Odo Marquard, Theodizee, Geschichtsphilosophie, Gnosis (1983): „Der Mensch braucht — angesichts dieser nun an ihn gerichteten übermächtigen Anklage — sozusagen ein Alibi, einen Sündenbock, einen, von dem er sagen kann: nicht ich bin — nicht wir sind — schuld an den Übeln, sondern ‚der‘ ist — ‚die‘ sind — schuld an den Übeln. Der einschlägig optimale Sündenbock war offensichtlich Gott; doch der steht jetzt — im geschichtsphilosophischen Zeitalter, dem nach dem Ende Gottes — nicht mehr zur Verfügung Darum muss das, was zuvor als Anklage des Menschen gegen Gott — als transzendenter, sozusagen als menschheitsaußenpolitischer Streit — abgemacht werden konnte, jetzt als Anklage des Menschen gegen Menschen — also als immanenter, als menschheitsinnenpolitischer Streit — ausgefochten werden. Folglich muss geschichtsphilosophisch — seit die Menschen selber die Urheber sind — der Sündenbock nunmehr unter den Menschen selber gefunden werden.“

Theodizee, Geschichtsphilosophie, Gnosis

Von Odo Marquard

Jacob Taubes hat — zugespitzt formuliert — die These vertreten: die Zentralphilosophie der Neuzeit ist die Geschichtsphilosophie, und diese ist Fortsetzung der Gnosis unter Ver­wendung neuzeitlicher Mittel. Hans Blumenberg hat — ebenfalls zugespitzt formuliert — die These vertreten: die Neuzeit — und ihre Philosophien: also auch die Geschichtsphiloso­phie — ist gerade keine Fortsetzung der Gnosis, sondern deren Gegenteil: sie ist die — zwei­te — Überwindung der Gnosis. Mir scheint: beide Thesen können kompatibel gemacht — die moderne Geschichtsphilosophie kann als Fortsetzung der Gnosis, die Neuzeit kann als Negation der Gnosis bestimmt — werden, wenn man einen Preis zu zahlen bereit ist: die Kündigung des Nexus zwischen Geschichtsphilosophie und Neuzeit. Dann nämlich kann gelten: die Neuzeit negiert die Gnosis, die Geschichtsphilosophie aber setzt die Gnosis fort: als (datierungsmäßig neuzeitliche) Negation der Neuzeit, als Gegenneuzeit. In den Kontext dieser These gehört die Bestimmung der Geschichtsphilosophie als radikalisierte Theodi­zee, die in die Repetition der gnostischen Lösung umkippt; sie versuche ich in folgenden fünf Abschnitten: 1. Geschichtsphilosophie und Theodizee; 2. Prozess; 3. Atheismus ad maiorem Dei gloriam; 4. Entkräftung eines Einwandes; 5. Neognostizismus der etablierten Geschichtsphilosophie.

1. (Geschichtsphilosophie und Theodizee). — Ich beginne mit dem Hinweis auf zwei Tatbestände, die Geschichtsphilosophie und Theodizee in Zusammenhang bringen; es sind dies die folgenden.

Der erste Tatbestand ist ein Textbefund. An zwei zentralen Stellen seiner „Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte“ bezeichnet Hegel die Geschichtsphilosophie als Theodizee. Die eine Stelle steht in der Einleitung: „Unsere Betrachtung ist insofern eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes, welche Leibniz metaphysisch auf seine Weise in noch unbestimmten, abstrakten Kategorien versucht hat, so daß das Übel in der Welt be­griffen … werden sollte. In der Tat liegt nirgends eine größere Aufforderung zu solcher Er­kenntnis als in der Weltgeschichte.“ (XII, 28) Die andere Stelle steht am Schluß der Vorle­sung: „Daß die Weltgeschichte dieser Entwicklungsgang und das wirkliche Werden des Geistes ist… dies ist die wahrhafte Theodizee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschich­te.“ (XII, 540) Beide Textstellen zeigen: Hegel — einer der entscheidenden Repräsentanten der Geschichtsphilosophie — bestimmt die Geschichtsphilosophie als Theodizee. Das ist der eine Tatbestand.

