Von Martin Buber
1. Der Weg des Glaubens
Es ist nicht die Religion, sondern nur der Glaube des Judentums, über den ich zu Ihnen sprechen will; nicht Kult, Ritual, sittlich-religiöse Norm, sondern Glaube; aber Glaube im ernsten und strengen Sinn. Nicht der „Glaube“, an den sich das Wort „daß“ knüpft, nicht jene wunderliche Mischform von Wähnen und Erkennen, sondern der Glaube, der mit dem Dativ konstruiert wird, der also, der Vertrauen und Treue bedeutet. Damit hängt es zusammen, daß ich nicht von einer jüdischen Theologie ausgehe, sondern von der tatsächlichen Wesenshaltung des gläubigen Juden bis auf unsere Zeit. Wenn ich auch notwendigerweise in theologischen Begriffen von dieser Glaubenswelt spreche, darf ich doch in keinem Augenblick das volkstümliche Material, aus dem ich sie schöpfe, die Volksliteratur und meine eigenen Eindrücke aus dem jüdischen Volksleben, namentlich dem Osteuropas – aber nichts ist im Osten, wovon nicht etwas auch im Westen wäre –, aus den Augen verlieren. Wenn ich auf das volkstümliche Material hinweise, begegnet es mir oft, daß ich gefragt werde: Sie meinen wohl den Chassidismus? Eine gewiß naheliegende Frage. Aber so ist es nicht. Ich sehe im Chassidismus nur eine konzentrative Bewegung; die stärkste Konzentration der Elemente, die in unverdichteter Gestalt überall im Judentum zu finden sind, auch im Bereich des „Rabbinismus“, nur eben hier nicht in der sichtbaren Gemeinschaftsstruktur, sondern in dem unzugänglichen Bau des persönlichen Lebens waltend. Was ich also zu formulieren suche, sind Theologumena einer Volksreligion.
Keines von ihnen werde ich aus einer einzigen Epoche ableiten dürfen; es ist mir um die Darstellung der Einheit in den Wandlungen zu tun. Aber die religiösen Wahrheiten sind ja überhaupt dynamischer Art: Wahrheiten, die nicht von einem Querschnitt der Geschichte aus, sondern gerade nur in der geschichtlichen Gesamtlinie, in ihrer Entwicklung, in der Dynamik ihrer Wandlungen als solche erfaßbar sind. Ihre Selbstläuterung und Selbst-[400]vollendung, das Ringen um die Reinheit einer religiösen Konzeption, ist das wichtigste Wahrheitszeugnis dieser Konzeption. Die Wahrheit der Religionsgeschichte ist das Wachsen des Gottesbildes, der Weg des Glaubens. Vom Weg des jüdischen Glaubens habe ich also, wenn auch nicht in geschichtlicher Form, zu reden.
2. Die dialogische Situation
Man hat oft die Frage aufgeworfen, ob es eine jüdische Dogmatik gibt. Man sollte eher nach der relativen Mächtigkeit des Dogmas im Judentum fragen. Daß es in ihm Dogmen gibt, bedarf keiner Erörterung, da die dreizehn maimonideischen Glaubensartikel in die Gebetsordnung aufgenommen worden sind. Aber das Dogma bleibt sekundär. Primär im religiösen Leben des Judentums ist nicht das Dogma, das ja erst in der Abhebung vom konkreten, gelebten Augenblick – die in der Dogmatik leicht als Erhebung über ihn mißverstanden wird – erstehen kann, sondern Erinnerung und Erwartung einer konkreten Situation: der Begegnung Gottes mit dem Menschenvolk. Alles, was in abstracto, was in der dritten Person vom Göttlichen ausgesagt wird, jenseits des Gegenüber von Ich und Du, ist nur Projektion auf die begriffliche, konstruierte Ebene, eine Projektion, die immer wieder als uneigentlich, wenn auch unentbehrlich, empfunden wird.
Von hier aus ist das Problem des sogenannten Monotheismus zu betrachten. Israels Du-Erfahrung der direkten Beziehung, die schlechthin singularische Erfahrung, ist so gewaltig, daß die Vorstellung einer Mehrheit von Prinzipien nicht aufkommen kann. Demgegenüber ist der „Heide“ der Mensch, der Gott in seinen Erscheinungsformen nicht wiedererkennt; vielmehr: der Mensch ist in dem Maße Heide, als er Gott in seinen Erscheinungsformen nicht wiedererkennt.
