Paul Tillich, Das Ja zum Kreuze. Radioansprache an die deutschen Freunde von 1949: „Sagt Ja zu Eurem Kreuz, sagt Ja zu dem, daß Ihr ausgestoßen seid, Euch selbst ausgestoßen habt. Es bedarf nur dieses einen Jas und Ihr seid nicht mehr ausgestoßen, Ihr seid Mitträger einer Gemeinschaft, die größer ist, als alles Verstoßen-Sein. Ihr, das deutsche Volk ist auferstanden. Aber es gibt keinen anderen Weg dazu, als ja zu sagen zu seinem Kreuz.“

Das Ja zum Kreuze. Radioansprache über »Die Stimme Amerikas« an die deutschen Freunde im Jahre 1949

Von Paul Tillich

Meine deutschen Freunde!

Vor einem Jahr um diese Zeit rüstete ich mich auf meine Fahrt nach Deutschland und auf das erste Wiedersehen nach 15 Jahren. Ich rüstete mich unter Furcht und Zittern. Was würde ich wiederfinden? war die bange Frage. Dinge waren geschehen, so furchtbar und erschütternd wie das Ereignis des Kreuzes auf Golgatha. Das deutsche Volk hatte durch seine Oberen und durch seine Henkersknechte Völker, insonder­heit ein Volk, ans Kreuz geschlagen. Und während das geschehen war, hatte sich Finsternis gesenkt über die deutsche Erde, die Sonne hatte ihren Schein verloren in rauchenden Städten, die Wälle der Häuser waren gefallen, als die Erde bebte vor dem Donner der Bomben, der Vorhang war zerrissen zwischen dem Alltag und den verborgenen Tiefen des Lebens, die Menschen hatten sich an ihre Brust geschlagen über dem Unfaßbaren, Ungeheuerlichen dieser Jahre. – Wie würde man das Volk wiederfinden, das all dies getan und erfahren hat? Würde man nicht ein ganz Fremder sein und zum zweiten Male ausgestoßen werden? Man kam, und man wurde aufgenommen wie nie zuvor an irgendeinem anderen Ort. Und man fragte sich: Was ist geschehen? Und nun, nachdem man längst nicht mehr dort ist, fragt man sich: Was ge­schieht jetzt? Jeder Brief, jeder Bericht gibt eine andere Antwort! Aber vielleicht gibt es eine Stelle, wo man eine Antwort über den vielen fin­den kann. Und vielleicht ist diese Stelle gerade der Ort, dessen wir heute gedenken, der Ort, wo drei Kreuze aufgerichtet wurden und all das auch geschah, was das deutsche Volk in den letzten Jahren er­lebt hat.