Der zweite Tatbestand ist ein Datierungsbefund: der bemerkenswerte Zusammenhang zweier Daten Das eine Datum ist 1710: da erscheinen die „Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal“ von Leibniz: durch diese Schrift wur­de das philosophische Genre der Theodizee angefangen und der Begriff Theodizee geprägt und in Umlauf gesetzt. Die Theodizee beginnt also 1710. Das andere Datum ist 1765: da er­scheint der „Essai sur les moeurs et l’esprit des nations“ von Voltaire in zweiter Auflage, ergänzt um eine Einleitung mit der Überschrift „philosophie de l’histoire“: durch diese Schrift wurde das philosophische Genre der Geschichtsphilosophie angefangen und der Be­griff Geschichtsphilosophie geprägt und in Umlauf gesetzt. Unmittelbar danach — das hat Reinhart Koselleck eindrucksvoll gezeigt — kommt es zu einer Flut von Geschichtsphilo­sophien, durch die der Begriff für das Thema der Geschichtsphilosophie, der Begriff „die Geschichte“ überhaupt erst entstanden ist. Die Geschichtsphilosophie beginnt also 1765. 1710 und 1765: das ist — jedenfalls für Philosophen — kein großer Abstand; beide Daten — zwischen die jener Umschlag der Weltstimmung fällt, der sich im Anschluß an das Erdbe­ben von Lissabon 1755 zu artikulieren begann — liegen so dicht beieinander, daß man sa­gen darf: Theodizee und Geschichtsphilosophie entstehen in engem zeitlichem Zusammen­hang. Das ist der andere Tatbestand.

Im Blick auf diese beiden Tatbestände formuliere ich meine Frage: warum definiert He­gel die Geschichtsphilosophie als Theodizee? Warum entsteht die Geschichtsphilosophie in engem zeitlichem Zusammenhang mit der Theodizee? Ist das wesentlich, oder ist das ein un­wichtiger Zufall? Ich vertrete hier die Meinung: beide Tatbestände — Hegels Definition der Geschichts­philosophie als Theodizee und der zeitliche Entstehungszusammenhang zwi­schen Theodizee und Geschichtsphilosophie — sind kein unwichtiger Zufall, sondern ha­ben wesentliche Bedeutung. Wenn das so ist: worin liegt der wesentliche Zusammenhang zwischen Geschichtsphilosophie und Theodizee?

Diese Frage möchte ich durch folgende These beantworten: die Geschichtsphilosophie ist wesentlich Theodizee, aber mit einer kleinen Modifikation, die den Zeitverzug der Ge­nese der Geschichtsphilosophie gegenüber der Genese der Theodizee berücksichtigt, näm­lich: die ‚Theodizee‘ ist Theodizee vor dem Ende Gottes; die ‚Geschichtsphilosophie‘ hin­gegen ist Theodizee nach dem Ende Gottes, genauer gesagt: die Geschichtsphilosophie ist Theodizee durch das Ende Gottes. Das ist — bezogen insbesondere auf die Geschichtsphilo­sophie des deutschen Idealismus, beziehbar aber auf die gesamte Geschichtsphilosophie, wie mir scheint: mit Einschluß von Marx — jene These, die ich im folgenden vertreten, er­läutern, plausibel machen will.

2. (Prozess). — Um diese These zu erläutern, muß ich zunächst zwei Fragen genauer be­antworten, nämlich: Was ist Theodizee? Was ist Geschichtsphilosophie?

