Protest wider Pathodizee, Theodizee und den Ruf nach Vergebung (Die Brüder Karamasow, 1880)
Von Fjodor M. Dostojewski
In seinem Roman Die Brüder Karamasow (1880) lässt Dostojewski Iwan Karamasow angesichts unvorstellbarer Grausamkeiten gegenüber Kindern leidenschaftlich wider Pathodizee, Theodizee und den Ruf nach Vergebung protestieren:
Iwan schwieg fast eine Minute lang, sein Gesicht wurde plötzlich sehr traurig.
»Hör zu: Ich habe mich nur auf die kleinen Kinder beschränkt, damit es möglichst anschaulich ist. Von den übrigen menschlichen Tränen, mit denen die ganze Erde, von der Rinde bis zum Mittelpunkt, getränkt ist, sage ich kein Wort, ich habe mein Thema absichtlich begrenzt. Ich bin eine Wanze und gebe in aller Bescheidenheit zu, daß ich nicht verstehen kann, warum das alles so eingerichtet ist.
Die Menschen sind demnach selbst schuld: Ihnen ward das Paradies zuteil, aber sie hatten nach der Freiheit getrachtet und das Feuer vom Himmel geraubt, wider besseres Wissen, daß dies ihr Unglück bedeuten würde, und verdienen demnach kein Mitleid. Oh, nach meinem, dem jämmerlichen irdischen euklidischen Verstand weiß ich lediglich, daß es Leiden gibt, daß niemand schuld ist, daß das eine sich schlicht und einfach von einem anderen ableiten läßt, daß alles fließt und sich gegenseitig aufhebt – aber das alles ist ja nur ein euklidisches Abrakadabra, ich weiß es zwar genau, bin aber nicht bereit, danach zu leben!
Was habe ich davon, daß niemand schuld ist und daß ich das weiß, ich brauche Vergeltung, anderenfalls werde ich mich selbst vernichten. Und zwar eine Vergeltung nicht in der Unendlichkeit, irgendwo und irgendwann, sondern hier, schon auf Erden und vor meinen eigenen Augen. Ich habe geglaubt, also will ich es mit eigenen Augen sehen, und wenn ich zu dieser Zeit nicht mehr leben sollte, so soll man mich auferwecken, denn wenn alles ohne mich eintreten würde, wäre es arg kränkend für mich.
Habe ich etwa gelitten, um mit meiner eigenen Person, mit meinen Missetaten und meinen Leiden Dung für die künftige Harmonie von anderen zu sein? Ich will mit eigenen Augen sehen, wie die Hirschkuh neben dem Löwen wohnt und wie der Ermordete aufersteht und seinen Mörder umarmt. Ich will dabeisein, wenn alle plötzlich erkennen, wozu alles gut gewesen ist. Auf diesem Wunsch gründen alle Religionen auf der Erde, und ich glaube.
Aber da sind die Kinderchen, und was mache ich dann mit ihnen? Eine Frage, auf die ich keine Antwort weiß. Ich wiederhole zum hundertsten Mal, es gibt unzählige Fragen, aber ich habe mich nur auf die Kinderchen beschränkt, weil hier unwiderlegbar deutlich wird, was ich sagen will.
Paß auf: Wenn alle leiden sollen, um mit ihrem Leiden die ewige Harmonie zu erkaufen, was haben die Kinder damit zu tun? Bitte, sag es mir! Es ist unbegreiflich, weshalb auch sie leiden und die Harmonie mit ihren Leiden erkaufen sollen. Weshalb sind ausgerechnet sie unter das Material geraten und haben für irgendjemand die künftige Harmonie zu düngen?
Ich sehe ein, daß die Menschen in der Sünde solidarisch sind, ich sehe ein, daß sie auch in der Vergeltung solidarisch bleiben, aber wie sollen die Kinderchen in der Sünde solidarisch sein, und wenn es wirklich wahr sein sollte, daß sie in sämtlichen Missetaten mit ihren Vätern solidarisch wären, so ist diese Wahrheit selbstverständlich nicht von dieser Welt und auch für mich nicht nachvollziehbar.
