Paul Schempps Beileidsbrief zum Tode eines Soldaten, den dieser in Iptingen konfirmiert hatte (1946): „Sie könnten uns anklagen: »Warum habt ihr uns in diesen Wahnsinn rennen lassen? Was habt ihr getan, um es zu verhindern, dass wir in den Tod marschieren mußten?« Und ich kann mich nicht entschuldigen. In der Kirche hab’ ich wohl ein wenig für Freiheit gekämpft gegen die Vergewaltigung der Gewissen, aber was hat uns nun dieses sture Sichbefehlenlassen gekostet bis zur Zerstörung der eigenen Heimat! Angst hat man uns gemacht, und wir haben uns einschüchtern lassen und woll­ten doch freie Christenmenschen sein!“

Beileidsbrief zum Tode eines Soldaten, den Schempp einst in Iptingen konfirmiert hatte.

Kirchheim, den 30. Januar 1946

Liebe Familie G.!

Auch Ihr lieber E. wird also nicht wieder nach Hause kommen… Ich kann es nicht zählen, wieviele solcher Nachrichten, die mich tief schmerz­ten, in diesem Jahr zu mir gelangt sind. Ich will es gern gestehen, daß sich zum ersten Schmerz immer ein innerer Aufruhr der Empörung gesellte gegen den ganzen wahnsinnigen Machtrausch, dem unser Volk verfallen war. Es erfaßt mich eine tiefe Niedergeschlagenheit und Be­schämung darüber, daß das alles möglich war und so wenige bis aufs Blut Widerstand geleistet haben. Nun sind Tränen und Trümmer das Los der halben Welt, und das dreißig Jahre nach dem ersten Weltkrieg! Jetzt hackt natürlich jeder auf den bösen Nazis herum, vor denen man vorher gezittert hat. Niemand will Schuld haben. Alles soll nur ein böses Verhängnis, ein unvermeidlicher Hereinfall gewesen sein, und jeder soll sich eben abfinden mit seinem eigenen Verlust und seinem Beitrag zu dem großen Sterben. Ach, wenn uns doch wenigstens das Leiden alle zusammengeführt hätte, daß jeder im andern bloß den Leidensgenossen sehen würde und das Sprüchemachen und Geltenwollen ein Ende hätte und wir die ganze jämmerliche Einrichtung der Welt so gründlich ein­sehen würden, daß wir Überlebenden alle ganz ehrlich nur einander schützen und helfen wollten, das bißchen Leben, das wir haben, durch­zuhalten, solange Gott einem jeden Frist gibt! Diesmal ist’s ja doch kaum zu leugnen, daß die Toten nicht für unsere Macht und Größe gefallen sind, sondern um uns an unsere Ohnmacht und Kleinheit zu erinnern und uns zu bitten, doch endlich, endlich Gott über uns regieren zu lassen.

Wenn ich an E. zurückdenke, fühle ich mich auch der Jugend gegen­über schuldig, daß ich ihr zuwenig gegeben habe. Ich wußte, daß uns der Krieg und entsetzliches Leid bevorstehe, und diese Jungen mußten doch alles als unverständliches Grauen und Entsetzen erleben und durch­machen, und wer hat sie recht getröstet und gestärkt? Konfirmiert habe ich beide, Ihren A. und Ihren E., und beide sind ernste und liebe Men­schen geworden, aber wie einsam sind doch gerade die besten gewesen! Sie könnten uns anklagen: »Warum habt ihr uns in diesen Wahnsinn rennen lassen? Was habt ihr getan, um es zu verhindern, daß wir in den Tod marschieren mußten?« Und ich kann mich nicht entschuldigen. In der Kirche hab’ ich wohl ein wenig für Freiheit gekämpft gegen die Vergewaltigung der Gewissen, aber was hat uns nun dieses sture Sichbefehlenlassen gekostet bis zur Zerstörung der eigenen Heimat! Angst hat man uns gemacht, und wir haben uns einschüchtern lassen und woll­ten doch freie Christenmenschen sein!

Verzeihen Sie, daß ich mir das alles so von der Seele schreibe Ihnen gegenüber, aber ich frag’ mich eben, ob ich denn ein Recht habe, Sie noch trösten zu wollen in Ihrem Leid. Daß wir uns beugen müssen, wissen Sie selber. Daß wir nicht in Bitterkeit und Menschenhaß fallen dürfen, wissen Sie auch. Daß den Toten viel Mühsal und Elend erspart ist, kann man wohl einsehen. Aber wie sollen wir jetzt Ja sagen zu Gottes Willen, wenn wir früher zu wenig Nein gesagt haben zu dem Mutwillen der Menschen, der Verführer und Machthaber? Nein, ich könnte Sie nicht mit gutem Gewissen trösten, wenn ich nicht glauben dürfte, daß Gott sich durch Christus als unser guter und rechter Vater erwiesen hat, der unser Versagen und unser Elend kennt und schon eine andere Welt für uns bereit hat, wo kein Leid und kein Geschrei und kein Abschied und Tod mehr ist.

Wieder mußten zahllose Kinder vor den Eltern sterben, aber über Kinder und Eltern, über Tote und Lebendige ist der eine Herr, der lebt und regiert und von dessen Liebe uns nichts scheiden kann. Da muß man freilich entschlossen wegsehen vom Sichtbaren und Zeitlichen und hin­sehen auf das unerhörte Geschehen von Golgatha, wo mitten in den Sieg der Bosheit der Menschen hinein die Liebe sich geopfert hat, um zu herrschen mitten unter den Feinden. Das ist unsere Hoffnung in unserm Leid, daß wir nicht vergessen sind von Gott. Wir können nur weinen über unsere Toten, aber wir können auch dabei froh sein, daß nicht die Menschen das letzte Wort haben, sondern der Heiland der Menschen. Auch jetzt noch ist genug Grund, wieder schwarz zu sehen für die Zu­kunft, weil sich wieder der Eigennutz rührt und Macht vor Recht gehen will und auch der gute Wille so wenig ausrichtet, aber das soll uns nicht hindern, tapfer das Unsrige zu tun, daß wir nicht über das Elend hin­wegspringen, sondern mit allen Zusammenhalten, die viel zu tragen haben.

Ich bin so froh, daß es Iptingen besser gegangen ist als Nußdorf oder Heimsheim, und daß doch wieder Friede da ist, in dem unsere Kinder ohne Todesangst leben dürfen, so schwer auch ihr Leben werden mag. Ob Ihr Ältester wohl sein hartes Amt als Bürgermeister behalten muß ? Ich selber bin noch ohne Beruf und Amt und suche eben zu überwintern und bin recht froh, daß ich mit den Meinigen zusammen sein darf. Die Kinder reden immer noch gern und oft von Iptingen, das sie so wenig vergessen wie ihre Eltern.

Seien Sie von Herzen Gott befohlen in Ihrem großen Leid und in treuer Verbundenheit gegrüßt von Ihrem einstigen Pfarrer

Paul Schempp

Quelle: Paul Schempp, Briefe, ausgewählt und herausgegeben von Ernst Bizer, Tübingen: J.C.B Mohr, 1966, S. 86-88.

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