Jürgen Moltmann, Der «gekreuzigte Gott». Neuzeitliche Gottesfrage und trinitarische Gottesgeschichte (1972): „Man kann Psalm 22 im Munde des sterbenden Jesus also so verstehen: «Mein Gott, warum hast Du Dich verlassen?» Diese Verlassenheit am Kreuz muss also strikt als ein Geschehen zwischen Jesus und seinem Gott verstanden werden. Das Kreuz ist in dieser Hinsicht ein Geschehen zwi­schen Gott und Gott.“

Der «gekreuzigte Gott». Neuzeitliche Gottesfrage und trinitarische Gottesgeschichte

Von Jürgen Moltmann

Der Streit um die Existenz Gottes und die Funk­tion des Gottesglaubens hat in den letzten Jahren viele Christen verunsichert. Sie fühlen sich orien­tierungslos zwischen den Schlagworten «Gott ist tot» und «Gott kann nicht sterben». Im Kampf um eine neue Kirche und eine neue Gesellschaft haben darum manche die Gottesfrage einfach ausgeklam­mert. Hinter der politisch-sozialen Krise der Kirche aber lauert die christologische Krise: auf wen beruft sich die Christenheit eigentlich? und in dieser steckt die Gottesfrage: welcher Gott motiviert die christliche Existenz: der Gekreuzigte oder die Götzen von Religion, Klasse und Rasse? Ohne neue Gewißheit im christlichen Glauben wird es keine öffentliche Glaubwürdigkeit der Kirche geben.

Aus den Streitigkeiten der letzten Jahre sind überraschend neue konvergierende Tendenzen des theologischen Denkens quer durch die Kon­fessionen hindurch entstanden, die eine neue christliche Gotteslehre ahnen lassen.[1] Ich nehme diese Ansätze auf und führe sie weiter.

I.

Dem Denken geht das Leiden voraus, und die Frage nach Gott entsteht zutiefst aus dem Schmerz am Unrecht in der Welt und an der Verlassenheit im Leiden. Es gibt viele Bewegungen und Kämpfe, auf die sich die Geschichte konzentriert; Macht­kämpfe, Rassenkämpfe usw. Aber wenn man eine zutreffende universalgeschichtliche Kategorie sucht, wird man sie hinter jenen Bewegungen und Kämpfen erst in der «Leidensgeschichte der Welt»[2] finden. Im Haben unterscheiden sich Men­schen von Menschen, in der Armut aber sind sie solidarisch. Im Positiven trennen sich Menschen von Menschen, im Negativen aber werden sie sich gleich. Die Erfahrung und die Wahrnehmung des Leidens in der Welt und an der Welt führte über Theismus und Atheismus hinaus. Angesichts des Leidens auf dieser Welt ist es unmöglich, an die Existenz eines allmächtigen und allgütigen Gottes zu glauben, der «alles so herrlich regiert». Ein Gottesglaube, der Leiden und Unrecht in der Welt rechtfertigt und nicht dagegen protestiert, ist unmenschlich und wirkt satanisch. Auf der anderen Seite aber würde der Protest gegen das Unrecht seine Energie verlieren, wenn er dem platten Atheismus verfiele, für den diese Welt mit ihrem Zustand alles ist. Der zornige Atem des Aufschreis ist getragen von der Sehnsucht nach dem Ganz-Anderen. Es ist, wie Max Horkheimer erklärte, «die Sehnsucht, daß der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge»[3]. Es ist die unaufgebbare Sehnsucht nach Gerechtig­keit. Ohne die Leidenschaft für Gerechtigkeit in der Welt und den, der sie endgültig verbürgt, gibt es kein bewußtes Leiden am Unrecht. Stellt also das Leiden die Idee eines gerechten Gottes in Fra­ge, so stellt umgekehrt die Sehnsucht nach Ge­rechtigkeit und dem, der sie verbürgt, das Leiden in Frage und macht es zum bewußten Schmerz. Jenseits von Theismus und Atheismus führen Lei­den und Protest gegen das Leiden in die Theodizeefrage hinein: Si Deus justus – unde malum? Nen­nen wir den Stachel in der Frage: Warum das Leiden? «Gott», so wird umgekehrt der Stachel in der Gottesfrage: An Deus sit? das Leiden.

