Einschränkung von Frei­zügigkeit und Heiratsfähigkeit, werden von Schappeler nicht erwähnt.

Für die notwendige Änderung dieser Verhältnisse gibt es nur einen Maßstab, die Heilige Schrift. Sie liefert für Schappeler die göttlich-rechtliche Legitimation für die Freiheit. Wer Knecht ist und sich frei machen kann, soll sich befreien, sagt Schappeler unter Berufung auf den ersten Korintherbrief des Apostel Paulus[28]. Das war der Schlüs­selsatz im Neuen Testament für die theologische Auseinandersetzung mit der Leibeigenschaft. Paulus hatte sich im Rahmen seiner Theorie der Zwei Reiche zur Frage von irdischer Knechtschaft und Gottes­kindschaft dahingehend geäußert, beide ließen sich problemlos ver­einbaren. Man muss sich als Knecht keineswegs um sein Heil ‘sorgen’. Dennoch rät er den Korinthern, „doch kannst du frei werden, so brauche das viel lieber” (1. Kor 7,21). Diese Option zum Ergreifen der Freiheit[29] wird durch den Nachsatz möglicherweise wieder rela­tiviert. „Denn wer als Knecht berufen ist in dem Herrn, der ist ein Freigelassener des Herrn. Desgleichen, wer als Freier berufen, der ist ein Knecht Christi. Ihr seid teuer erkauft; werdet nicht der Menschen Knechte”[30]. Der Satz bleibt in einer interpretationsfähigen Schwebe. Die christliche Theologie hat ihn überwiegend gegen ein Menschenrecht auf Freiheit interpretiert, Schappeler nicht. Freiheit ist für Schappeler letztlich unaufgebbar, weil sie göttlichem Recht entspricht.

(2) ‘Göttliche Gerechtigkeit’ und ‘menschliche Gerechtigkeit’ sind bei Zwingli, anders als bei Luther, nicht den je verschiedenen Reichen zugeordnet, sondern durch ihren gemeinsamen Ursprung im gött­lichen Willen komplementär. Daraus erklärt sich Zwinglis Auffassung, „die obrigkeit [sei; P. B.] darumb furgesetzt, das sy in den dingen, zum nächsten inen möglich sye, by der götlichen gerechtigkeit hinfarind”[31]. Obschon die Spannung zwischen göttlicher und mensch­licher Gerechtigkeit nicht aufgegeben wird, liegt hier eine Vorstellung von der Verbesserungsfähigkeit von Gesellschaft und Politik vor. Es ist diese Perfektibilität, die zur Veranschaulichung ‘Verzeitlichung des Jenseits’ genannt werden kann.

Schappeler bemüht sich, wie beim Freiheitsbegriff auch, um eine Konkretisierung von göttlicher Gerechtigkeit. Göttliche Gerechtigkeit heißt in seinem Traktat „göttliche Juristerei”, die Evangelisten und die Apostel sind die „göttlichen Juristen”[32]. Angesichts der vielen gleichermaßen diffusen und umständlichen Gebrauchsmodi dieses schlagwörtlichen Begriffs in der Reformationszeit ist Schappelers Bemühen, diesen fassbar zu machen, als Versuch einer Resakralisierung des Lebens, der Gesellschaft und der Politik zu deuten, die sich bis in die ‘Policeyordnungen’ der Zeit hinein verfolgen lässt[33], auch wenn dies für einen Theologen, der Schappeler ja auch war[34], eine Simplifizierung darstellen mag. Am Alten und Neuen Testament wird an Beispielen erläutert, was unter göttlicher Juristerei zu verstehen sei: Die Obrigkeit hat die weltlichen Ordnungen zu verbessern (2. Kor 11), auf Amtsmissbrauch folgt Absetzung (1. Tim 5), den unfrucht­baren Baum reißt man aus, folglich vertreibt man den mutwilligen Herrscher mit dem Schwert (Lk 12,17), Kaiser und Papst sind gewählt, also kann man sie absetzen (Mk 9)[35]. Gleichsam als spräche er zu Martin Luther und seinen Freunden, führt er die Argumente für eine radikale Erneuerung der Welt aus dem Geist des Christentums auf den Satz zu: „Und ob sy ymmer vnd ewig vil sagen von zwayen gebotten, nemlich Diuina, betreffent der seel hayl, zum andern Politica, die den gemaynen nutz betreffent. Ach got dyse Gebot mögent sich nicht von ainander schaiden, dann die Politica gebotte siend auch diuina, die den gemaynen nutz trewlich fördern, ist nichts anders, dann die brüderliche liebe trewlich zueerhalten, dz der seligkayt höch­ste verdienung ayne ist”[36].