Die Grundhaltung des Juden ist durch den Begriff des Jichud, der „Einung“, bezeichnet, der vielfach mißverstanden wird. Es geht um die unablässig erneute Bestätigung der göttlichen Einheit in der Vielfältigkeit der Erscheinungen, und zwar ganz praktisch gefaßt: immer wieder geschieht durch menschliche Wahrnehmung und Bewährung, angesichts der ungeheuren Gegensätzlichkeit des Lebens, und insbesondre angesichts jenes sich mannigfaltig kundgebenden Urwiderspruchs, den wir die Zweiheit von Gut und Böse nennen, dieser Gegensätzlichkeit nicht zum Trotz, sondern zu Liebe und Versöhnung, die Einung, das heißt: die Erkennung, Anerkennung, [401] Wiedererkennung der göttlichen Einheit. Nicht im Bekenntnis allein, sondern in der Erfüllung des Bekenntnisses. Also keineswegs in pantheistischem Theorem, sondern in der Realität des Unmöglichen, in der Verwirklichung des Ebenbildes, in der imitatio Dei. Das Geheimnis dieser Wirklichkeit vollendet sich im Martyrium, im Sterben mit dem Einheitsruf des „Höre Israel“ auf den Lippen, der hier zur Bezeugung im lebendigsten Sinn wird.
Ob der Weise des Mittelalters redet: „Mein Gott, wo finde ich dich, aber wo finde ich dich nicht?“, ob der heutige ostjüdische Bettler in das Grauen der härtesten Stunde zärtlich und unbeirrbar seinen nicht zu übersetzenden, einfältigen, aber in der Aussprache so abwandlungsreichen Kosenamen „Gottenju“ hineinflüstert: es ist das gleiche Wiedererkennen, das gleiche Immer-wieder-Anerkennen des Einen.
Was so zu erhabenem oder kindhaftem Ausdruck kommt, ist die dialogische Situation, in der der Mensch steht.
Die Sprache wird vom Judentum als ein über das Dasein des Menschen und der Welt hinausgreifendes Geschehen erkannt. Gegenüber der Statik der Logosidee erscheint hier das Wort in seiner vollen Dynamik, als das, was sich begibt. Der Schöpfungsakt Gottes ist Sprache; aber auch jeder gelebte Augenblick ist es. Die Welt wird dem sie wahrnehmenden Menschen zugesprochen, und das Leben des Menschen selbst ist ein Zwiegespräch. Was ihm widerfährt, sind die großen und kleinen, unübertragbaren, aber unverkennbaren Zeichen einer Anrede; was er tut und läßt, kann Antwort oder Versagen der Antwort sein. Und so ist die ganze Geschichte der Welt, die heimliche, wirkliche Weltgeschichte, ein Dialog zwischen Gott und seiner Kreatur; ein Dialog, in dem der Mensch echter, rechtmäßiger Partner ist, der sein eigenes selbständiges Wort von sich aus zu sprechen befugt und ermächtigt ist.
Ich bin weit entfernt davon zu behaupten, daß die Erfahrung und Erfassung der dialogischen Situation eine Besonderheit des Judentums sei. Aber es ist mir gewiß, daß keine andere Menschenschar an diese Erfahrung solche Kraft und Innigkeit hingegeben hat wie die Juden. [402]
3. Das menschliche Handeln
Die Voraussetzung eines solchen Ernstnehmens der gelebten Dialogik, des Augenblicks als Wort und Antwort, ist freilich, das Eingesetztsein des Menschen auf Erden ernst zu nehmen.
Das Weltgeschehen vollzieht sich der jüdischen Konzeption nach, im stärksten Gegensatz etwa zur iranischen mit ihren vielfachen Ausläufern, nicht zwischen zwei Prinzipien, Licht und Finsternis, Gut und Böse, sondern zwischen Gott und dem Menschen, diesem sterblichen, brüchigen Menschen, der dennoch Gott gegenübersteht und seinem Wort standzuhalten vermag.