Der herkömmliche Theismus beantwortet diese Doppelfrage mit der Rechtfertigung dieser Welt als «Gotteswelt»: Diese Welt ist, so wie sie ist, ein Spiegel der Gottheit. Diese Antwort ist nicht möglich. Der Spiegel ist zerbrochen. Sie ist des­halb Idolatrie.

Der herkömmliche Atheismus entzieht der Lei­densfrage nach Gott den Boden. «Die einzige Entschuldigung Gottes ist, daß er nicht existiert» (Stendhal und Nietzsche). Ironischerweise wird hier die Nichtexistenz Gottes zur Entschuldigung Gottes angesichts einer mißglückten Schöpfung, Das aber heißt praktisch: gewöhnt den Menschen die absoluten Fragen nach Sinn und Gerechtigkeit ab, so werden sie sich den schlechten Verhältnissen anpassen und zufrieden sein.

Kritische Theologie und kritischer Atheismus treffen sich im Rahmen der Frage nach Gerechtig­keit im Leiden. Kritische Christen und kritische Atheisten finden in diesem Kontext zur prakti­schen Solidarität im Kampf gegen das Unrecht und seine religiöse Sanktionierung.

Was bedeutet im Kontext der Leidensgeschichte der Welt die Erinnerung an die Leidensgeschichte Christi? Bevor wir dieser Frage nachgehen können, müssen wir herausfinden, was die Leidensgeschich­te Christi für das Sein Gottes selbst und folglich für den christlichen Gottesglauben bedeutet. Ein Gott, der in teilnahmsloser Seligkeit im Himmel thront, ist unannehmbar. Muß die christliche Theologie darum nicht die alte theopaschitische Frage wieder aufnehmen: Hat Gott selbst gelitten? Wäre nicht ein leidensunfähiger Gott nicht auch ein liebesunfähiger Gott und darum ärmer als jeder Mensch? Was aber kann umgekehrt ein leidender Gott leidenden Menschen bedeuten, außer einer religiösen Bestätigung ihrer Leiden?

Die christliche Theologie kann sich erst dann der Leidensgeschichte der Welt ohne theistische Illusion und ohne atheistische Resignation stellen, wenn sie sich der Leidensgeschichte Christi ge­stellt und Gottes Sein im Kreuzestode Jesu er­kannt hat. Erst wenn klar geworden ist, was zwi­schen dem sterbenden Jesus und «seinem» Gott geschehen ist, kann herauskommen, wer dieser Gott für die Leidenden und Verlassenen dieser Erde bedeutet.

II.

Woran ist Jesus gestorben? Wegen seiner neuen Botschaft von der gnädigen Gerechtigkeit Gottes und seiner Gemeinschaft mit Rechtlosen und Un­gerechten wurde er nach dem Gesetz als Gottes­lästerer verurteilt. Er wurde von der römischen Besatzungsmacht als Aufrührer gegen die pax romana und ihre Götter gekreuzigt. Er starb end­lich in Gottverlassenheit von dem Gott und Vater, dessen Kommen er in bis dahin unerhörten Wor­ten und Handlungen antizipierte und bezeugte. So ist Jesus im letzten Sinne an seinem Gott und Va­ter gestorben, der ihn verließ. Auf diesen Punkt der Gottverlassenheit des Gottessohnes verdichtet sich die christliche Frage nach Gott und dem Lei­den, der die Theologie traditionell meistens aus­gewichen ist. Als eines der ältesten Zeugnisse be­richtet Markus, daß Jesus keinen schönen und tapferen Tod starb, sondern mit Geschrei und Tränen endete. Nach Markus 15, 37 starb er mit einem unartikulierten Schrei. Markus 15, 34 deutet ihn mit den Anfangsworten des Psalm 22: «Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?» Um die Paradoxie vollkommen zu machen, antwortet nach Markus auf Jesu Schrei der Gottverlassenheit der heidnische Centurio mit dem Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu. Wie ist das zu verstehen? Offenbar hat die spätere Überlieferung an der Markusdeutung Anstoß genommen und den To­desschrei Jesu mit frömmeren Worten wieder­gegeben. Westliche Textgruppen des Markus sagen: «Mein Gott, was hast Du mir vorzuwerfen?» Lukas ersetzt den Ausdruck der Verlassenheit mit Worten des jüdischen Abendgebets aus Psalm 31,6: «In Deine Hände befehle ich meinen Geist.» Johannes sagt aus theologi­schen Gründen: «Es ist vollbracht» (19, 30). Man wird annehmen dür­fen, daß die schwierige Lesart von Markus der historischen Wirklichkeit am nächsten kommt.