Laßt uns zusehen, ob dort vielleicht eine Antwort zu finden ist auf die Frage: Was geschieht jetzt? Ans Kreuz heften, das heißt ausstoßen, ausstoßen aus der Gemeinschaft des Volkes, der Menschheit, des Leben­digen. Aber wenn immer wir einen Menschen ausstoßen, dann stoßen wir in ihm den Menschen aus, der auch in dem Bösesten und Jämmer­lichsten noch sichtbar ist. Wenn wir aber den Menschen ausstoßen, dann stoßen wir Gott aus, der in Menschengestalt sichtbar geworden ist, und wenn wir Gott ausstoßen, stoßen wir uns selbst aus, geben wir uns selbst der Vernichtung preis. Das ist es, was geschehen ist und noch geschieht, nicht nur in Deutschland, sondern überall in der Welt, auch in dem Lande der Fülle und des Wohlwollens und der Achtung der Menschen­würde – auch in dem Land, aus dem diese Worte zu Euch gesprochen werden. Auch wir, wie alle Völker, schlagen Menschen ans Kreuz, sto­ßen Menschengruppen aus und damit den Menschen, und damit Gott und uns selbst. In allen Völkern gibt es heute solche, die, wenn sie nach Golgatha blicken, wissen, daß auch sie mitgekreuzigt haben und daß auch sie mitgekreuzigt sind. Es ist nicht schwer, Gründe dafür zu finden, daß wir einen Menschen ausstoßen. Verbrecher müssen ja ausgestoßen werden; sonst kann die Gesellschaft nicht leben. Und gegen Angreifer muß man sich verteidigen, vor allem, wenn der Angreifer im Namen eines Glaubens angreift. Und Fremdkörper, Menschen, die sich nicht einfügen können, muß man ausscheiden, damit das Ganze gesund bleibe. Und manche einzelnen muß man von sich stoßen, weil man sonst Schaden leiden würde an seiner Seele. Man muß ausstoßen, man muß kreuzigen. Wie sollte sonst die Gesellschaft, wie sollte man selbst leben? Man muß ausstoßen und kreuzigen, wie Pilatus, der römische Gouverneur, es mußte, und wie die Pharisäer, die demagogi­schen Volksführer, es mußten, und wie die Hohenpriester, die Vertreter der aristokratischen Oberschicht, es mußten, und wie die Volksmassen, unterworfen der Propaganda, und die Soldaten, unterworfen der Diszi­plin, und die Jünger, unterworfen der Furcht und dem Zweifel, und die Zuschauer, unterworfen der Gleichgültigkeit und Trägheit des Her­zens – wie sie alle es mußten. Und mit ihnen das deutsche Volk, dessen Führer und Agitatoren und Feldherren und Beamten auch kreuzigen mußten, dessen Volksmassen und Soldaten, dessen Gleichgültige und Zuschauer auch kreuzigen mußten. Und was für die Juden zur Zeit Jesu und für die Deutschen zu unserer Zeit gilt, das gilt für die Völker zu allen Zeiten. Es gilt für die Amerikaner und für die Deutschen, auch heute. Es gilt für die Russen und die Juden, auch heute. Alle stoßen aus, alle kreuzigen. Und sie müssen es ja. Aber weil sie nicht nur die Men­schen und Menschengruppen, sondern weil sie den Menschen und damit Gott ausstoßen, so stoßen sie sich selbst aus. Das ist das Gericht, das, meistens verborgen, oft, wie jetzt in Deutschland und wie damals in Jerusalem, sichtbar über alle die ergeht, die ausstoßen und kreuzigen. Plötzlich erfahren sie, daß sie selbst ausgestoßen sind, daß sie selbst am Kreuze hängen. Das ist es, was in Deutschland geschehen ist und heute wieder geschieht. Es geschieht auch anderswo. Aber jetzt sprechen wir von dem, was Karfreitag dem deutschen Volk zu sagen hat.

Der Karfreitag hat noch ein zweites zu sagen. Er spricht von dem Wege, auf dem das verhängnisvolle »Muß« des Ausstoßens und Kreuzi­gens durchbrochen ist, ein für alle Mal, für alle, auch für die Juden, auch für die Deutschen. Das Verhängnis ist durchbrochen, wo ein Mensch oder ein Volk ja sagt zu dem, daß es ausgestoßen ist und das Kreuz auf sich nimmt. In einem solchen Ja ist das Kreuz nicht mehr Fluch und das Ausgestoßensein nicht mehr Verlassenheit. Wer ja sagen kann zu seiner Verlassenheit, der kann es nur im Namen einer Gebor­genheit, die ihm nicht genommen werden kann, durch alle, die ihn aus­stoßen. Wer ja sagen kann zu seinem Kreuz, der kann es nur in einer inneren Macht, die ihm nicht genommen werden kann von denen, die ihn kreuzigen. Vielmehr das Umgekehrte geschieht: Der Ausgestoßene schafft eine höhere Gemeinschaft, der Gekreuzigte führt zur Auf­erstehung. Aus dem Fluch, der freiwillig getragen ist, wird eine neue Schöpfung.

Das gilt auch für das deutsche Volk. Es nützt Euch nichts, meine deutschen Freunde, wenn Ihr alle die ausstoßt, die Euch zuwider sind, wenn Ihr die Gemeinschaft mit ihnen abbrecht, seien es Deutsche, seien es Fremde, die Macht über Euch haben. Das bedeutet ja nur, daß Ihr wieder einmal anderen flucht und diesen Fluch unausweichlich auf Euch selbst zieht. Sondern sagt Ja zu Eurem Kreuz, sagt Ja zu dem, daß Ihr ausgestoßen seid, Euch selbst ausgestoßen habt. Es bedarf nur dieses einen Jas und Ihr seid nicht mehr ausgestoßen, Ihr seid Mitträger einer Gemeinschaft, die größer ist, als alles Verstoßen-Sein. Ihr, das deutsche Volk ist auferstanden. Aber es gibt keinen anderen Weg dazu, als ja zu sagen zu seinem Kreuz. Wird das deutsche Volk und mit ihm manches andere Volk die Kraft zu einem solchen Ja aufbringen? Das ist die Frage des Karfreitag, die Frage dessen, der das Kreuz auf sich genom­men hat dazu, daß er ausgestoßen war.

Quelle: Paul Tillich, Impression und Reflexionen. Ein Lebensbild in Aufsätzen, Reden und Stellungnahmen, GW 13, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1972, S. 379-382.

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