Predigt zu 2. Korinther 1,3-11
Von Hermann Diem
Liebe Gemeinde! Wir könnten unsere Briefe und unsere Gespräche eigentlich auch einmal so anfangen wie der Apostel diesen Brief an die Gemeinde in Korinth: »Gelobt sei Gott und der Vater unseres Herrn Jesu Christi, der Vater der Barmherzigkeit und Gott alles Trostes, der uns tröstet in aller unserer Trübsal, daß wir auch trösten können, die da sind in allerlei Trübsal, mit dem Trost, damit wir getröstet werden von Gott.« Nicht wahr, liebe Freunde, wo man so beginnt, da wird nicht nur über den rechten Trost geredet, sondern da geschieht dieses Trösten. Da wird der Trost wie ein Schatz ausgebreitet, verteilt und ausgeschüttet.
Mit diesem Brief kommt der Apostel zu uns wie zu armen, kranken Leuten. Er weiß: jetzt werden sie gleich anfangen, über ihre Armut zu klagen, ihre Leiden zu entfalten, von ihrer hoffnungslosen Lage zu erzählen. Und darum beugt er gleich vor und sagt: Wir sind gar keine armen Leute. Laßt uns zuerst den Schatz auftun, der uns gegeben ist, dann wollen wir weiter sehen. Wir wollen zuerst miteinander Gott loben als den »Vater der Barmherzigkeit«; und dann erst wollen wir von der Unbarmherzigkeit der Menschen reden, unter der wir leiden. Wir wollen zuerst miteinander danken dem »Gott alles Trostes«; und dann erst wollen wir darüber reden, ob denn bei uns wirklich alles so trostlos ist.
Sollten wir es nicht auch einmal so versuchen? Wie ganz anders müßten wir dann miteinander reden über unsere alltäglichen Nöte und Sorgen, über die Lage der Welt und über die Zukunftsaussichten unseres Volkes. Es könnte dann nicht mehr sein, daß wir hier in der christlichen Gemeinde genau so trostlos und verzagt, so müde und gleichgültig reden und sind wie alle Welt um uns her.
Es könnte dann nicht mehr sein, daß man in ein Krankenzimmer zu Christen kommt, und es ist von nichts anderem die Rede als von der Krankheitsgeschichte, von dem, was der und jener Arzt gemeint hat und was alles zu hoffen oder noch zu befürchten ist, so daß man keine Lust und auch keine Luft mehr hat, von etwas anderem zu reden. Man lebt und leidet genau so wie jedermann, der kein Christ ist.
Es könnte dann nicht mehr sein, daß man in ein Trauerhaus zu Christen kommt, und es ist so, wie wenn der böse Feind eingebrochen wäre und nur Zerstörung und Trümmer hinterlassen hätte – genau so wie bei jedermann, der kein Christ ist.
Es könnte dann nicht mehr sein, daß man mit Christen über die politische Lage redet, über die Besatzungsmächte und die Regierung, über die Ernährungslage und die wirtschaftlichen Aussichten, und es erscheint alles grau in grau und hinterher fragt man sich, wozu man denn überhaupt miteinander geredet hat, wenn doch nur jeder dem andern seine Trostlosigkeit klagen konnte. Man hat genau so geredet wie jedermann, der kein Christ ist.
Wodurch unterscheidet sich denn überhaupt eine Christengemeinde von der Welt um sie hier? Man könnte sagen: durch ihre Frömmigkeit und Rechtschaffenheit, durch ihre Vorbildlichkeit in der Nächstenliebe u. a. Aber was soll das alles, wenn man hier genauso trostlos müde und gelähmt erscheint wie alle Welt? Eine Christengemeinde müßte sich darin von ihrer Umgebung abheben, daß sie um jenen Schatz des Trostes weiß, der ihr gegeben ist. Und sie dürfte nicht nur um diesen Schatz wissen, sondern müßte ihn auftun und austeilen; sie müßte von diesem Schatz leben. Dann würde sie ganz anders von ihrem Leiden reden, so wie es der Apostel tut: »Denn gleich wie wir des Leidens Christi viel haben, also werden wir auch reichlich getröstet durch Christum«.
Es wird ja gar nicht bestritten, daß wir es schwer haben. Es wird uns keineswegs gesagt, es sei alles gar nicht so schlimm. Im Gegenteil: Wer so von dem Dank gegen den Vater der Barmherzigkeit und den Gott alles Trostes lebt, der tut es ja eben darum, weil das Leid und die Sorge ihn zu ersticken drohen.