Wenn zwei das Gleiche sagen, muß es nicht das­selbe sein. Es ist darum falsch, Jesu Schrei im Sinne von Psalm 22 zu interpretieren, und richtig, Psalm 22 hier im Sinne Jesu zu interpretieren.[4] In Psalm 22 ist mit «mein Gott» der Bundesgott Isreals gemeint und mit dem «Ich» des Verlasse­nen der leidende Gerechte, der die Bundestreue Gottes einklagt. Bei Jesu aber liegt im Ruf «mein Gott» der gesamte Inhalt seiner neuen Botschaft vom gnädig und befreiend nahenden Reich und seines eigenen Leben in dieser Nähe Gottes, die ihn stets exklusiv von «meinem Vater» hat spre­chen lassen. Dadurch wird seine Verlassenheit zu einer einzigartigen Verlassenheit. Der ihn verläßt, ist nicht nur der Bundesgott Israels, sondern sein Gott und Vater. Folglich ist das Ich der Ver­lassenheit nicht mehr nur der Bundespartner, son­dern das Ich des Sohnes. Der Rechtscharakter der Gottesklage bleibt jedoch erhalten. Der Schrei Jesu hat, wie der des Psalmisten, nichts mit «ge­troster Verzweiflung» zu tun, sondern ist ein Ruf nach Gottes Treue um Gottes willen. Der Psalmist klagt die Bundestreue Gottes zum Gerechten ein. Jesus klagt hier die Einheit des Vaters mit ihm, dem Sohn, ein. Mit seinem Tod steht nicht nur die Treue Gottes auf dem Spiel, sondern die Gottheit des Gottes, dessen Nähe und Väterlichkeit er verkündigt hat. Darum klagt Jesus mit diesen Worten sein eigenes Sein in seiner besonderen Beziehung zum Vater, in welcher er der Sohn ist, ein. Man kann Psalm 22 im Munde des sterbenden Jesus also so verstehen: «Mein Gott, warum hast Du Dich verlassen?» Diese Verlassenheit am Kreuz muß also strikt als ein Geschehen zwischen Jesus und seinem Gott verstanden werden. Das Kreuz ist in dieser Hinsicht ein Geschehen zwi­schen Gott und Gott.

Warum wurde nach Ostern die Gottverlassen­heit Jesu am Kreuz überhaupt noch überliefert? Es gab bekanntlich einen urchristlichen Enthusias­mus, für den das Kreuz nur eine überholte Durch­gangsstufe zu jener Herrlichkeit darstellte, die man in der Gegenwart des Geistes zu erfahren glaubte. Gegen diesen urchristlichen Enthusias­mus haben Paulus und Markus die Erinnerung an die bleibende Bedeutung des Kreuzes des erhöh­ten Herrn eingeschärft. Je mehr der Glaube in das Leiden an der unerlösten Welt hineinführte, um so mehr entdeckte er die Bedeutung der Kreuzi­gung der eschatologischen Person Christi. Ostern macht also das Kreuz nicht zur überwundenen Durchgangsstufe, sondern qualifiziert es zum Heilsereignis. Erst im eschatologischen Licht des Auferstehungsglaubens wird das Kreuz zum theo­logischen Geheimnis, das es historisch gesehen nicht ist, weil viele Propheten so endeten. Die Kreuzestheologie bei Paulus und Markus hat den Osterglauben zur Voraussetzung und ist sein konkreter Inhalt. Wie aber kann Gott selbst in seinem Sohn gottverlassen sein, leiden und ster­ben?

III.