Was ist Theodizee? „Unter einer Theodizee“ — schreibt Kant 1791 in seiner kleinen Schrift „Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ — „ver­steht man die Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt“ (Akademie­ausgabe VIII 225). Aus diesem Satz Kants — der präzis definiert, was auch schon Leibniz unter Theodizee versteht — geht meines Erachtens mindestens folgendes hervor: Theodi­zee ist die Philosophie eines Rechtshandels, eines — im juristischen Sinne zu verstehenden — Prozesses, in welchem der Mensch Gott anklagt, als Schöpfer der Welt schuld an den Übeln der Welt zu sein, und in dem Gott durch die Philosophie — scheinbar erfolgreich — verteidigt wird, und zwar bei Leibniz durch folgendes Argument: Gott mußte die Übel „zulassen“, um die Schöpfung als das Bestmögliche zu schaffen. Erlauben Sie mir hierzu ei­ne Nebenbemerkung: Politik — sagte Bismarck — ist die Kunst des Möglichen; Schöpfung — sagte offenbar Leibniz — ist die Kunst des Bestmöglichen: wenn das Bestmögliche die Schöp­fung ist, und wenn sie ohne die Übel unrealisierbar ist, muß man — nämlich Gott als Täter, die Menschen als Akzeptierer — die Übel in Kauf nehmen: der Zweck heiligt die Mittel; die­ser unbehagliche Satz scheint mir das tragende Argument des Leibnizschen Optimismus zu sein. Zurück zur Hauptsache: aus dem bisher Gesagten folgt: Theodizee ist die Philosophie des Prozesses Mensch gegen Gott, der angeklagt ist, schuld an den Übeln der Welt zu sein, und der dabei — scheinbar erfolgreich—verteidigt wird durch den Nachweis, daß er das Bestmög­liche macht, nämlich die Schöpfung.

Was ist Geschichtsphilosophie? Unter Geschichtsphilosophie — derjenigen, die 1765 be­gann und im deutschen Idealismus insbesondere von Fichte bis Marx am konsequentesten sich artikulierte — verstehe ich hier diejenige Philosophie, die als Täter der Geschichte — als Welturheber der geschichtlichen Welt — den Menschen selber begreift und die Geschichte als den einen großen Prozess, den der Mensch in Namen des Fortschritts zum Diesseitsheil je­weils gegen jene Menschen, die seine Verhinderer sind, durch die Epochen hindurch führt und schließlich gewinnt. Sie merken: ich unterstreiche hier vor allem die juristische Bedeu­tung des Wortes „Prozess“ in der Geschichtsphilosophie; Hegel zitiert einschlägig Schiller: „die Weltgeschichte ist das Weltgericht“; in ihr wird — vor „dem Gerichtshof der Vernunft“ — das schlechte Bestehende durch die Zukunft angeklagt; das in einem Zustand der Übel Be­harrende wird durch das Werdende verurteilt; die Unterdrücker werden durch die Emanzipa­tion der Unterdrückten gerichtet: der bestmögliche Fortschritt zum Bestmöglichen macht mit dem, was ihn hemmt, reformistisch längeren oder revolutionär kurzen Prozess. Erlauben Sie mir auch hier eine Nebenbemerkung: Politik — sagte Bismarck — ist die Kunst des Mögli­chen; Geschichte — meinen offenbar die Geschichtsphilosophen — ist die Kunst des Best­möglichen: wenn das Bestmögliche der Endzweck der Geschichte (Reich der Freiheit, klas­senlose Gesellschaft) ist, und wenn er ohne die Schritte zu ihm, die Übel implizieren, unreali­sierbar ist, muß man — nämlich die Menschen als Täter und Akzeptieret — die Übel in Kauf nehmen: der Zweck heiligt die Mittel; dieser unbehagliche Satz scheint mir das tragende Ar­gument auch des geschichtsphilosophischen Optimismus zu sein. Zurück zur Hauptsache: aus dem bisher Gesagten folgt: Geschichtsphilosophie ist die Philosophie des Prozesses Mensch gegen Mensch, der angeklagt ist, als ihr Urheber schuld an den Übeln der Welt zu sein, und der dabei — scheinbar erfolgreich — verteidigt wird durch den Nachweis, daß er das Bestmögliche macht, nämlich die Geschichte als Fortschritt zum Diesseitsheil.

