Eduard Schweizer über die Versuchung Jesu nach Matthäus 4,1-11: „Ob wir Gott für unsere eigenen durch Taktik und Gewalt zu erreichenden Ziele in Anspruch nehmen oder uns von ihm für jene wahre Menschlichkeit gewinnen lassen, die in Jesu Leben und Sterben Gestalt angenommen hat und sich uns schenken möchte, ist die eigentliche Frage dieser Erzählung.“

Die Versuchung Jesu in Matthäus 4,1-11

Von Eduard Schweizer

Die Erzählung von der Versuchung Jesu, die Lukas in ähnlicher Form darbietet, weicht sehr stark von dem ganz kurzen Markusbericht ab. Übereinstimmend ist nur die Führung durch den Geist, die Versuchung durch Satan, bzw. den Teufel, die Zeitdauer der 40 Tage und der Dienst der Engel. Während aber Jesus nach Markus die ganze Zeit hindurch vom Satan versucht und von Engeln bedient wird, findet beides nach Matthäus und Lukas erst nach einem vierzigtägigen Fasten statt. Diese Version wird also aus Q stammen, wobei freilich kaum mehr als das Zwiegespräch zwischen Teufel und Jesus mit einer knappen Einführung festgehalten war (vgl. Einleitung zu 8,5-13). Vielleicht stammt das bei Matthäus einzigartige Verbum »hinaufgeführt werden« von dort, da auch Lk. 4,1 vom »Geführtwerden« spricht. Die Reihenfolge der zweiten und dritten Versuchung ist bei Matthäus und Lukas verschieden. Die matthäische Ordnung ist gewiß die alte, weil so die beiden |31| ersten Versuchungen nach dem gleichen Schema einsetzen (»Wenn du Gottes Sohn bist…«) und der Satan erst in der dritten seine Maske fallen läßt und Anbetung fordert. Vielleicht hat Lukas den Satz »Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen« von Mt. 4,7 = Lk. 4,12 als Aufforderung an den Satan, Jesus nicht mehr zu versuchen, verstanden und darum damit schließen wollen. Zugleich rückt so Jerusalem an den Schluß: der Satan verläßt Jesus in Jerusalem »bis zu gegebener Zeit« (Lk. 4,13) und wird zur Zeit seiner Passion dort wieder auf ihn warten (Lk. 22,3; allerdings bezieht sich 22,28 schon auf frühere Versuchungen). Der Hinweis auf die Gottessohnschaft scheint die Taufe Jesu mit der Himmelsstimme (V.17) vorauszusetzen. Q hat also, falls diese wirklich auch dort stand, ähnlich wie Markus mit der Ankündigung Jesu durch Johannes, der Taufe und der Versuchung begonnen. Markus sagt, daß in Jesus Adams Ungehorsam geheilt und das Paradies wiedergebracht ist; in Q wird schon vorausgesetzt, daß Jesus Gottes Sohn ist, und nur darüber nachgedacht, in welchem Sinne das zu verstehen sei.

Man kann sich schwer vorstellen, daß Jesus den Jüngern ausführlich von einem Erlebnis berichtet hätte und davon bei Markus nur eine so kurze Notiz erhalten geblieben wäre. Da auch die Frage der Gottessohnschaft in Jesu Worten kaum je eine Rolle spielt (s. Exkurs Gottessohn zu Mk. 15,39) und im ganzen Abschnitt die griechische Übersetzung des Alten Testamentes zitiert wird, wird ursprünglich nur die Tatsache der Versuchung Jesu in der Gemeinde überliefert gewesen sein (vgl. Hebr. 2,18; 4,15; auch 11,17). Sie hat diese im Lichte ihrer Bibel, hier im besonderen des 5. Buches Moses gelesen. Alle Antworten Jesu (6,13.16; 8,3) stammen aus den Kapiteln, in denen das Grundbekenntnis Israels, das jeder fromme Jude täglich rezitiert, steht: »Höre, Israel, der Herr unser Gott ist einziger Herr, und du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften(6,4f.).« Genau darum geht es in allen drei Versuchungsgängen. Nur der erste und zweite ist eingeleitet durch den Satz »Wenn du Gottes Sohn bist…«, nur im zweiten zitiert der Teufel die Schrift.