Der christliche Theismus gerät an diesem Punkt in seine Aporie. Die neuere, katholische und pro­testantische Dogmengeschichtsschreibung ist sich darin einig, daß die Wahrnehmung der Verlassen­heit Jesu (derelictio Jesu) die zentrale Schwierig­keit der altkirchlichen Christologie gewesen ist. Zwar gab es in der altkirchlichen Anbetung des Gekreuzigten eine «Religion des Kreuzes». Igna­tius konnte unreflektiert von den «Leiden meines Gottes» (Röm 6, 3) sprechen, deren Nachahmer er im Martyrium werde. Aber die theologische Reflexion war nicht in der Lage, Gottes Sein selbst mit dem Leiden und Tod Jesu zu identifi­zieren. Die geistige Sperre ging einmal vom anti­ken Gottesbegriff aus. Danach ist Gott unvergäng­lich, unsterblich und leidensunfähig, der Mensch aber vergänglich, sterblich und leidensfähig. Sie ging zum anderen von der antiken Heilssehnsucht aus. Danach liegt das Heil in der Vergottung, und Vergottung hieß Unsterblichkeit und Unvergäng­lichkeit. Selbst Kyrill von Alexandrien, der die gottmenschliche Einheit des Christus am stärksten betont hat, mußte Jesu Verlassenheit umdeuten: Die Not Christi ist nicht seine eigene, sondern die Not der Menschheit. Wer behauptet, Christus selbst sei hier von Furcht und Schwäche über­wältigt worden, verweigert ihm das Bekenntnis der Gottheit[5]. Doch war es wirklich nicht möglich, das Leiden Jesu auf das Sein Gottes zu beziehen?

Nicäa sagt mit Recht gegen Arius, daß Gott nicht so veränderlich ist wie das Geschöpf. Das aber ist keine absolute, sondern nur eine Ver­gleichsaussage. Gott ist keiner Nötigung durch Nichtgöttliches unterlegen. Doch damit ist nicht gesagt, daß Gott nicht frei sei, sich selbst zu ver­ändern oder sich durch anderes veränderlich zu machen. Aus der relativen Behauptung seiner Unveränderlichkeit ergibt sich nicht der Schluß auf seine absolute Unveränderlichkeit.

Gegen die syrischen Monophysiten hatte die Alte Kirche die Leidensunfähigkeit Gottes festge­halten. Sie kannte als Gegensatz zum passiven Leiden nur die wesenhafte Leidensunfähigkeit. Es gibt aber noch ein drittes, nämlich aktives Leiden, das Leiden der Liebe, die freiwillige Offenheit für die Affizierung durch anderes. Wäre Gott in jeder Hinsicht leidensunfähig, so wäre er auch liebes­unfähig wie der Gott des Aristoteles, der zwar von allen geliebt wird, aber selbst nicht lieben kann. Wer aber liebesfähig ist, ist auch leidens­fähig, denn er öffnet sich selbst den Leiden, die die Liebe einbringt und bleibt ihnen doch kraft der Liebe überlegen. Gott leidet nicht wie die Kreatur aus Mangel, sondern aus der Fülle seines Seins liebt er und leidet an seiner freien Liebe.

Die theistischen Unterscheidungen von gött­lichem und menschlichem Sein sind nach außen hin wichtig. Sie sagen aber nichts über das innere Verhältnis Gottes zu Jesus und des Sohnes zum Vater aus und können darum nicht auf das Kreu­zesgeschehen zwischen Gott und Gott angewen­det werden. Der christliche Humanismus gerät an diesem Punkt in eine ähnliche Aporie. Sieht er in Jesus den vollkommenen Menschen Gottes und nimmt er als Ausweis für das «stets kräftige Gottesbewußtsein» Jesu seine vorbildliche Sündlosigkeit, so kann Jesu Sterben nur die Vollendung seines Gehorsams oder Glaubens sein, nicht aber Gottverlassenheit. An die Stelle der Leidensun­fähigkeit der Gottesnatur (apatheia) tritt dann die Unerschütterlichkeit (ataraxia) des Gottesbewußtseins Jesu. Das alte Axiom der Unveränderlichkeit Gottes wird damit nur auf das «innere Leben Jesu» übertragen. Die Aporien bleiben die gleichen. Geht man endlich zum atheistischen Jesus-Huma­nismus über, so fällt der Stachel im Todesschrei Jesu gänzlich weg. Gibt es keinen Gott, so kann Jesus schließlich auch nicht gottverlassen gestor­ben sein. Sein Todesschrei nach Gott war dann völlig überflüssig.