Das sogenannte Böse ist also elementhaft völlig in die Gewalt Gottes eingefugt, der „Licht bildet und Finsternis schafft“ (Jes 45,7). Dem göttlichen Walten erwidert kein an sich Böses, sondern die menschliche Person, durch die erst das sogenannte Böse, die richtungslose Kraft, zum wirklichen Bösen werden kann. Die menschliche Wahl ist nicht ein psychologisches Phänomen, sondern letzte Realität, die in das Mysterium des Seienden selbst aufgenommen ist. Es ist dem Menschen in Wahrheit freigestellt, Gott zu wählen oder zu verwerfen, und zwar nicht in einem weltledigen Glaubensverhältnis, sondern in der ganzen Fülle des Alltags. Der „Sündenfall“ ist nicht einmal geschehen und zum Verhängnis geworden, sondern in all seiner Wirklichkeit geschieht er jetzt und hier. Jeder Mensch ist, trotz aller geschehenen Geschichte, trotz allen Erbstoffs der Vererbungen, in der nackten Adamssituation; jedem Menschen ist Entscheidung zugeteilt. Freilich nicht so, als ob man aus dieser die weiteren Ereignisse herausspinnen könnte, vielmehr ist damit nur gesagt, daß die Wahl des Menschen die ihn als den zum Handeln Berufenen angehende Seite der Wirklichkeit ist.
Nur wenn die Wirklichkeit logisiert wird, wenn also A und Non-A nicht mehr beieinander wohnen dürfen, gibt es als einander ausschließend Determinismus und Indeterminismus, Prädestinationslehre und Freiheitslehre. Dem logischen Wahrheitsbegriff nach kann nur eins von beiden wahr sein, aber in der Wirklichkeit des gelebten Lebens sind sie voneinander unablösbar. Der Mensch, der sich entscheidet, weiß, daß das keine Selbsttäuschung ist; der Mensch, der gehandelt hat, weiß, daß er in der Hand Gottes stand und steht. Die Einheit beider ist das Geheimnis im Herzen des Zwiegesprächs.
Ich sagte schon: das „Böse“ ist zunächst nur als Element zu fassen, menschlich gesprochen: als Leidenschaft. Die Leidenschaft ist nur dann [403] böse, wenn sie in der Richtungslosigkeit verharrt, sich der Richtung verwehrt, die Richtung auf Gott zu – es gibt keine andere – nicht annehmen will. In vielfachen Varianten kehrt im Judentum die Einsicht wieder, daß die Leidenschaft, der „böse Trieb“, das Element schlechthin ist, aus dem allein die großen menschlichen Werke, auch die heiligen Werke entstehen. Der Satz der Schrift, der Gott am Ende des letzten Schöpfungstags seinem Werk anmerken läßt, daß es „sehr gut“ ist, wird von der Tradition auf den sogenannten bösen Trieb bezogen. Unter allem Erschaffnen ist die Leidenschaft das sehr Gute, ohne das man Gott nicht dienen, nicht wahrhaft leben kann. Das Wort „So liebe denn Ihn deinen Gott mit all deinem Herzen“ wird gedeutet: mit deinen beiden Trieben, dem „guten“ und dem „bösen“, dem Trieb der Richtung und dem Trieb der Kraft. Und von diesem sogenannten bösen Trieb sagt Gott zum Menschen: „Du hast ihn böse gemacht“. So ist also in der Trägheit verharren die Wurzel alles Übels. Der Vorgang der Entscheidung bedeutet, daß der Mensch sich nun nicht länger von dem richtungslosen Wirbel der Leidenschaft tragen läßt, sondern ihre ganze Mächtigkeit in die eine Richtung, zu der er sich entscheidet, einbezieht. Das Böse ist also nur die „Schale“, die Umhüllung, Umkrustung des Guten, die Schale, die aktiv durchbrochen werden will.
Aber das ist nicht, wie kürzlich ein katholischer Theologe meinte, der der Gnade unkundige ,Jüdische Aktivismus“. Dem Ernstnehmen der göttlichen Gnade wird durch das Ernstnehmen der menschlichen Entscheidung nicht bloß kein Abbruch getan, sondern dieses führt die Seele auf einem nur so erreichbaren Weg auf jenes hin. Keineswegs wird dem Menschen hier eine Machtvollkommenheit zugesprochen; bestimmend ist vielmehr die gebotene Perspektivik des konkreten Handelns, das man nicht vorwegnehmend einschränken darf, sondern das sowohl Beschränkung wie Begnadung selbeigen, eben im Gang der Handlung, zu erfahren hat.