8-10 Vermutlich wurde die dritte Versuchung zuerst formuliert, weil hier die Auseinandersetzung am offensten dargestellt ist und die Abweisung des Satans direkt auf das zentrale erste Gebot (5.Mose 5,6f.), den Kernsatz alles Gehorsams Israels, hinweist. In der ersten Periode mußte die Gemeinde sich und ihren jüdischen Zeitgenossen bewußt machen, warum Jesus nicht der weithin erwartete nationale Messias wurde, der Israel die Weltherrschaft bringen würde. In dieser Lage mußte auch die Parallele zu Moses Gehorsam gegen Gott auffallen (s.u.).

3.4 Aber auch die Erwartung war lebendig, daß sich in der Heilszeit die Wunder der Wüstenwanderung Israels wiederholen sollten, z.B. das Manna (2.Mose 16,15-36), oder die Teilung der Jordanfluten (Jos. 3; durch Theudas, Apg. 5,36,44 n. Chr. prophezeit und versucht; Josephus, Altertümer 20,97). Hier tritt Jesus stärker in Gegensatz zu Israel selbst; doch wird auch die Ähnlichkeit mit Mose wieder deutlich (s.u.).

5-7 Am stärksten entwickelt erscheint die zweite Versuchung. Hier liegt geradezu ein Streitgespräch vor, wie es unter jüdischen und christlichen Schriftgelehrten gehalten worden sein könnte. Daß der Tempel als Schauplatz erscheint, kann mit damaligen Hoffnungen zusammenhängen (s.u. zu V.5). Denkbar wäre, daß Ps. 91 aufgenommen wurde, weil er in V.11 und 13 vom Dienst der Engel redet und von den wilden Tieren |32| (vgl. auch 5.Mose 8,15), die dem Glaubenden nichts anhaben können, also von dem, was Mk. 1,13 von Jesus berichtet. Die Gemeinde hätte dann festgehalten, daß in Jesus die Erfüllung von Ps. 91,10-13 und die Wiederherstellung des Paradieszustandes geschah, weil er nicht, wie der Satan ihm vorschlug, dies durch ein selbstmächtiges Wunder herbeizwingen wollte, sondern ganz auf Gott traute. Vielleicht haben auch phantastische Behauptungen hellenistischer Wundertäter wie die Simons (Apg. 8,9f.), er könne fliegen (Petrusakten 4) und Steine in Brot verwandeln (Ps. Clem., Rec. 3,47), schon als Gegenbeispiel gewirkt. Ein solcher Wundermann ist Jesus gerade nicht. Auffällig ist, wie ähnlich in der johanneischen Speisungsgeschichte die Versuchung zum Brotwunder (Joh. 6,31), zum allen sichtbaren Wunderzeichen (6,30) und zur irdisch-nationalen Machtausübung (6,15) geschildert wird. Die endgültige Fixierung in schriftlicher Form (durch Q?) ist einheitlich. Sie geht auf eine Gemeinde zurück, die die LXX benützte, den Gottessohntitel auf den irdischen Jesus bezog und seinen Gehorsam einer Auffassung Jesu als Wundertäter entgegensetzte.

   1-11 All dies wurde erneut aktuell, als in den Sechzigerjahren die Zeloten Israel zum Kampf gegen Rom aufriefen. Mit Waffengewalt sollte Israel wie in den Makkabäerkämpfen den römischen Kaiser besiegen und auf Gottes Wunder trauen, die den Tempel in Jerusalem zum Mittelpunkt der ganzen Welt machen und Israel die Weltherrschaft geben würden. Dann würden sich die Wunder der Moseszeit erneuen und Manna vom Himmel fallen. Solchen Programmen entgegen hat die Gemeinde wahrscheinlich die Sammlung der Jesusworte, die wir Q nennen, gestellt und den Bußruf des Täufers wie die Versuchungsgeschichte an ihren Anfang gesetzt. Wenn das stimmt, dann hat sie deutlich und präzis auch ihr Wort zur Tagespolitik gesagt. Mit Jesus hat sie aus dem Bekenntnis zu dem einen Gott (5.Mose 6,4f.) gerade das Gegenteil dessen gefolgert, was ihre revolutionären Zeitgenossen darin lasen. Sie hat damit gezeigt, daß sie die Bedeutung des Kreuzes als des Ziels des Weges Jesu verstanden hat.

1 Die Einleitung ist von Matthäus im Anschluß an Mk. 1,12 (s.d.) gestaltet. Der Satzbau ähnelt dem in 3,13. Noch deutlicher wird die Führung durch den Geist Gottes gerade zur Versuchung durch den Teufel hervorgehoben.