3. (Atheismus ad maiorem Dei gloriam). — Nach diesen — zugegebenerweise stark sim­plifizierenden — Erläuterungen kann ich eine Antwort versuchen auf die hier entscheiden­de Frage inwiefern gehören Theodizee und Geschichtsphilosophie zusammen? Mir scheint: beide gehören zusammen, weil beide Philosophien eines Prozesses sind, und zwar eines Prozesses in derselben Sache; denn: die Theodizee ist wie die Geschichtsphilosophie und die Geschichtsphilosophie ist wie die Theodizee die Philosophie des Prozesses Mensch gegen jenen, der angeklagt ist, als ihr Urheber schuld zu sein an den Übeln der Welt, und der dabei — scheinbar erfolgreich — verteidigt wird durch ein strukturähnliches Argu­ment, nämlich das Bestmöglichkeitsargument. Nur die Stelle des Angeklagten ist in beiden Philosophien verschieden besetzt: der Angeklagte der Theodizee ist Gott; der Angeklagte der Geschichtsphilosophie ist der Mensch. Darum — weil in der Theodizee Gott noch im Spiel, weil in der Geschichtsphilosophie Gott nicht mehr im Spiel ist — sagte ich: die Theo­dizee ist die Theodizee vor dem Ende Gottes, die Geschichtsphilosophie ist die Theodizee nach dem Ende Gottes.

Dies mag nun so sein; indes: wenn durch diese Umbesetzung der Position des Angeklag­ten — anders als in der Theodizee — in der Geschichtsphilosophie Gott nicht mehr im Spiel ist: warum ist die Geschichtsphilosophie dann überhaupt eine Theodizee? Meine Ant­wort ist diese die betreffende Umbesetzung der Position des Angeklagten hat selber Theodizeesinn, nämlich Verteidigungswert in Bezug auf Gott: die Geschichtsphilosophie ist eine Theodizee nach dem Ende Gottes, d.h. sie bleibt nach dem Ende Gottes eine Theodizee, weil sie eine Theodizee durch das Ende Gottes ist. Denn — das meine ich damit — die kon­sequent, die radikal gemachte Theodizee — gerade sie — führt zur Verabschiedung Gottes.