Mit Verweis auf die göttliche Juristerei wird auch ein Recht auf Widerstand und auf Wahl oder zumindest aktiven Konsens breiter Bevölkerungsschichten bei der Vergabe politischer Ämter hergeleitet[37]. Zahlreiche Belege, vornehmlich aus dem Neuen Testament, werden zusammengetragen und aus ihnen konkrete Handlungsan­weisungen hinsichtlich Strafrecht, Privatrecht und Polizeirecht gezogen, um auf diese Weise, wie es wiederholt und prominent herausgeho­ben heißt, den ‘Gemeinen Nutzen’ zu fördern[38]. Die Zwei Reiche sind so eingeschmolzen in ein einziges christliches Gemeinwesen. In ihm herrscht Freiheit, und die Freien haben politische Rechte. Jeder Bauer und jeder Schuster kann Herrschaft ausüben. Aber „haltet oft Gemeind untereinander”, ermuntert der Text, das allein schafft eine dauerhaft gerechte Ordnung.

Für die von Schappeler entworfene neue politische Ordnung dienen die Verhältnisse in der römischen Republik und in der Eidgenos­senschaft als Vorbild. Folglich werden Freiheit als Status des Bürgers und politische Partizipation, von der hier angesichts der themati­schen Vorgabe nur am Rande — mit Hinweis auf häufige ‘Gemeinde’-Versammlungen — zu reden war, als unverzichtbar ausgewiesen und ausdrücklich gegen die herrschenden Verhältnisse, Leibeigenschaft und tyrannisch entartete Herrschaft gekehrt. In Umrissen nimmt die Freiheit die Form von Bürgerrechten an, und in jedem Fall ist sie eine Abwesenheit von Leibeigenschaft. Die Aufhebung der Leibei­genschaft war immer der erste Schritt, mit dem die entstehende bür­gerliche Gesellschaft des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts Freiheit als Menschenrecht durch Gesetze und Verfassungen herstellte. Insofern mag man in der ‘Reformation der Freiheit’ in Ober­deutschland eine theoretische Vorformulierung des Menschenrechts auf Freiheit sehen.

Quelle: Gudrun Litz/ Heidrun Munzert/ Roland Liebenberg (Hrsg.), Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History. Festschrift Berndt Hamm, Leiden: Brill, 2005, S. 363-372.


[1] Vgl. Berndt Hamm, Zwinglis Reformation der Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1988.

[2] Ebd., 117.

[3] Ebd., 114.

[4] Ebd., 117.

[5] Ebd., 119.

[6] Vgl. ebd., 12-14 (Belegsammlung).

[7] Für die biographischen Daten Martin Brecht, Der theologische Hintergrund der zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben von 1525, in: ZKG 85 (1974), 174-208; Barbara Kroemer, Die Einführung der Reformation in Memmingen, Memmingen 1981 (= Memminger Geschichtsblätter 1980); Peter Blickle, Memmingen – ein Zentrum der Reformation, in: Die Geschichte der Stadt Memmingen. Von den Anfängen bis zum Ende der Reichsstadt, hg. von Joachim Jahn, Stuttgart 1997, 349-418; Natalie Trummer, Christoph Schappeler, in: Der Bauernkrieg in Oberschwaben, hg. von Elmar Kuhn, Tübingen 2000, 271-293.