Die große Frage, die unsere Zeit immer tiefer aufrührt: Wie können wir handeln, gilt unser Handeln im Angesicht Gottes, oder, ist es von Grund aus gebrochen und unbefugt? beantwortet sich so für das Judentum durch das Ernstnehmen des Eingesetztseins des Menschen als eines Ursprungs von Geschehen, als eines wirklichen Partners des wirklichen Zwiegesprächs mit Gott. Diese Antwort bedeutet eine Ablehnung aller Sonderethik, aller Ethik als Sondersphäre, wie sie uns aus der Geistesgeschichte des Abendlandes nur allzu bekannt ist. Das ethische ist unausschmelzbar eingegangen in das religiöse Leben. Es gibt keine Verantwortung ohne den, dem man sich verantwortet, denn es gibt keine Antwort ohne Ansprache. Mit dem „religiösen [404] Leben“ aber ist letztlich nichts andres gemeint als die Konkretheit selbst, die ganze Konkretheit des Lebens ohne Reduktion, dialogisch gefaßt, in das Zwiegespräch einbezogen.
Es gibt also in dem Zwiegespräch immer wieder ein echtes Ansetzen des Menschen. Es gibt etwas, das unbegreiflicherweise dem Menschen zuteil geworden ist, das Anfängen. Der Mensch kann nicht vollenden und muß doch selber beginnen, und zwar im äußersten Wirklichkeitsernst. Wie es in etwas paradoxer Deutung des ersten Satzes der Genesis einmal von chassidischer Seite ausgesprochen wird: Im Anfang – das heißt: um des Anfangs willen, um des Anfangens willen schuf Gott Himmel und Erde. Um des menschlichen Anfangens willen: damit es einen gebe, der auf ihn, auf Gott zu anfangen kann und soll.
So ist auch jener große Satz zu verstehen, den am Schluß des vom Versöhnungstag handelnden Mischna-Traktats Rabbi Akiba zu Israel spricht: „Oh, über euer Glück, Israel! Vor wem reinigt ihr euch und wer macht euch rein? Euer Vater im Himmel.“ Hier ist die Tat des Menschen in ihrer Wirklichkeit und in ihrer Unzulänglichkeit zugleich ausgesprochen, die Wesenhaftigkeit des menschlichen Handelns und sein Angewiesensein auf die Gnade. Und sinnmächtig endet der Spruch mit den Worten, die auf eine kühne Schriftauslegung zurückgehen: „Er ist das Tauchbad Israels.“
4. Die Umkehr
Dieses Anfangen des Menschen bekundet sich am stärksten in dem Vorgang der Umkehr. Man sagt gewöhnlich „Buße“, aber das ist eine irreführende Psychologisierung; man tut besser, das Wort in seiner ursprünglich-sinnlichen Bedeutung zu fassen, denn was mit ihm gemeint ist, begibt sich nicht in der Innerlichkeit der Seele, so daß es außerhalb ihrer nur etwa „Folgen“ oder „Wirkungen“ hätte, sondern es begibt sich unmittelbar in der Wirklichkeit zwischen Mensch und Gott. Die Umkehr ist so wenig ein „seelisches“ Ereignis, wie Geburt und Tod des Menschen; sie geschieht an der ganzen Person, mit der ganzen Person, und sie geschieht nicht im Verkehr des Menschen mit sich selbst, sondern in der schlichten Realität der Ur- Gegenseitigkeit.
Die Umkehr ist eine menschliche Tatsache, aber sie ist auch eine weltumgreifende Macht. Als Gott, so wird erzählt, seine Schöpfung vorbedachte und sie vor sich auf einen Stein hinritzte, wie ein Baumeister sich [405] den Grundriß zeichnet, sah er, daß die Welt keinen Bestand haben würde. Da schuf er die Umkehr: nun hatte die Welt Bestand, denn nun war ihr, wenn sie sich von Gott weg, in die Abgründe der Selbstheit verlief, die Rettung erschlossen, der in eigner Bewegung zu vollziehende Rückschwung gnadenhaft gewährt.