Jede christliche Theologie antwortet im Grunde auf den Todesschrei Jesu und sagt bewußt oder unbewußt, warum Gott ihn verlassen hat. Auch der Atheismus antwortet auf diese Frage. Er be­antwortet sie so, daß er ihr den Boden entziehen möchte, um sie los zu werden. Der Todesschrei Jesu ist aber größer als die beste theologische Antwort. Darum werden am Kreuz alle theologi­schen Antworten zu vorläufigen Hinweisen auf das Kommen des Gottes, der allein die Antwort sein kann.

IV.

Christliche Gottesrede muß in der Wahrnehmung und vollen Präsenz der Gottverlassenheit Jesu am Kreuz geschehen und kann nur hier gerechtfertigt werden. Entweder ist Jesu Kreuz das christliche Ende jeder Theologie oder der Anfang einer spezi­fisch christlichen Theologie. Die christliche Got­tesrede wird am Kreuz Christi zu einer trinitari­schen Rede von der «Geschichte Gottes» und muß sich folglich von jedem Monotheismus, Poly­theismus und Pan­theismus trennen. Die zentrale Stellung des Gekreuzigten ist das christliche Spezificum in der Weltgeschichte und die Trinitäts- lehre ist das christliche Spezificum in der Gottes­lehre. Beide hängen aufs engste zusammen. «Nicht die spärlichen trinitarischen Formeln im Neuen Testament, sondern das durchgehende Zeugnis vom Kreuz ist der Schriftgrund für den christlichen Glauben an den dreieinigen Gott, und der kürzeste Ausdruck für die Trinität ist die gött­liche Kreuzestat, in welcher der Vater den Sohn sich durch den Geist opfern läßt»[6]. Wir nehmen den exegetischen Anhalt für diese These bei den Verlassenheitsaussagen der paulinischen Theolo­gie. Das griechische Wort für verlassen – paradidomi – hat in der Passionsgeschichte der Evangelien einen eindeutig negativen Klang und meint: verraten, ausliefern, hingeben, töten. Bei Paulus tritt dieser negative Sinn von parédoken in Röm 1, 18 ff bei seiner Darstellung der Gottverlassenheit der gott­losen Menschen auf, Schuld und Strafe liegen zu­sammen: Menschen, die Gott verlassen werden, von Gott verlassen und an ihren selbstgewählten Weg «dahingegeben»; die Juden an ihre Gesetz­lichkeit und die Heiden an ihren Götzendienst, und beide an den Todestrieb. Eine Umkehrung des Sinnes der parédoken-Formel bringt Paulus, wenn er die Verlassenheit Jesu nicht im historischen Kontext seines Lebens, sondern im eschatologischen Kontext des Glaubens darstellt. «Gott hat auch seines eigenen Sohnes nicht verschont, son­dern hat ihn für uns alle dahingegeben. Wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?» (Röm 8, 32). In der historischen Verlassenheit des Gekreuzig­ten sieht Paulus eschatologisch jene Hingabe des Sohnes durch den Vater zugunsten der gottlosen und gottverlassenen Menschen. Betont er dabei Gottes «eigenen Sohn», so ergreift die Hingabe des Sohnes auch den Vater selbst; jedoch nicht in derselben Weise, nicht patripassianisch. Jesus erleidet das Sterben in Gottverlassenheit. Der Vater aber erleidet den Tod des Sohnes im Schmerz seiner Liebe. Wird der Sohn vom Vater hingegeben, so erleidet der Vater seine Verlassen­heit vom Sohn. Kazoh Kitamori hat das treffend den «Schmerz Gottes» genannt[7].