[8] Vgl. Gudrun Litz, Die Problematik der reformatorischen Bilderfrage in den schwäbischen Reichsstädten, in: Macht und Ohnmacht der Bilder, hg. von Peter Blickle/André Holenstein/Heinrich Richard Schmidt/Franz-Josef Sladeczek, München 2002 (= HZ.B 33), 105.

[9] Vgl. Peter Blickle, Urteilen über den Glauben. Die Religionsgespräche in Kauf­beuren und Memmingen 1525, in: Außenseiter zwischen Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Hansjürgen Goertz zum 60. Geburtstag, hg. von Norbert Fischer/ Marion Kobelt-Groch, Leiden 1997 (= SMRT 61), 65-80.

[10] Vgl. Peer Frieß, Rivalität im Glauben. Die Rechtfertigungsschrift des wegen sei­ner zwinglianischen Gesinnung entlassenen Memminger Predigers Eusebius Kleber, verfasst um 1575, Memmingen 2001.

[11] Vgl. Peter Blickle, Die Revolution von 1525, 4. Aufl., München 2004, 5 7 und 169f.

[12] [Schappeler, Christoph] An die Versandung gemeyner Pawerschaft; Horst Buszello, Der deutsche Bauernkrieg von 1525 als politische Bewegung, Berlin 1969, 153-192. Eine weitere kritische Ausgabe mit umfänglichem Kommentar existiert in Form von Siegfried Hoyer/Bernd Rüdiger, An die Versammlung gemeiner Bauernschaft. Eine revolutionäre Flugschrift aus dem Bauernkrieg (1525), Leipzig 1975. Buszello und Hoyer haben die detailliertesten Analysen der Schrift geliefert. Vgl. aber auch Frank Ganseuer, Der Staat des ‘gemeinen Mannes’. Gattungstypologie und Programmatik des politischen Schrifttums von Reformation und Bauernkrieg, Frankfurt a. M. 1985, 50-64. — Zuletzt umfassend Victor D. Thiessen, To the Assembly of Common Peasentry. The Case of the Missing Context, in: ARG 86 (1995), 175-198, und Horst Buszello, Modelle und Programme politischer Gestaltung im Bauernkrieg, in: Mühlhausen, der Bauernkrieg und Thomas Müntzer. Realitäten – Visionen – Illusionen, hg. von Martin Sünder, Mühlhausen 2000 (= Protokollband zum wissenschaftlichen Kolloquium am 27.05.2000 in Mühlhausen; Veröffentlichungen der Thomas-Müntzer-Gesellschaft 1), 58-62.

[13] Vgl. Hoyer/Rüdiger, An die Versammlung (wie Anm. 12), 13.

[14] Die Argumente für die Zuschreibung des anonymen Traktats an Schappeler (mit dem Vorbehalt eines mitarbeitenden zweiten Autors) bei Peter Blickle, Republiktheorie aus revolutionärer Erfahrung (1525), in: Verborgene republikanische Traditionen in Oberschwaben, hg. von Peter Blickle, Tübingen 1998, 195-210.
Die ältere Forschung setzt mit einer intensiven Diskussion der Verfasserfrage bei Buszello ein, wird von Hoyer fortgeführt, der ihn räumlich in Oberschwaben und theologisch im Umfeld Zwinglis sucht; vgl. Hoyer/Rüdiger, An die Versammlung (wie Anm. 12), 48. Fortgeführt hat die Diskussion Peters, der in Andreas Bodenstein von Karlstadt den Verfasser sehen will; vgl. Christian Peters, An die Versammlung gemeiner Bauernschaft (1525). Ein Vorschlag zur Verfasserfrage, in: ZBKG 54 (1985), 15-28, was Siegfried Hoyer in seinem Beitrag: Karlstadt: Verfasser der Flugschrift ‘An die Versammlung gemeiner Bauernschaft’, in: ZIG 35 (1987), 128 137, abgelehnt hat, ohne mit seinen Argumenten Peters zu überzeugen; vgl. Christian Peters, An die Ver­sammlung gemeiner Bauernschaft (1525). Noch einmal – zur Verfasserfrage, in: ZBKG 57 (1988), 1-7.