Die Umkehr ist die größte Gestalt des „Anfangens“. Wenn Gott zum Menschen spricht: „Öffne mir die Pforte der Umkehr so schmal wie eine Nadelspitze, und ich will sie so weit öffnen, daß Wagen einziehen können“, oder wenn Gott zu Israel spricht: „Kehret um, und ich werde euch zu einer neuen Schöpfung umschaffen“, zeigt sich uns in großer Klarheit der Sinn des menschlichen Anfangens. In der Umkehr ersteht der Mensch neu als Gottes Kind.
Da die Umkehr so Gewaltiges bedeutet, versteht man die Sage, daß Adam von Kain die Kraft der Umkehr lernte, versteht jenen an ein neutestamentliches Wort anklingenden, aber von ihm ganz unabhängigen Spruch: „An dem Ort, wo die Umkehrenden stehen, vermögen die vollkommen Gerechten nicht zu stehen.“
Wir sehen wieder, daß es im Judentum keine Sonderethik gibt. Dieses höchste „ethische“ Moment ist völlig in das dialogische Leben zwischen Gott und Mensch aufgenommen. Die Umkehr ist nicht Rückkehr zu einem früheren, „sündenfreien“ Zustand, sondern sie ist Wesensumschwung – das im Umschwung Hingetragenwerden auf den Weg Gottes. Dieser aber, hē hodòs toũ theoũ, bedeutet nicht etwa bloß einen Weg, den Gott dem Menschen anbefiehlt, sondern er, Gott selber, geht in seiner Schechina, in seiner „Einwohnung“, einen „Weg durch die Geschichte der Welt; er nimmt Weg, nimmt Weltschicksal auf sich. Wer umkehrt, gerät in die Wegspur des lebendigen Gottes.
Von da aus ist auch jenes Wort, mit dem im Neuen Testament erst der Täufer, dann Jesus, dann die Sendlinge ihre Predigt beginnen, in seiner vollen Prägnanz zu verstehen,jenes durch das griechische metanoeĩte, das auf einen geistigen Prozeß hindeutet, falsch wiedergegebene Wort, das im hebräischen oder aramäischen Original kein anderes gewesen sein kann als der alte Prophetenruf „Kehret um“. Und von da aus auch, wie mit jenem Predigtanfang der folgende Satz verknüpft ist: „denn nah herbeigekommen ist hē basíleia tõn ouranõn“, was nach dem hebräischen oder aramäischen Sprachgebrauch der Zeit nicht bedeutet haben kann „Himmelreich“ im Sinne einer „anderenWelt“: Schamajim, Himmel, ist damals eine der Umschreibungen des Gottesnamens; Malchut Schamajim, hē basíleia [406] tõn ouranõn bedeutet nicht Himmelreich, sondern das Königtum Gottes, das sich an der ganzen Schöpfung erfüllen und sie so vollenden will. Das Reich Gottes kommt dem Menschen nah, es will von ihm ergriffen und verwirklicht werden, nicht durch theurgische „Gewalttat“, sondern durch den Umschwung des ganzen Wesens; und nicht, als ob er durch den etwas auszurichten vermöchte, sondern weil die Welt um seines Anfangens willen erschaffen worden ist.
5. Gegen Gnosis und Magie
Von zwei religiös gewandeten Geistesmächten vor allem ist die Einsicht in die religiöse Wirklichkeit, in die dialogische Situation des Menschen, bedroht: von Gnosis und Magie. Sie greifen nicht von außen an, sie dringen in die Religion selber ein und geben sich dann als deren Wesen aus. Indem das Judentum sich immer wieder ihrer erwehrte und gegen sie abgrenzte, hatte es zumeist einen inneren Kampf auszutragen. Dieser Kampf ist häufig als einer gegen den Mythos mißverstanden worden. Aber nur ein abstrakt-theologischer Monotheismus kann des Mythos entraten, ja darf in ihm seinen Feind sehen; der lebendige braucht ihn, wie alles religiöse Leben ihn braucht, als die spezifische Gedächtnisform, in der sich seine zentralen Ereignisse bewahren und dauernd einverleiben.