Da das Sterben des Sohnes etwas anderes ist als dieser Schmerz des Vaters kann man nicht theopaschitisch vom «Tod Gottes» reden. Um die Geschichte des gottverlassenen Sterbens Jesu als Geschehen zwischen seinem Vater und ihm, dem Sohn, zu begreifen, muß man trinitarisch reden und sollte den allgemeinen Gottesbegriff zunächst draußen lassen. In Gal 2, 20 begegnet die parédoken-Formel mit Christus als ihrem Subjekt («… der Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben hat»). Danach gibt nicht allein der Vater den Sohn dahin, sondern der Sohn gibt sich auch selbst dahin. Das deutet auf eine Willensgemeinschaft zwischen Jesus und seinem Vater am Punkte ihrer völligen Trennung der Gottverlassenheit am Kreuz hin. Schon Pau­lus hat das Geschehen der Gottverlassenheit Christi als Liebe interpretiert. Das begegnet in der johanneischen Theologie wieder (Joh 3, 16). Und der 1. Johannesbrief sieht in diesem Geschehen der Liebe am Kreuz die Existenz Gottes selbst: «Gott ist Liebe» (4, 16). Darum läßt sich in späte­rer Terminologie im Blick auf das Kreuz von einer Homousie des Vaters mit dem Sohne und umgekehrt reden. Im Kreuz sind Jesus und sein Gott und Vater aufs tiefste getrennt durch die Verlassenheit und zugleich aufs Innigste eins in der Hingabe. Denn aus dem Kreuzesgeschehen zwischen dem verlassenden Vater und dem ver­lassenen Sohn geht die Hingabe selbst hervor, d. h. der Geist.

Wollte man das Geschehen der Kreuzigung Jesu im Rahmen der Zwei-Naturen-Lehre interpretie­ren, so hätte man nur den Begriff des einen Gottes und der einen Gottesnatur zur Verfügung und käme in erhebliche Paradoxa. Am Kreuz schreit dann Gott nach Gott. Im Kreuzestod stirbt dann Gott an Gott. Es wäre dann an dieser und nur an dieser Stelle «Gott selbst tot» und doch nicht «tot». Hat man nur den Gottesbegriff zur Verfü­gung, dann ist man ferner immer geneigt, ihn auf den Vater anzuwenden und das Sterben nur auf die menschliche Person Jesu zu beziehen. Damit aber wird das Kreuz um die Gottheit «entleert». Läßt man jenen Got­tesbegriff aber zunächst drau­ßen, dann muß man von Personen in den beson­deren Verhältnissen dieses Geschehens sprechen. Der Vater ist der Verlassende und Hingehende. Der Sohn ist der Verlassene, durch den Vater und sich selbst Dahingegebene. Aus dieser Geschichte geht der Geist der Hingabe und Liebe hervor, der verlassene Menschen aufrichtet. Wir interpretieren damit den Tod Christi nicht als Geschehen zwi­schen Gott und Mensch, sondern zuerst als inner­trinitarisches Geschehen zwischen Jesus und sei­nem Vater, aus dem der Geist hervorgeht. Mit diesem Ansatz wird 1. ein nicht-theistisches Ver­ständnis der Geschichte Christi möglich, 2. die alte Dichotomie zwischen allgemeiner Natur Gottes und seiner inneren Dreieinigkeit über­wunden und 3. die Unterscheidung zwischen immanenter und ökonomischer Tri­nität über­flüssig.[8] Er macht die trinitarische Rede um der vollen Wahrnehmung des Kreuzes Christi not­wendig und stellt die herkömmliche Trinitäts- lehre auf die Füße. Dann ist die Tri­nitätslehre keine Spekulation über die Geheimnisse Gottes «über uns», die man besser still verehrt, als lebhaft erforscht, sondern ist im Grunde die kürzeste Fassung der Passionsgeschichte Christi. Diese trinitarische Rede bewahrt den Glauben vor Mono­theismus wie vor Atheismus, weil sie ihn bei dem Gekreuzigten festhält. Sie zeigt das Kreuz im Sein Gottes und das Sein Gottes im Kreuz auf. Das Materialprinzip der Trinitätslehre ist das Kreuz. Das Formalprinzip der Kreuzestheologie ist die Trinitätslehre. Die Einheit der Geschichte des Vaters, des Sohnes und des Geistes läßt sich dann nachträglich als «Gott» bezeichnen. Mit dem Wort «Gott» ist dann dieses Geschehen zwischen Jesus und dem Vater und dem Geist gemeint, also diese bestimmte Geschichte. Sie ist die Gottesgeschichte aus der heraus allererst offenbar wird, wer und was Gott ist. Wer christlich von Gott reden will, der muß die Geschichte Jesu als Gottesgeschichte, «erzählen» und verkünden, d. h. als die Geschichte zwischen dem Vater, dem Sohn und dem Geist, aus der heraus sich konstituiert, wer Gott ist; und zwar nicht nur für den Menschen, sondern auch schon in seiner Existenz selbst. Das heißt auf der anderen Seite, daß Gottes Sein geschichtlich ist und zwar in dieser konkreten Geschichte existiert. «Gottes Geschichte» ist dann die Geschichte der Geschichte des Menschen.