[15] Vgl. Thomas A. Brady Jr., German Civic Humanism? Critique of Monarchy and Refashioning of History in the Shadow of the German Peasants’ War (1525), in: Querdenken. Dissens und Toleranz im Wandel der Geschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Hans R. Guggisberg, hg. von Michael Erbe u. a., Mannheim 1996, 41-55.

[16] Vgl. Anja Lobenstein-Reichmann, Freiheit bei Martin Luther. Lexikographische Textanalyse als Methode historischer Semantik, Berlin-New York 1998 (= Studia Linguistica Germanica 46); dort auch ausführliche Diskussion der im frühen 16. Jh. im Umlauf befindlichen Freiheitsbegriffe.

[17] Vgl. Peter Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland, München 2003, 248~253.

[18] Zitiert bei Hamm, Zwinglis Reformation (wie Anm. 1), 14.

[19] Vgl. Peter Blickle, Freiheit als Element der Traditionsbildung in der Eidgenos­senschaft im 15. Jahrhundert, in: Identità territorial! e cultura politica nella prima età moderna, hg. von Marco Ballabarba/Reinhard Stauber, Bologna 1999, 255-270.

[20] Hamm, Zwinglis Reformation (wie Anm. 1), 15.

[21] Ebd., 13.

[22] Vgl. Blickle, Leibeigenschaft (wie Anm. 17), 260-262.

[23] [Schappeler,] An die versamlung gemeyner Pawerschaft (wie Anm. 12), 172,30f.

[24] Ebd., 186,27-33.

[25] Ebd., 168,11f.

[26] Ebd., 163,1-17.

[27] Ebd., 163,26-30.

[28] Ebd., 179,6-8.

[29] Vgl. Samuel Vollenweider, Freiheit, in: RGG’ 3 (2000), 307; Heinz Eduard Tödt, Freiheit, in: EKL3 l (1986), 1358f.

[30] Zitiert nach der dem Neuhochdeutschen angeglichenen Luther-Bibel, Jubiläums- Bibel, [Stuttgart] 1912. – Das Neue Testament in der Übersetzung von Otto Karrer, München 1959 (Imprimatur der Kurie), 477, noch einschränkender.

[31] Zitat (mit Interpretation) bei Peter Blickle, Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, München 1985, 150-154. Vgl. auch Walter Ernst Meyer, Huldrych Zwinglis Eschatologie, Zürich 1987, 203-211; Hamm, Zwinglis Reformation (wie Anm. 1), 51-62.

[32] [Schappeler] An die versamlung gemeyner Pawerschaft (wie Anm. 12), 177,34.

[33] Zuletzt Annan Weidenmann, ‘Von menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit’. Zürcher Policeymandate im Spiegel zwinglischer Sozialethik, in: Gute Policey als Politik im 16. Jahrhundert, hg. von Peter Blickle/Peter Kissling/Heinrich Richard Schmidt, Frankfurt a. M. 2003, 439 488.

[34] Für Schappcelers Studium und Lehrtätigkeit zuletzt Beat Immenhauser, St. Gallen und der Universitätsbesuch um 1500, in: Personen der Geschichte – Geschichte der Personen. Festschrift für Rainer Christoph Schwinges, hg. von Christan Hesse u. a., Basel 2003, 292.

[35] Vgl. [Schappeler,] An die vcrsamlung gemeyner Pawerschaft (wie Anm. 12), passim.

[36] Ebd., 181,12-19.

[37] Einzelnachweise bei Blickle, Republiktheorie (wie Anm. 14), 208.

[38] Vgl. [Schappeler] An die versamlung gemeyner Pawerschaft (wie Anm. 12), 159; 162; 164; 181 (wichtigste Belege).

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