Manch ein Witzbold könnte einwenden, daß ein Kind in jedem Fall heranwachsen und sündigen würde, aber dieser Junge konnte nicht heranwachsen, er wurde mit acht Jahren von Hunden zu Tode gehetzt. Oh, Aljoscha, das ist keine Gotteslästerung! Ich stelle mir vor, wie gewaltig die Erschütterung des Weltalls sein müßte, wenn alles im Himmel und unter der Erde sich in einem einzigen Lobgesang vereint und alles Lebende und Gelebthabende ausruft: ›Ja, Herr, allmächtiger Gott, Deine Gerichte sind wahrhaftig und gerecht!‹
Wenn die Mutter ihren Peiniger, dessen Hunde ihren Sohn zerrissen haben, umarmt und wenn alle drei unter Tränen verkünden: ›Gerecht sind Deine Gerichte, Herr!‹, dann ist die Krönung der Erkenntnis eingetreten, und alles ist erklärt. Und gerade hier komme ich an den Punkt, den ich nicht hinnehmen kann. Und ich beeile mich, solange ich noch auf Erden bin, meine Maßnahmen zu ergreifen.
Siehst du, Aljoscha, es könnte durchaus sein, daß ich, wenn ich diesen Augenblick erleben oder auferstehen sollte, um dabeizusein, möglicherweise im Chor mit den anderen beim Anblick der Mutter, die den Peiniger ihres Kindes umarmt, ausrufe: ›Ja, Herr, Deine Gerichte sind gerecht!‹, daß ich es aber nicht ausrufen will. Solange es noch Zeit ist, beeile ich mich, dem vorzubeugen, und weise deshalb eine höchste Harmonie entschieden zurück.
Sie ist nicht auch nur ein Tränchen jenes gemarterten Kindes wert, das sich mit den kleinen Fäustchen an die Brust schlug und in dem stinkenden Verschlag unter ungesühnten Tränen nach seinem ›lieben Gott‹ rief! Sie ist es nicht wert, weil seine Tränchen unvergolten bleiben. Sie müssen aber gesühnt werden, sonst ist eine Harmonie undenkbar.
Aber wie, wie kann man sie sühnen? Ist das überhaupt möglich? Doch nicht, indem sie gerächt werden? Wozu brauche ich die Rache, wozu brauche ich die Hölle für die Peiniger, was kann die Hölle wiedergutmachen, wenn sie schon zu Tode gemartert sind? Und was ist das für eine Harmonie, wenn es eine Hölle gibt?
Ich will vergeben, und ich will umarmen, und ich will, daß überhaupt nicht gelitten wird. Und wenn die Leiden der Kinder notwendig sind, um jene Summe von Leiden vollzumachen, die für den Erwerb der absoluten Wahrheit unerläßlich ist, so behaupte ich im voraus, daß die absolute Wahrheit einen solchen Preis nicht wert ist.
Ich will nicht, daß die Mutter den Peiniger umarmt, dessen Hunde ihren Sohn zerfleischt haben! Sie soll ihm nicht vergeben! Wenn sie will, mag sie ihm ihr Leid vergeben, mag sie doch dem Peiniger das eigene unermeßliche Leid einer Mutter vergeben; aber sie hat nicht das Recht, das Leid ihres zerfleischten Knaben zu vergeben, sie soll dem Peiniger nicht vergeben, selbst wenn das Kind ihm vergeben würde!
Und wenn das so ist, wenn sie nicht vergeben sollen, wo bleibt dann die Harmonie? Gibt es auf der ganzen Welt ein Wesen, das vergeben könnte und das Recht dazu hätte? Ich will keine Harmonie, aus Liebe zur Menschheit will ich keine Harmonie.
Lieber bleibe ich bei meinem ungerächten Leid und meinem ungestillten Zorn, mag ich auch im Unrecht sein. Noch dazu ist diese Harmonie viel zu teuer, der Eintrittspreis übersteigt unsere Verhältnisse. Darum beeile ich mich, mein Billett zu retournieren. Und als anständiger Mensch bin ich verpflichtet, dies so früh wie möglich zu tun. Und das tue ich auch.
Nicht, daß ich Gott nicht hinnähme, Aljoscha; ich retourniere nur ehrerbietigst das Billett.«
Aus dem Russischen von Swetlana Geier.
Quelle: Fjodor M. Dostojewskij, Die Brüder Karamasow, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2011.