2-4 Neu ist das vierzigtägige Fasten, die Versuchung, Steine in Brot zu verwandeln, und die Antwort Jesu mit 5.Mose 8,3. Sein Weg wird hier weitgehend parallel dem Weg Israels gesehen: »Der Herr, dein Gott, führte dich in der Wüste, daß er… dich versuche…, ließ dich Hunger leiden und speiste dich mit dem Manna…, um dir kundzutun, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern… von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes hervorgeht« (5.Mose 8,2f. LXX). In V.5 wird auch erzählt, daß Gott Israel dadurch »wie einen Sohn« erziehen wolle. Schon im Alten Testament, vor allem aber im Judentum tritt der Satan an die Stelle Gottes als Urheber der Versuchung (vgl. 2.Sam. 24,1 mit 1.Chr. 21,1). Nach Jub. 17,16 stiftete der Teufel Gott an, Abraham zu versuchen (1.Mose 22,1), und nach Jub. 48,2 wendet sich nicht Gott (2.Mose 4,24), sondern der Teufel gegen Mose. So tritt auch in der christlichen Erzählung der Satan an die Stelle Gottes im alttestamentlichen Bericht. Die Gemeinde weiß, daß das hungernde Israel gegen Gott |33| gemurrt und ihm den Gehorsam aufgesagt hat (2.Mose 16,2-4; Ps. 78,18-32); Jesus hätte als Sohn Gottes, anders als Israel, sogar die Macht gehabt, sich Brot zu schaffen, wie der Satan ihm zuflüsterte; er ist aber gehorsam geblieben und hat genau das, was Israel nach 5.Mose 8,3 hätte lernen sollen, dem Satan entgegengehalten. Darin hat er sich nicht nur »wie ein Sohn von Gott erziehen« lassen, sondern sich als der Sohn Gottes erwiesen und zugleich das Vorbild Moses, der in der Wüstenzeit Israels gegen das Murren des Volkes für Gott eingetreten ist, erfüllt. Schon Mose blieb nach 2.Mose 34,28 bei dem Herrn »vierzig Tage und vierzig Nächte (Mt. 4,2; nicht Lk. 4,2), aß kein Brot (Lk. 4,2 sehr ähnlich; weniger deutlich bei Matthäus) und trank kein Wasser und schrieb die Worte« Gottes nieder. Dies, nicht etwa ein vierzigtägiges Bußfasten Adams (Leben Adams 6) bildet die nächste Parallele.