Der Apostel erzählt von sich selbst. Er hat Schweres durchgemacht, wahrscheinlich bei einer Verfolgung. Es ging über seine Kraft, nicht nur weil er äußerlich keinen Ausweg mehr sah, sondern weil er innerlich verzweifelt war. Er ist dann doch gerettet worden und mit dem Leben davongekommen. Aber davon redet er nicht weiter. Das ist nicht sein eigentlicher Trost, daß es noch einmal gut ging. Sein Trost ist vielmehr, daß es ihm mitten in dieser Trübsal aufging: »Das geschah aber darum, damit wir unser Vertrauen nicht auf uns selbst sollen stellen, sondern auf Gott, der die Toten auferweckt, welcher uns von solchem Tode erlöst hat und noch täglich erlöst; und wir hoffen auf ihn, er werde uns auch hinfort erlösen.«
Diesen Trost hat er nicht billig bekommen. Der Weg aus der Trübsal heraus zum Gerettetwerden führte ihn nicht nur durch die ganze Hölle menschlicher Leiden, sondern auch in jene Tiefe, in der Jesus am Kreuz ausrief: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« In dieser tiefsten Tiefe ist ihm das Wunder widerfahren, daß Gott die Toten zum Leben auferweckt.
Wir müssen das ganz wörtlich nehmen, sonst begreifen wir nicht, was hier geschehen ist. Ein Kranker, und wenn er noch so schlimm dran ist, kann selbst mithelfen, daß er gesund wird: durch seinen eigenen Willen zum Leben, durch die Hoffnung auf Rettung. Ein Toter kann nichts mehr tun. Soll dieses Allerunmöglichste geschehen, daß er je wieder zum Leben kommt, dann muß sich das Wunder Gottes ereignen, das den Toten – nicht den Scheintoten, sondern den wirklichen Toten – zum Leben ruft. Ebenso ist es dem Apostel ergangen. Ebenso fern war er von aller Hoffnung und allem Trost, wie ein Toter fern ist vom Leben. Und eben dieses Wunder, das Tote zum Leben ruft, ist ihm widerfahren, als er aus dieser Hölle aufstand.
Nun muß er von dem reden, was ihm widerfahren ist, nicht nur deshalb, weil sein volles Herz überfließt in Lob und Dank gegen den Vater der Barmherzigkeit und Gott alles Trostes. Er muß es deshalb der Gemeinde sagen, weil er weiß, daß ihm das nicht um seiner selbst willen widerfahren ist: »Wir haben aber Trübsal oder Trost, so geschieht es euch zugute. Ist ’s Trübsal, so geschieht es euch zu Trost und Heil; welches Heil sich beweist, so ihr leidet mit Geduld, dermaßen wie wir leiden. Ist’s Trost, so geschieht auch das euch zu Trost und Heil.«
Er mußte diesen Weg gehen, damit er trösten kann. Seht, liebe Freunde, wir werden nicht alle bis an jene Grenze der Trostlosigkeit hinausgeführt wie der Apostel. Darum sind wir in Gefahr, uns auch mit billigerem Trost zu begnügen, der leichter zu haben ist.
Wie leicht fangen wir uns immer wieder. Wie geschickt verstehen wir es, nach jedem Fall wieder auf die Füße zu kommen. Man ist oft erstaunt, wenn man es etwa als Pfarrer in einem Todesfall mit den Leidtragenden zu tun hat, wie schnell die Menschen sich wieder trösten, die doch so untröstlich erschienen. Sie haben sich mit dem Fall abgefunden; sie haben sich an die neue Lage gewöhnt und das Vergangene vergessen. Man hat sich vielleicht Mühe gegeben, ihnen den rechten Trost zu zeigen; aber sie haben gar nicht darnach gegriffen, sondern es war wieder einmal bloß die Zeit, welche alle Wunden heilt. Wir halten in unserem Leiden immer noch einige menschliche Hoffnungen fest, an die wir uns klammem. Denken wir nur an unsere Gespräche an den Krankenbetten, wie wir etwa den Kranken aufs Frühjahr vertrösten. Wir reden ihm ein, daß es bald besser wird, auch wenn wir selbst es gar nicht glauben. Und der Kranke, der es vielleicht ebensowenig glaubt, hört es trotzdem gern. Nicht anders ist es mit unserem Jammern über den Lauf der Welt und die Politik. Laßt die Lebensmittelversorgung ein bißchen besser werden, dann ist gleich alles nicht mehr so schlimm. Dann haben wir schon wieder Hoffnung und glauben gleich wieder an die menschliche Vernunft und Einsicht, die alles schaffen können.
Freilich ist das kein Trost, sondern nur ein Vertrösten. Aber wir greifen eben zum Billigsten, auch wenn es sich bald als wertlos erweist. Es täuscht doch wenigstens wieder einmal über die Lage hinweg. So sind wir, auch wir in der christlichen Gemeinde. Wir kommen darum gar nicht so weit, uns mit dem wirklichen Trost zu trösten, mit der Hoffnung auf den Gott, der die Toten auferweckt. Darum ist es so wichtig, daß uns der Apostel aus seinem Leiden den wirklichen Trost mitbringt, der nicht nur vertröstet, der nicht nur scheinbar reich macht und doch bettelarm läßt, sondern der allem Leid gewachsen ist. Dieser Trost wird uns hier ausgeteilt und wir, liebe Gemeinde, wir sollen zugreifen.