Zu dieser Radikalisierung der Theodizee — zur Liquidierung ihrer Leibniz’schen Ge­stalt — kommt es dort, wo die Erfahrung der Weltübel sich radikalisiert. 1755 wird — ich sagte es schon — das Erdbeben von Lissabon für diese radikalisierte Erfahrung von Übeln der Anlaß, sich zu artikulieren: Voltaire schreibt 1756 — im Erscheinungsjahr der ersten Auflage des „Essai sur les moeurs“ — sein „Poeme sur le desastre de Lisbonne“ und 1758 — gegen den Optimismus — den „Candide“. Zwei Jahre vor der ersten „philosophie de l’histoire“ — 1763 — führt Kant „die negativen Größen in die Weltweisheit“ ein: die Theorie der „Realrepugnan­zen“, die alsbald — schon bei ihm selber — zur Lehre von den „Antago­nismen“ der Geschichte wird („Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, 1785), die sich — die Antinomienlehre rezipierend — zur Lehre von den ge­schichtlichen „Widersprüchen“ weiterentwickelt. Die Antinomien ihrerseits hatte Kant wenige Jahre nach der ersten „philosophie de l’historie“ — 1769 im Jahr des „großen Lichts“ — entdeckt und damit die erschreckende Möglichkeit, daß die Vernunft, der Ga­rant der Aufklärung, selber durch zerrüttende Eigenillusionen als genius malignus zu wir­ken vermag. Angesichts dieser — und manch anderer — Neuerfahrung von Übeln zer­bricht die optimistische Leibnizform der Theodizee, und die Theodizeefrage — so ihrer Leibnizlösung beraubt — wird radikal und verlangt nunmehr eine radikale Antwort. Als derart radikale Antwort entsteht — als ins Extrem getriebene Theodizee — der deutsche Idealismus: die autonomistische Gestalt der modernen Geschichtsphilosophie, deren Autonomismus — die These von der Eigenmächtigkeit des Menschen — ist: eine Theodizee durch einen Atheismus ad maiorem Dei gloriam. Er ist — sozusagen als umgedrehter physikotheologischer Gottesbeweis — der Schluß von der Güte Gottes auf seine Nichtexistenz: Gott bleibt — angesichts der Übel in der Welt — der gute Gott nur dann, wenn es ihn nicht gibt, oder jedenfalls: wenn Gott der Schöpfer der Welt nicht ist. Das ist der Grundgedanke der Autonomiephilosophie, die also ist: eine Theodizee. Ihr konkretes Pensum besteht plausiblerweise darin, nachzuweisen, daß Gott deswegen nicht zu sein braucht und der Schöpfer der Welt nicht ist, weil ein anderer als Gott ihr Schöpfer ist: nämlich der Mensch. Die Philosophie, die dies und gerade dies nachweist — also die konkrete Gestalt dieser Ra­dikaltheodizee — ist die Geschichtsphilosophie, indem sie — gerade sie — die These ver­tritt: der Urheber der geschichtlichen Welt ist der Mensch. „Die Menschen“ — schreibt Marx und wiederholt damit, was schon Vico sagte — „machen ihre Geschichte selber“: sie sind — so begreift das schon Fichte, so begreift das noch Marx — unbewußte Urheber ih­rer vorhandenen Welt, bewußte Urheber ihrer zukünftigen Welt. Es ist — scheint mir — plausibel, daß just die Philosophie mit dieser These, die Geschichtsphilosophie, gerade in den Jahren zum Zuge kommt, in denen die Leibniz’sche Gestalt der Theodizee zusammen­bricht; und es ist — scheint mir — legitim, sie eine Theodizee zu nennen, diese Geschichts­philosophie: eine Theodizee — wie ich sagte — nach dem Ende Gottes, nämlich durch das Ende Gottes.

4. (Entkräftung eines Einwandes). — Hier erhebt sich nun ein naheliegender Einwand, mindestens einer, mit dem ich mich auseinandersetzen muß: in der Geschichtsphilosophie — jedenfalls innerhalb des deutschen Idealismus, der klassischen deutschen Philosophie — ist es ja gar nicht so, daß Gott da zuende und aus dem Spiel ist. Ganz im Gegenteil: von Kant ab startet er — sozusagen — eine neue Karriere. Gott kommt wichtig und zentral vor: in Kants Postulatenlehre; bei Fichte — Atheismusstreit hin, Atheismusstreit her — minde­stens ab 1800; bei Schelling spätestens im Identitätssystem und allerspätestens in der Freiheits- und Weltalterphilosophie; und Hegel will — schreibt er in der frühen Jenaer Zeit — „Gott wieder absolut vornehin an die Spitze der Philosophie“ stellen, und das ist auch die Position seiner Geschichtsphilosophievorlesungen. Wie kann, wenn das so ist, stim­men, was ich behauptet habe: daß die Geschichtsphilosophie — auch und gerade die des deutschen Idealismus — eine Theodizee sei nach dem Ende Gottes und durch das Ende Got­tes?