Zum Problem des Bösen

Schwierigkeiten bildet die Vorstellung vom Teufel. Matthäus denkt ihn sich als sichtbare Person; denn er fügt wie 28,18 beim Auferstandenen eine nur bei ihm vorkommende Wendung ein: »Er trat hinzu und sprach«. Freilich wird er wie im ganzen Neuen Testament weder näher geschildert noch als Herr der Hölle vorgestellt. Auch bei Matthäus hört man den Teufel; das Sehen wird nicht betont. Wir können ihn uns nicht mehr sichtbar vorstellen, wie das bei Matthäus noch naiv vorausgesetzt wird. Im Zusammenhang mit Hexenverbrennungen, Judenverfolgungen oder Rassenwahn sprechen wir freilich auch von »Mächten«, die ein ganzes Volk beherrschen können. Daß das moderne Reden von der Macht des individuellen oder kollektiven Unbewußten eine genaue Analyse der Ursachen nicht ausschließt, sondern fordert, ist wichtig; aber ebenso die biblische, im mythologischen Bild vom Teufel ausgedrückte Erfahrung, daß Böses über Einzelne oder ganze Gruppen kommen, sie überwältigen und stärker werden kann als all ihre rationalen Überlegungen. Jak. 1,13 erklärt recht modern, es gebe keine Versuchung, die nicht dem in mir steckenden Begehren entspringe. Daß dieses aber zur überpersönlichen, vom Einzelnen, ja von ganzen Gruppen nicht mehr kontrollierbaren Macht werden kann, wird in sozusagen allen Schriften des Neuen Testamentes durch die Vorstellung vom Teufel umschrieben. Schon der Aufruf zum Widerstand gegen ihn, erst recht Jak. 1,13 zeigen, daß damit nicht einfach das Böse »erklärt« und damit dem Menschen alle Verantwortung abgenommen wird. Noch tiefer wird das Problem gesehen, wo wie in 1.Kor. 10,13 und wohl auch Mt. 6,13 Gott selbst als der Urheber der Versuchung gesehen wird (vgl. 1.Mose 22,1; 2.Mose 16,4 usw.), ja, wo genau derselbe Akt das eine Mal auf Gott, das andere Mal auf den Satan zurückgeführt wird (s. zu V.2-4). In ähnlicher Weise sagt Mt. 4,1, daß Gott selbst Jesus dem Teufel zuführe (vgl. die mythologische Vorstellung vom Satan als dem Diener Gottes Hi. 1,6-12; 2,1-6). Damit ist einer falschen Verteufelung gewehrt, als wäre alle Versuchung an sich schon böse. Ja, es ist gesagt, daß selbst das Böse noch in Gottes Hand bleibt (vgl. Am. 3,5f.). Es kann Gottes Wille sein, uns in die Auseinandersetzung mit dem Bösen zu führen. Das hängt damit zusammen, daß Gott den Menschen als vollwertigen Partner geschaffen hat, ihm also die Freiheit zum Guten wie zum Bösen gibt. Anders könnte es nie zum Lieben und Loben Gottes kommen; nur ein freies Geschöpf kann |34| dies, niemals ein vergewaltigtes. Man kann z.B. ein Kind zu einem Kuß zwingen; aber Liebe ist nur in dem Kuß, wenn es völlig frei ist, ihn auch zu verweigern. Daher ruft der Vater im Gleichnis Lk. 15,11-32 nicht die Polizei, um den jüngeren, oder die Knechte, um den älteren Sohn in den Festsaal heimzuschaffen, sondern steht am Ende der Erzählung Jesu ohnmächtig draußen, nur mit dem Wort seiner Liebe werbend. Gerade Liebe kann nie nur bestätigen; sie muß auch in Frage stellen, zu Entscheidungen drängen, ja zum Kampf nötigen, wenn sie dem andern helfen will. Ein Gott, der den Menschen nur bestätigte und ihm alle Wünsche erfüllte, wäre nicht mehr vom Menschen zu unterscheiden. In diesem Sinne gehört nicht nur das Gute, sondern auch das Böse, auch der Satan zu Gott; so freilich, daß er dem unterworfen bleibt, der dem Menschen im tiefsten Sinne des Wortes gut ist. Vielleicht läßt sich von hier aus auch das Ja zu den eigenen Schattenseiten finden. Vgl. 26,47-56, Schlußbemerkungen.

Die Versuchung besteht darin, Gottessohnschaft als Fähigkeit, Wunder zu tun, mißzuverstehen.

4 Jesu Antwort begreift Gottessohnschaft als Bereitschaft, besser als alle anderen Menschen auf Gott zu hören und alles nur von ihm zu erwarten. Daß Jesus nach altkirchlichem Bekenntnis »wahrer Gott« ist, heißt also gerade nicht, daß er Wunder tun und Gott gewissermaßen zwingen kann; sondern umgekehrt, daß er völlig auf Gott hören, alles ihm überlassen kann, daß er also zugleich der »wahre Mensch« ist. Er identifiziert sich ja auch mit dem »Menschen«, von dem das Zitat redet.

5 Auch bei der zweiten Versuchung denkt Matthäus wohl an eine wirkliche Versetzung auf die »Zinne« des Tempels. Das griechische Wort kann »Türmchen« oder »Brustwehr« bedeuten und lautet fast gleich wie dasjenige für »Flügel« in Ps. 91,4. Freilich gibt es keinen irdischen Berg, wie ihn V.8 beschreibt, und für Offb. 21,10 gilt dasselbe. So ist die Grenze zwischen physisch realen und geistig erlebten Vorgängen nicht so empfunden wie von uns (vgl. auch zu 2.Kor. 12,2; Offb. 21,10 und 1,10). Seit Ez. 47,1ff. und ähnlichen Weissagungen erwartet man im Tempel der Endzeit Gottes Wunder. Rabbinische Quellen, deren Alter freilich unsicher ist, sagen: »Unsere Lehrer haben gelehrt: wenn sich der König, der Messias offenbart, dann kommt er und steht auf dem Dach des Heiligtums« (Billerbeck). Ps. 91, den der Satan zitiert, wird als Tempelpsalm benutzt und gelegentlich mit dem Wüstenzug Israels verbunden. Wieder wird vom Satan Jesu Gottessohnschaft vorausgesetzt und im Sinne dieser Erwartungen als Macht zum Wunder interpretiert. Nur ist die Versuchung noch dadurch gesteigert, daß jetzt der Teufel die Schrift zitiert und scheinbar zum Vertrauen auf Gott auffordert. Schriftbelege kann auch der Teufel immer finden. Hier wird er geradezu religiös. Fordert er denn anderes, als daß Jesus die Bibel ernst nehme und direkt auf seine Lage jetzt und hier beziehe? Aber es soll nicht zur Ehre Gottes geschehen, sondern zur größeren Ehre Jesu, also des religiösen Menschen, der seinen starken Glauben demonstriert. Was wirklich »Wagnis des Glaubens« ist und was nicht, das ist jeweils zu untersuchen. Gottes Nein zu einem Gebet kann ebenso zu einer Gotteserfahrung werden wie eine wunderbare Erhörung des Gebetes. Der Teufel aber will das Wunder als Beweis, so daß der Mensch über Gott Herr werden und ihn mit der Macht seines Glaubens zum Handeln zwingen könnte.