V.

Immer war in der christlichen Geschichte der Gott der Kranken, Armen, Unterdrückten und Sklaven der leidende, verfolgte und unterdrückte Christus gewesen, während der Gott der Reichen und Herr­schenden der Pantokrator war und ist.[9] Was aber bedeutet die Erkenntnis des Gottes in Knechtsgestalt, des leidenden und gekreuzigten Menschen­sohns für die Leidensgeschichte der Welt?

Wer grundlos leidet, meint immer zuerst, er sei von Gott verlassen. Wer in diesem Leiden auf­schreit, stimmt im Grunde in den Todesschrei Jesu ein. Dann aber ist Gott nicht nur das verborgene Gegenüber, nach dem er schreit, sondern im tiefe­ren Sinne der menschliche Gott, der in ihm und mit ihm schreit und mit seinem Kreuz für ihn ein­tritt, wo er in seiner Qual verstummt. Wer leidet, protestiert nicht nur gegen sein Geschick. Er leidet ja, weil er lebt, und er ist lebendig, weil er liebt. Wer nichts mehr liebt, leidet auch nicht mehr. Ihm ist das Leben gleichgültig geworden. Je mehr aber einer liebt, um so verwundbarer wird er. Er wird verwundbar in dem Maße, wie er glücks­fähig wird und umgekehrt. Das kann als die Dia­lektik des menschlichen Lebens bezeichnet werden. Die Liebe macht lebendig und sie macht sterblich. Die Lebendigkeit des Lebens und die Tödlichkeit des Todes werden an dem Lebens­interesse erfah­ren, das wir Liebe nennen.

Der theistische Gott ist arm. Er kann nicht lei­den, weil et nicht lieben kann. Der protestierende Atheist liebt auf verzweifelte Weise. Er kommt ins Leiden weil er liebt, und protestiert gegen das Leiden, und damit gegen die Liebe, die ihn ins Leiden brachte. Wie kann einer trotz Enttäu­schung und Sterben in der Liebe bleiben? Der Glaube, der aus jenem Gottesgeschehen am Kreuz entspringt, beantwortet die Frage des Leidens nicht mit einer theistischen Erklärung, warum es so sein muß, und auch nicht mit bloßer Protest­gebärde, warum es nicht sein darf, sondern führt die verzweifelte Liebe auf ihren Ursprung zurück; «Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.» (1. Joh 4, 17). Wo Menschen leiden, weil sie Heben, leidet Gott in ihnen. Wo Gott den Tod Jesu erlitten hat und darin die Kraft seiner Liebe erweist, finden auch Menschen die Kraft, das Vernichtende auszuhalten und «das Tote fest­zuhalten» (Hegel). Hegel nannte dieses das Leben des Geistes: «Nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein be­wahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes»[10]. Wer in die Liebe kommt und durch die Liebe ins Leiden kommt und die Tödlichkeit des Todes erfährt, der kommt in die «Geschichte Gottes» hinein. Er­kennt er, daß seine Verlassenheit aufgehoben ist in der Verlassenheit Christl, so kann er in der Gemeinschaft der Hingabe Christi in der Liebe bleiben. Für Hegel ermöglichte allein das trinitari­sche Verständnis Gottes die Erkenntnis des Kreu­zes Christi als der «Geschichte Gottes»; «Dies ist für die Gemeinde die Geschichte der Erscheinung Gottes, diese Geschichte ist göttliche Geschichte, wodurch sie zum Bewußtsein der Wahrheit ge­kommen ist. Daraus bildet sich das Bewußtsein, das Wissen, daß Gott der Dreieinige ist. Die Ver­söhnung, an die geglaubt wird in Christo, hat keinen Sinn, wird Gott nicht als der Dreieinige gewußt»[11]. Das Geschehen am Kreuz wird für den befreiten und hebenden Glauben zur zukunfts­eröffnenden Gottesgeschichte, deren Präsens Ver­söhnung mit dem Schmerz der Liebe und deren Zukunft Liebe in ihrer eigenen, von Angst und Herrschaft freien Welt heißt. Die Leidensge­schichte der Welt ist durch die Leidensgeschichte Christi in die «Geschichte Gottes» hineingenom­men. «In this sense, God is the great compagnion – the fellow-sufferer, who understands» (Whitehead). Trinitarisch verstanden ist Gott sowohl ge­schichtsimmanent wie welttranszendent. Er ist, mit einiger unzureichender Bildlichkeit gesagt, als Vater transzendent, als Sohn immanent und als Geist der Geschichte zukunftseröffnend voran. Verstehen wir Gott so, dann verstehen wir unsere eigene Geschichte, die Leidens- und die Hoffnungsgeschichte der Menschheit, als «Geschichte Gottes». Jenseits von theistischer Ergebenheit und atheistischem Protest ist das die Geschichte des Lebens, weil es die Geschichte des Interesses am Leben, der Liebe, ist.