Auf diesen Einwand antworte ich folgendermaßen: gewiß, es gibt diese Wiederkehr Gottes in der Geschichtsphilosophie insbesondere des deutschen Idealismus; aber Gott kehrt dort wieder in eigenartiger Gestalt, nämlich als ohnmächtiger Gott. Der Gott der Po­stulatenlehre — der bei Kant, beim frühen Fichte, beim frühen Schelling — hat nur als ide­elles Werkzeug Realität: es genügt, wenn er glaubhaft fingiert wird. Und in Bezug auf He­gels Gott hat jenes post-festum-Argument recht, das in der „Heiligen Familie“ Marx gegen Hegels „absoluten Geist“ formuliert. Ich zitiere: „Was Hegel betrifft, so rühmte sich ja die­ser, Gott am Ende der Philosophie als absoluten Geist zu haben“; aber dieser Gott ist ohn­mächtig, weil er „erst am Ende, post festum, kommt, nachdem alles getan ist“ (XIII 91). Diejenigen, die die betreffenden Marx-Stelle kennen, werden sich beschweren, daß ich nicht korrekt zitiert habe. Aber ich habe korrekt zitiert, nur freilich nicht Marx, sondern Schellings „Philosophie der Offenbarung“: da nämlich kommt das Argument her, das dann Marx so formulierte: „Hegel (läßt) … den absoluten Geist … nur zum Schein die Ge­schichte machen … da der absolute Geist nämlich erst post festum im Philosophen zum Be­wußtsein kommt“ (322): er kommt erst, wenn in der Geschichte schon alles gemacht ist, und ist daher nicht wirklich der Schöpfer. Schließlich: Schellings weltalterphilosophischer Gottesbegriff ist — das hat Habermas in seiner Dissertation und dem Aufsatz „Dialekti­scher Idealismus im Übergang zum Materialismus“ gezeigt — bestimmt durch die „Idee einer Contraction Gottes“: Gott zieht sich „in sich selbst“ und „in die Vergangenheit“ zu­rück und überläßt durch diesen Rückzug die Geschichte der menschlichen Freiheit: Gott wird durch seine Demission gewissermaßen zum Initiator des Linkshegelianismus und zum indirekten Protektor auch noch der Kritischen Theorie. Das — die Idee eines zugunsten menschlicher Freiheit sich in die Ohnmacht zurückziehenden Gottes — ist ein Gottesbe­griff, der in Nietzsches Rede vom „Tod Gottes“ und in Heideggers Gedanken der „Epoche des Seins“ weiterwirkt: Gott ist hier der, der für seine Ohnmacht optiert.

Darum kann ich meine Zurückweisung des genannten Einwandes folgendermaßen zu­sam­menfassen: meine Interpretation der Geschichtsphilosophie als Theodizee nach dem Ende Gottes und durch das Ende Gottes ist kompatibel mit der Rehabilitierung Gottes in der Geschichtsphilosophie mindestens des deutschen Idealismus, weil dort Gott in verän­derter Gestalt wiederkehrt: als der instrumentalisierte Postulatengott, als der post-festum-Gott, als der sich zurückziehende Gott ist der geschichtsphilosophisch reaktivierte Gott der ohnmächtige, der gottlose Gott, oder anders gesagt: Gott ist dort der Gott nach dem Ende Gottes.

5. (Neognostizismus der etablierten Geschichtsphilosophie). — Der entscheidende Schritt von der Theodizee zur Geschichtsphilosophie ist also das Ende Gottes, und zwar auch dort, wo die Geschichtsphilosophie Gott scheinbar reaktiviert. Durch diesen Schritt wird — im Prozess Mensch gegen jenen, der angeklagt ist, schuld an den Übeln der Welt zu sein — der Angeklagte „Gott“ ersetzt durch den Angeklagten „Mensch“; aber indem der Mensch in die Stelle Gottes eintritt, muß er selber quasi zum Gott werden: zum Schöpfer und Erlöser, jedenfalls zum Absoluten.

Das steht im Widerspruch zu dem, was der Mensch wirklich ist; denn der Mensch ist nicht absolut, sondern der Mensch ist endlich.