6 Das wäre jedoch |35| gerade der Unglaube. Jesus greift wieder auf eine Stelle aus 5.Mose (6,16) zurück, die an das Murren der vom Durst gequälten Israeliten in Massa erinnert. Während Israel an Gott verzweifelt, weil es das Wunder nicht sofort erfährt, weiß Jesus, daß der Glaube Gott auch dort festhält, wo das Wunder nicht geschieht. Auch in Q ist also etwas von dem enthalten, was die Passionsgeschichte erzählt. 27,40 lesen wir noch einmal: »Wenn du Gottes Sohn bist,…« Am Kreuz ist Jesus noch einmal »oben«, aber in sehr realem Sinn, und wieder verzichtet er darauf, »sich hinabzuwerfen«. Gerade dort läßt er noch einmal Gott völlig Gott sein, obwohl er nur Gottverlassenheit erfahren kann, und stirbt, ohne sichtbares Wunder, in letzter Einheit mit Gottes Willen als »Gottessohn« (s. zu Mk. 15,34.39). So wird das Kreuz die wirkliche, endgültige Antwort an den Satan sein.

8 Auch bei der dritten Versuchung wird so etwas wie ein Ortswechsel erzählt (s. zu V.5). Ähnlich wurde Mose auf einen hohen Berg geführt, um »das ganze Land«, ja, nach rabbinischer Deutung sogar die ganze Welt zu schauen (5.Mose 34,1-4). Der Ausdruck »alle Königreiche der Welt« findet sich bei einer ähnlichen Vision des Baruch (syr. Bar. 76,3). Aber bei Mose ist es Gott, der ihn dies schauen läßt, und er stirbt, ohne seine Hand darauf legen zu können.

9 Jesus hingegen wird die Weltherrschaft angeboten; er könnte alles Geschaute in Besitz nehmen, wenn er wollte. Damit ist der Gipfel der Versuchung erreicht. Der praktisch die Macht Ausübende und der von Gott bestimmte wirkliche Weltenherr stehen sich gegenüber. Das Thema von Kap. 2 ist wieder aufgenommen. Regiert nicht der Teufel die Welt? Ist nicht alles andere bloße Illusion? Muß man also nicht die Mittel des Teufels verwenden, wenn man in dieser Welt wenigstens einigermaßen Ordnung schaffen will? Damit fällt freilich auch die Maske; jetzt wird eindeutig zum Abfall von Gott aufgerufen und Jesus kann nur den Satan endgültig wegweisen (vgl. 16,23).

10 17,1 und 28,16 wird Jesus wieder auf einem Berg stehen, dann aber als der wirkliche Weltenherr, der sich seine Herrschaft nicht vom Teufel schenken läßt und sie nicht durch ein Gleichgewicht des Schreckens und der Gewaltanwendung verwirklicht. Auch Jesus denkt realistisch-nüchtern, aber nicht im Sinne des Teufels, sondern Gottes. Im Königspsalm 2 spricht Gott: »Frage mich, und ich will Völker zu deinem Besitz und die Enden der Erde zu deinem Eigentum geben« (V.8). Danach hat Jesus gehandelt.

11 Damit ist der Satan besiegt und, wie es Matthäus wohl von Mk. 1,13 her übernimmt, Gottes Engel dienen Jesus. Doch ist dieser Sieg sehr verhalten, ohne jede Andeutung eines sichtbaren göttlichen Triumphes geschildert.