JÜRGEN MOLTMANN, geboren am 8. April 1926 in Hamburg, evangelisch-refor­miert. Er studierte an der Universität Göttingen, promo­vierte und habilitierte sich in Theologie, war 1958-1963 Professor an der kirchlichen Hochschule Wuppertal, 1963- 1967 Professor für systematische Theologie an der Univer­sität Bonn und ist jetzt Professor für systematische Theolo­gie an der Universität Tübingen. Er ist Herausgeber von «Evangelische Theologie» und veröffentlichte u. a.: Prä­destination und Perseveranz (1961), Theologie der Hoff­nung (81968), Perspektiven der Theologie (1968), Der Mensch (1971), Die ersten Freigelassenen der Schöpfung (2i97i).

Quelle: Concilium 8 (1972), S. 407-413.


[1] H. U. von Balthasar, Mysterium Paschale: Mysterium Salutis III, 2, 153 ff; H. Küng, Menschwerdung Gottes. Eine Einführung in Hegels theologisches Denken als Prolegomena zu einer zukünftigen Christologie (1970); H. Mühlen, Die Veränderlichkeit Gottes als Horizont einer zukünftigen Christologie (1969); E. Jüngel, Vom Tod des lebendigen Gottes (ZThK 1968) 93-110; H. G. Geyer, Atheismus und Christentum (EvTh 1970) 255-274; R. Weth, Heil im gekreuzigten Gott (EvTh 1971) 227-244.

[2] W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels (1963) 183.

[3] M. Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Ande­ren. Ein Interview mit Kommentar von H. Gumnior (1970) 56 f.

[4] Vgl. dazu H. Gese, Psalm 22 und das Neue Testament (ZThK 1968) 1-22.

[5] W. Elert, Der Ausgang der altkirchlichen Christologie (1957) 95.

[6] B. Steffen, Das Dogma vom Kreuz. Beitrag zu einer staurozentrischen Theologie (1920) 152.

[7] Kazoh Kitamori, Theology of the Pain of God (1965).

[8] K. Rahner, Bemerkungen zum dogmatischen Traktat «De Trinitate»: Schriften zur Theologie, IV, 103-136.

[9] Vgl. z. B. N. Gorodeckaja, The humiliated Christ in modern Russian Thought (1938); J. Cone, Singend mit dem Schwert in der Hand. Eine theologische Interpretation schwarzer Spirituals (EvKomm 1971) 442-447; H. Lüning, Mit Maschinengewehr und Kreuz – oder wie kann das Christentum überleben? (1971). Sie alle zeigen, wie sehr sich die Frömmigkeit der Ohnmächtigen und Unterdrückten, der Sklaven, Leibeigenen und Indios auf die Passion Christi und den leidenden Gott konzentriert hat. Eine Theologie der Befreiung muß mit dieser Christologie einsetzen.

[10] G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (Glöck­ner, 2) 34.

[11] G. W. F. Hegel, Philosophie der Religion (Werke ed. Glöckner) 16, 2, 308.

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