Die Geschichtsphilosophie aber zwingt den Menschen, sich über seine Endlichkeit hin­wegzu­setzen. Das bedeutet im hier verfolgten Zusammenhang: indem der Mensch ge­schichtsphilo­sophisch zum Weltschöpfer avanciert (zum Urheber der geschichtlichen Welt), wird nunmehr der Mensch angeklagt, letztverantwortlich zu sein für ihre Übel. Die ganze Wucht dieser aus der Theodizee überkommenen Anklage trifft jetzt den Menschen. Wie kann er sich rechtfertigen? Auch er versucht — nunmehr geschichtsphilosophisch: ich deutete das schon an — eine Verteidigung durch eine optimistische Lösung mit Hilfe eines Bestmöglichkeitsarguments: die Welt ist zwar noch nicht gut, aber sie wird schon werden; die Menschen werden ihre Geschichte zu einem guten Ende bringen; die vorläufigen Zu­stände — Zustände unvermeidlicher Widersprüche, der Entfremdung, d.h. der Übel — sind Mittel zum guten Endzweck; und dieser Endzweck rechtfertigt, er heiligt diese Mittel. Aber dieses Argument, das doch problematisch ist, wird zusätzlich belastet durch Enttäu­schungserfahrungen, die die Geschichtsphilosophie begleiten, seit sie — zuerst durch die französische Revolution — in die Wirklichkeit umgesetzt wurde: diese Wirklichkeit bleibt — um mich vorsichtig auszudrücken — hinter den geschichtsphilosophischen Erwartungen zurück. Das hängt — kurz gesagt — allemal damit zusammen, daß die Geschichtsphiloso­phie den Menschen Allmacht zumutet, die sie nicht haben. Wo diese Enttäuschungserfah­rungen dominieren, potenziert sich die an den Menschen gerichtete Anklage wegen der Übel. Darum sucht er zusätzliche Entlastung durch ein Entlastungsarrangement, das ich nenne: die Kunst, es nicht gewesen zu sein. Der Mensch braucht — angesichts dieser nun an ihn gerichteten übermächtigen Anklage — sozusagen ein Alibi, einen Sündenbock, einen, von dem er sagen kann: nicht ich bin — nicht wir sind — schuld an den Übeln, sondern ‚der‘ ist — ‚die‘ sind — schuld an den Übeln. Der einschlägig optimale Sündenbock war of­fensichtlich Gott; doch der steht jetzt — im geschichtsphilosophischen Zeitalter, dem nach dem Ende Gottes — nicht mehr zur Verfügung Darum muß das, was zuvor (im Zeitalter der klassischen Theodizee) als Anklage des Menschen gegen Gott — als transzendenter, so­zusagen als menschheitsaußenpolitischer Streit — abgemacht werden konnte, jetzt als An­klage des Menschen gegen Menschen — also als immanenter, als menschheitsinnenpoliti­scher Streit — ausgefochten werden. Folglich muß geschichtsphilosophisch — seit die Men­schen selber die Urheber sind — der Sündenbock nunmehr unter den Menschen selber ge­funden werden. Wo — entsprechend dem Ansatz der Geschichtsphilosophie — stets die Menschen es gewesen sind, kommt es — in Bezug auf die Übel und die trotz des Fort­schritts bleibenden Übel — zur entlastenden These, daß zwar die Menschen es gewesen sind, aber stets nur die anderen Menschen. Das Entschuldigungsarrangement der Kunst, es nicht gewesen zu sein, realisiert sich als Beschuldigungsarrangement: als die Kunst, es ande­re Menschen gewesen sein zu lassen. Die geschichtsphilosophisch zum absoluten Ge­schichtstäter stilisierten Menschen: unterm Druck von Enttäuschungserfahrungen und unterm Zwang, sich von der aus der Theodizee überkommenen und an den Menschen um­adressierten Anklage wegen der Übel zu entlasten, zerfallen sie gewissermaßen in zwei Ver­sionen des Menschen: in die, die das, was in der Geschichte schon getan ist und noch nicht gut ist, getan haben, und die, die das, was in der Geschichte noch getan werden muß und gut werden wird, tun werden; in diejenigen also, die für das vorhandene Übel verantwort­lich sind, und die, die für das kommende Heil tätig sind: in die Verräter der Zukunft und die Täter der Zukunft, in die Reaktionäre und die Progressiven, in die Schuldigen und die Unschuldigen, die Bösen und die Guten, in die Schöpfer des schlechten Bestehenden und die Erlöser von diesem schlechten Bestehenden und in genau diesem Sinne: in ‚Schöpfer­mensch‘ und ‚Erlösermensch‘.