Die Frage, ob sich die drei Versuchungsgänge geschichtlich genauso abgespielt haben und ob Jesus das seinen Jüngern erzählt hat oder nicht, ist unwesentlich (s. Einl.). Entscheidend ist die Einzigartigkeit, in der hier die Gottesfrage gestellt wird. Gott, will die Gemeinde sagen, begegnet uns in Jesus, d.h. in dem, der der Versuchung, Gott für sich selbst zu benützen, völlig entsagte und sein ganzes Leben und Sterben Gott überließ. Der »wahre Gott« begegnet uns also in dem, der die Menschenmaß übersteigende Versuchung, »wie Gott zu werden« (1.Mose 3,5), Macht zu besitzen und Erfolge zu buchen, abgewiesen und sich damit als »wahrer Mensch« erwiesen hat. Das hat sich tatsächlich im Leben und Sterben Jesu abgespielt, und unser Abschnitt konzentriert dies nur auf einige Stunden. Falls |36| es stimmt, daß Q in den Wirren der jüdischen Revolution gegen Rom diese Geschichte bewußt an den Anfang gestellt hat, dann wird deutlich, daß sich das Ja oder Nein zu dieser Geschichte erst in der konkreten Situation entscheidet. Ob wir Gott für unsere eigenen durch Taktik und Gewalt zu erreichenden Ziele in Anspruch nehmen oder uns von ihm für jene wahre Menschlichkeit gewinnen lassen, die in Jesu Leben und Sterben Gestalt angenommen hat und sich uns schenken möchte, ist die eigentliche Frage dieser Erzählung.

Die großartigste Zusammenfassung dieses Abschnittes findet sich in Dostojewskis Kapitel vom Großinquisitor in den Brüdern Karamasow. Die Versuchung der Kirche ist danach der Erfolg; dadurch zu erreichen, daß die Kirche über den Menschen herrscht, ihm Entscheidungen, denen er doch nicht gewachsen sei, abnimmt. Vielleicht wird der Ton dadurch etwas verschoben, weil Mt. 4 weniger die Frage betont, wie der Messias – oder die Kirche in seinem Namen – Macht über andere bekommt, sondern die schlichtere, für jeden Menschen gültige Frage, wie der Mensch Gottes gewiß und ihm gehorsam wird. Jesus beweist weniger seine Messianität als seine »Frömmigkeit«; genauer gesagt: gerade indem er sich als der wahre, Gott vollkommen trauende Mensch erweist, ist er Messias und Gottes Sohn. Daraus folgt dann allerdings mit Notwendigkeit die Dostojewskische Kritik an einer vom Erfolgsdenken beherrschten Kirche.

Im Lauf der Geschichte ist dies verschieden akzentuiert worden. Zunächst wurde in Auseinandersetzungen mit jüdischen Erwartungen festgehalten, daß Jesus bewußt alle politische Macht abgelehnt hatte (dritte Versuchung). Dann sah man Jesus noch stärker im Gegensatz zum Gottesvolk der Wüstenwanderung als den wahrhaft Gehorsamen und zugleich als den, der Mose mit seinem vierzigtägigen Fasten noch überbot (erste Versuchung). Endlich spiegelten sich die tatsächlichen Diskussionen mit jüdischen Schriftgelehrten in den Einzelformulierungen des zweiten Versuchungsganges. Auch in 4,1-11 erscheint wie in Kap. 2 die Mose und das Volk des Auszugs überbietende Parallele in der Gestalt Jesu schon in der Tradition, ohne daß Matthäus selbst sie besonders hervorhebt. Was auf dieser Stufe noch rein theologische Entscheidung war, bekam politische Bedeutung, als die Zeloten zum Kampf gegen die römische Staatsgewalt aufriefen. Durch Voranstellung der Täuferrede und der Versuchungsgeschichte in Q distanzierte sich die Gemeinde eindeutig von dieser Bewegung. Zur Zeit des Evangelisten war das nicht mehr aktuell. Die Katastrophe des Jahres 70 mit dem Fall Jerusalems hatte mit diesen Unternehmungen gründlich aufgeräumt. Entscheidend für ihn ist die zur Nachfolge rufende Gerechtigkeit Jesu, die gerade darin besteht, daß er auf alle Garantien verzichtet und völlig Gott traut. Alle Wunder und Machterweise, von denen noch zu berichten sein wird, sind daher nur dem verheißen, der bereit ist, in demütigem Gehorsam in die Niedrigkeit zu gehen. In diesem Sinne ist Mt. 27,40 das Ziel, das hier schon sichtbar wird.

Quelle: Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 2, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 41986, S. 30-36.

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