Von Gerhard Sauter
Der Begriff ›Gesetz‹ bezeichnet in theologischer Bedeutung Gottes ausgesprochenen Willen, als Gebot formuliert. Wird ›Gesetz‹ als Sammlung verbindlicher Verhaltensregeln aufgefaßt, kann es mit positivem Recht (Gesetzgebung, Gesetzauslegung) überlappen. Gottes Wille ist oft auch im Naturrecht gesucht worden: in Richtlinien für gemeinsames Leben, die von jeher als verpflichtend gelten und die allen geschichtlich gewordenen Rechtssetzungen vorausgehen. Darauf wurde zurückgegriffen, wenn Recht als von Gott verordnet begründet werden sollte oder wenn danach gefragt wurde, inwiefern Gottes Wille auch außerhalb einer Glaubensgemeinschaft wirksam ist. Diese Bedeutungsbreite hat den Spürsinn für vielfältige Erscheinungsformen des Willens Gottes gefördert, aber auch zu Unschärfen und Unklarheiten geführt.
›Gesetz‹ (hebr. torah) ist seit dem 5. Jh. v. Chr. Inbegriff aller Weisungen Gottes für sein Volk, der Einweisung in das persönliche und soziale Leben im Bund, den Gott mit Israel eingegangen ist, in diesem Sinne die Anweisung zum rechten Leben. ›Gesetz‹ umfaßt auch Regelungen für den Gottesdienst und Verordnungen zur Sorge für Rechtlose und Fremde. Diese Spannweite und der Beziehungsreichtum des Gesetzes wird neuerdings auch von Christen im jüd.-christlichen Gespräch und durch die Biblische Theologie wieder entdeckt. Die einzelnen Weisungen, konzentriert in den Zehn Geboten (Ex 20,2-17; Dtn 5,6-21), umreißen diesen von Gott gewährten und bewahrten Lebensraum; sie sind keine Forderungen, die lückenlos abgegolten werden könnten. Ihnen zu folgen, ist für jüd. Fromme Grund zur Freude am Gesetz und zu unaufhörlichem Dank an Gott. Das Leben im Gesetz entspricht Gottes Gerechtigkeit. Gesetzestreue versteht sich nicht als eingeengte Lebensführung, geschweige denn als kaum erträgliche Last. Der unter der Knute des Gesetzes seufzende und in ständiger Angst vor Gesetzesverfehlung peinlich korrekte Jude ist eine judenfeindliche Karikatur.
Jesus hat Gottes Gesetz nicht aufgelöst, sondern kraft seiner Vollmacht, in seiner Person Gottes Willen den Menschen nahezubringen, »erfüllt« (Mt 5,17). Er vermag deshalb auch die Formulierung der Gebote zu verschärfen (Bergpredigt): In seiner Nachfolge, die dem Ersten Gebot rückhaltlos gehorcht, wird ermöglicht, was sonst als unmöglich erscheint.
Paulus bestreitet, daß Menschen in ihrer Selbstverschlossenheit (als »Sünder«) überhaupt wollen können, was Gott will (Sünde). Vielmehr bedeutet Christwerden: dem Gesetz gestorben sein (Gal 2,19), d. h. der Selbsttäuschung, sich für ein gottgemäßes Leben zu entscheiden. Leben mit Gott ist nur möglich, wenn Menschen dazu erwählt sind und deshalb nicht mehr sich selber wählen, und sei es im Bestreben, Gottes Weisungen voll und ganz nachzukommen. Das Gesetz deckt eine Lebenslüge auf: Menschen könnten sich für oder gegen Gott, zwischen Leben und Tod entscheiden, wo doch alles davon abhängt, ob Gott sich für sie entschieden hat und wie er, richtend und rettend, am Menschen handelt.
Während Paulus den Glauben an Gottes Verheißungen einer Gerechtigkeit, die durch »Werke nach Vorschrift des Gesetzes« erreicht werden könnte, gegenüberstellt (Röm 3,28), versteht Martin Luther Gesetz als das tötende, Evangelium als das lebenschaffende Wort Gottes. In diesem Sinne sieht Luther den Glauben, der sich auf Christus richtet, im Gegensatz zur Gesetzestreue. Die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium wurde zu einem Orientierungsmerkmal des Luthertums: Das Gesetz überführt den Sünder, der in seiner Selbstverschlossenheit Gott gegenüber recht behalten will, gerade in seinen Versuchen, Gottes Weisungen nachzukommen. Das Scheitern am Gesetz konnte daraufhin von manchen als eine Art Vorbedingung zur Öffnung für das Evangelium angesehen werden: Es deckt die Gottferne des Sünders auf und zeigt ihm, wen er wahrhaft verfehlt. Darauf bezogen, ist sogar »die Gesamtwirklichkeit, in der wir uns vorfinden«, als Gesetz gedeutet worden, weil sie »Ordnungsbereich Gottes« sei (Werner Elert, Das christliche Ethos, 21961).
Gesetz in seiner Bedeutung als Regel (z. B. »Gesetz des Geistes«, Röm 8,2) verträgt sich mit christlicher Freiheit, weil und sofern diese für Gottes Verheißung und Weisung aufgeschlossen ist. Gesetz kann also nie abgesehen vom Evangelium aufgefaßt werden. Umstritten ist geblieben, ob die durch Luther eingeprägte Reihenfolge Gesetz und Evangelium maßgebend sein solle oder ob Gottes Gesetz »die notwendige Form des Evangeliums« sei, »dessen Inhalt die Gnade ist« (Karl Barth, Evangelium und Gesetz, 1935). Beide Male widerspricht Gottes Weisung jedoch individueller oder staatlicher »Autonomie«: einer rückhaltlosen, womöglich schrankenlosen »Selbstbestimmung«, die sich selber das höchste Gesetz ist und keine andere Letztberufungsinstanz kennt. Das Eintreten für den Rechtsstaat entspricht dagegen christlichem Verständnis des Gesetzes, weil Recht und Friede ohne verfassungsgemäße Gesetzestreue nicht gedeihen können.
Lit.: Wilfried Joest: Gesetz und Freiheit. Göttingen 1951. – Ernst Kindler / Klaus Haendler (Hrsg.): Gesetz und Evangelium. Darmstadt 1968. – Albrecht Peters: Gesetz und Evangelium. Gütersloh 1981. – Rudolf Smend / Ulrich Luz: Gesetz. Stuttgart [u. a.] 1981. – Gesetz als Thema Biblischer Theologie. Neukirchen-Vluyn 1989. (Jahrbuch für Biblische Theologie. 4.)
Quelle: Alf Christophersen/Stefan Jordan (Hrsg.), Lexikon Theologie. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart: Reclam, 2004, 128-131.