Diese Spaltung des Geschichtstäters in einen bösen und einen guten, sie erinnert an eine alte philosophische Position: sie ist — scheint mir — die Diesseitsvariante der Theologie der Gnosis, die sich zum Manichäismus radikalisierte. Was (häretisch) schon damals — in der frühen christlichen Theologie, etwa bei Marcion, also längst ehe die Theodizee sich als aus­drücklich philosophische Disziplin formierte — angesichts der Frage nach dem Ursprung der Übel trotz der Güte Gottes zur Entlastung Gottes gedacht war: seine Doppelung in ei­nen finsteren Demiurgen, der die Übel verursacht, und einen strahlenden Retter, der von den Übeln erlöst: diese Spaltung Gottes aus Theodizeegründen in den „Schöpfergott“ ein­erseits, den „Erlösergott“ andererseits, wird offenbar geschichtsphilosophisch wiederholt dort, wo die Geschichtsphilosophie — zur Verteidigung des zum Geschichtstäter avancier­ten Menschen gegen die Anklage, die mit Hinweis auf die Übel des vorhandenen Ge­schichtszustandes gegen ihn erhoben wird — Feindschaft setzt zwischen ‚Schöpfermen­schen‘, die für die Übel, und ,Erlösermenschen‘, die für die Rettung zuständig sind. Darum nenne ich diese neuerliche Spaltung des Absoluten im Blick auf diese alte gnostische und nachgnostische, nämlich manichäische, Position: den Neognostizismus der etablierten Ge­schichtsphilosophie. Ich möchte damit unterstreichen: sosehr blieb die Geschichtsphiloso­phie nach dem Ende Gottes eine Theodizee, daß dort, wo sie den Menschen zum Absolu­ten stilisierte und dadurch jener Anklage aussetzte, die in der Theodizee Gott galt, zu sei­ner Entlastung Lösungen wiederholt werden, die in der philosophischen Tradition zur De­batte standen, längst ehe die Philosophie selbst ausdrücklich zur Theodizee sich formierte: nämlich die gnostische Lösung einer zur Feindschaft stilisierten Differenz zwischen Schöp­fer und Erlöser, die neomanichäistisch bzw. neomarcionitisch profan radikalisiert wird zum absoluten Konflikt — zur Feindschaft — zwischen Menschen und Menschen. Die avancierte Geschichtsphilosophie wiederholt — in dieser Diesseitsvariante und marcionitisch bzw. manichäistisch radikalisiert — die gnostische Lösung.

Das gibt Anlaß, in folgender Form auf meine Anfangsüberlegung zurückzukommen. Hans Blumenbergs „die Neuzeit ist die zweite Überwindung der Gnosis“ „setzt“ — fügt Blumenberg hinzu — „voraus, daß die erste Überwindung der Gnosis am Anfang des Mit­telalters nicht gelungen war“. Indes: vielleicht mißlingt auch „die zweite Überwindung der Gnosis“: die Neuzeit? Jedenfalls — das möchte ich hier nur andeuten — muß man fragen: was bedeutet es, daß die Geschichtsphilosophie — in einer profanen Variante — die Position der Gnosis wiederholt, wenn doch die Neuzeit deren zweite Überwindung ist: Viel­leicht folgt daraus, daß nicht zutrifft, was noch allenthalben unterstellt wird: es trifft nicht zu daß die Geschichtsphilosophie die eigentliche Philosophie der Neuzeit ist. Wenn sich die Geschichtsphilosophie als Rückfall erweist in eine — nämlich die gnostische — Position, deren zweite Überwindung die Neuzeit ist, dann gilt vielmehr: in der Geschichts­philosophie kulminiert nicht, in ihr mißlingt die Neuzeit; die Geschichtsphilosophie ist — gerade weil sie zur Gnosis tendiert — die Gegenneuzeit.

Quelle: Norbert W. Bolz/Wolfgang Hübener (Hrsg.), Spiegel und Gleichnis. Festschrift für Jacob Taubes, Würzburg: Königshausen & Neumann 1983, S. 160-167.

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