Wenn du darunter leidest, daß die Verhältnisse in deinem Leben so verfahren sind und nicht mehr zurechtgebracht werden können, dann sollst du nicht denken: es wird schon irgendwie gehen; einstweilen plagen wir uns eben so durch. Laß es dir sagen: es soll nicht »irgendwie« weitergehen und sei es auch noch so schlecht, sondern es soll gut gehen. Das kann es aber nur dort, wo alle Beteiligten sich nicht auf ihre Kraft und Einsicht, auf ihren guten Willen verlassen, sondern auf den Gott, der die Toten auferweckt. Und das heißt, daß da, wo keiner mehr einen Weg zum andern findet, um alles ins reine zu bringen, wo vielleicht jahrelanger Streit und generationenalte Feindschaft alles verbaut hat, daß man da wieder neu anfangen kann und alles hinter sich lassen, als wäre es nie gewesen.
Vielleicht leidest du darunter, daß es dir nicht gelingt, ein neuer Mensch zu werden. Du plagst dich und die andern mit deinem Wesen, mit deinen Fehlern und Schwächen. Du kannst bei allem guten Willen und bei den besten Vorsätzen dir selbst nicht entfliehen. Laß es dir verkündigen, daß Gott die Toten auferweckt. Das heißt für dich, daß er sich um die annimmt, die mit all ihrer Kraft und mit ihren guten Anläufen gescheitert sind. Er kennt deinen geheimen Kampf, von dem niemand etwas weiß. Und wenn er sich um solche Leute annimmt wie um dich, dann rechnet er von vornherein damit, daß du selbst nichts mehr hast, worauf du deine Hoffnungen setzen könntest. Dann macht er es nicht, wie die Menschen um dich her, die einfach denken, du müßtest das können, was sie von dir erwarten. Er rechnet auf gar nichts mehr bei dir, und darum sollst du es auch nicht mehr tun. Er rechnet nur noch darauf, daß er Tote zum Leben erretten, daß er also Unfähige und Gescheiterte und Hoffnungslose wieder auf die Beine stellen kann. Darum darfst auch du dich darauf verlassen, daß er – nicht du – dies vermag, und daraufhin darfst du es getrost noch einmal wagen, neu anzufangen.
Vielleicht auch leidest du darunter, daß in der Welt um dich her Haß und Vergeltung, Dummheit und Unverstand herrschen. Darum siehst du nicht mehr hinaus. Laß dir sagen, daß du deine Hoffnung auf den Gott setzen sollst, der die Toten auferweckt. Das heißt für dich, daß es auch in dieser Welt der Politiker und Diplomaten so etwas gibt wie die Auferstehung von den Toten, daß da plötzlich einer, der über all dem menschlichen Intrigenspiel, der über all den Berechnungen, wie es wohl gehen könnte, der über all seinen Hoffnungen und Fehlschlägen verzweifelt ist -, daß dieser plötzlich daran erinnert wird, daß Jesus Christus von den Toten auferstanden ist. Damit ist auf einmal nicht mehr alles hoffnungslos. Nun haben alle Anstrengungen und Bemühungen um eine Besserung der Dinge wieder einen Sinn. Jetzt müssen wir nicht mehr bloß mit der Trägheit und Unfähigkeit der Menschen rechnen, sondern wir dürfen mit dem Wunder rechnen, das diese so hoffnungslos verbohrten und verstockten Menschen anders macht und sie den rechten Weg finden läßt. Damit ist aber das Müdewerden einfach Sünde, weil es die Sünde des Unglaubens ist.
Daß wir unsere Hoffnung nicht auf uns selbst setzen sollen, sondern auf Gott, der die Toten auferweckt, das ist der Trost, der hier in der Gemeinde ausgeteilt wird.
Zum Schluß noch eines, was der Apostel sagen will: Diesen Trost kann keiner für sich allein haben. Zum Trösten gehören immer wenigsten zwei, von denen einer dem andern bezeugen kann, daß der Trost wirklich hilft. Darum, liebe Gemeinde, haben wir nicht nur das Wort des Evangeliums, die Botschaft von dem Vater der Barmherzigkeit und dem Gott alles Trostes unter uns – darum haben wir nicht nur die langen Reihen der christlichen Zeugen von dem Apostel an hinter uns, sondern wir haben auch den christlichen Bruder und die christliche Schwester neben uns, damit im gegenseitigen Trösten der Schatz seine Wunderkraft erweisen kann.
Daß dieser Trost hin und her in den Häusern auch unserer Gemeinde gegeben und empfange werde, darum wollen wir Gott bitten; und wir dürfen es getrost tun, weil das Wort des Apostels auch für uns gilt: »Unsere Hoffnung steht fest für euch, dieweil wir wissen, daß wie ihr des Leidens teilhaftig seid, so werdet ihr auch des Trostes teilhaftig sein.«
Gehalten am Sonntag, 29. Februar 1948 in Ebersbach/Fils.
Quelle: Hermann Diem, Predigten aus Ebersbach, Stuttgart: Kohlhammer, 1948, S. 65-73.