Gnosis und Magie traten Israel zuerst in den zwei großen nachbarlichen Kulturen gegenüber; Gnosis, die Kunde vom wißbaren Geheimnis, als die babylonische Lehre von der Sternenmacht, der das irdische Schicksal verhaftet ist – sie baute sich später zu der iranischen Lehre von der Gefangenschaft der Weltseele im Kosmos aus; Magie, die Kunde von dem zu bezwingenden Geheimnis, als die ägyptische Lehre von der Überwindung des Todes und Erringung unsterblichen Heils durch vorgeschriebene Formeln und Gebärden. Die Jakobstämme konnten zu Israel nur werden, indem sie sich von beiden losmachten: wer das Geheimnis zu wissen und innezuhaben wähnt, kann ihm nicht mehr als seinem Du gegenübertreten, und wer es beschwören und benützen zu können meint, ist unfähig zum Wagnis der echten Gegenseitigkeit. Der gnostischen Versuchung erwidert die „Weisung“, die Thora, mit dem wahrhaft grundlegenden Ruf (Dt 29,28): „Das Geheime ist bei Ihm, unserem Gott, / das Offenbare ist bei uns und unseren Söhnen / auf immer: / alle Worte dieser Weisung zu tun.“ Die Offenbarung handelt nicht vom Geheimnis Gottes, sondern vom Leben [407] des Menschen, aber von ihm eben als von einem, das dem Geheimnis Gottes gegenüber und auf es zu gelebt werden kann und soll, vielmehr: gelebt wird, wenn es das wirkliche Leben des Menschen ist. Und der magischen Versuchung tritt das Gotteswort im brennenden Dornbusch entgegen: auf das Bedenken Mose, er wisse nicht, was er dem Volke sagen solle, wenn es ihn fragen würde, was es um den Namen des Gottes sei, als dessen Bote er zu ihnen spreche (nicht, welches der Name des „Gottes der Väter“ sei!), das heißt, wie es in seiner Not sich des Geheimnisses dieses Namens nach allgemeinem primitiven Völkerbrauch bemächtigen, den Gott beschwören und zwingen könne, ihnen zu erscheinen und sie zu retten, antwortet Gott mit der Erschließung eben des Namens, indem er das, was dieser in der Form der dritten Person birgt, in der ersten Person ausspricht. Nicht jenes angebliche „Ich bin der ich bin“ der Metaphysiker – Gott macht keine theologischen Aussagen —, sondern den Spruch, dessen seine Kreatur bedarf und der ihr frommt: „Ich werde dasein als der ich dasein werde“; das heißt: Ihr braucht mich nicht zu beschwören, denn ich bin da, bin bei euch, aber ihr könnt mich auch nicht beschwören, denn ich bin jeweils so bei euch, wie ich jeweils sein will, ich selber nehme keine meiner Erscheinungen vorweg, ihr könnt mir nicht begegnen lernen, ihr begegnet mir, wenn ihr mir begegnet (Dt 30,12ff.): „Nicht im Himmel ist es, daß du sprächest: / Wer steigt für uns zum Himmel und holt’s uns / und gibt’s uns zu hören, daß wir’s tun? / … Nein, sehr nah ist dir das „Wort, / in deinem Mund und in deinem Herzen, / es zu tun.“
In seinem innern Kampf gegen das Eindringen von Gnosis und Magie ist auch die Dynamik des späteren Judentums zu verstehen, insbesondre auch jener ärgerliche Talmud. Um was es in mancher seiner scheinbar lebensfernen Diskussionen geht, ist nur zu erfassen, wenn wir uns diese stete doppelte Bedrohung der religiösen Wirklichkeit vergegenwärtigen: durch die Gnosis in der Gestalt der spätiranischen Lehre von den Doppelprinzipien und den Mittlersubstanzen, durch die Magie in der Gestalt der hellenistischen Praxis der Theurgie. Diese beiden verschmolzen inneijüdisch in der Kabbala, dem unheimlich gewaltigen Unternehmen des Juden, sich der Konkretheit der dialogischen Situation zu entwinden. Die Kabbala ist dadurch bezwungen worden, daß sie so, wie sie war, in die urjüdische Konzeption des dialogischen Lebens eingewandelt wurde; dies ist das bedeutende Werk des Chassidismus. Er läßt alle Mittlersubstanzen verblassen vor dem Verhältnis zwischen Gottes Transzendenz, dem nur in der Aufhebung alles begrenzten Seins, als der „Uneingeschränkte“ zu Benennenden, [408] und seiner Immanenz, der „Einwohnung“; das Geheimnis dieses Verhältnisses aber ist nun nicht mehr ein wißbares, sondern es wird unmittelbar auf das schlagende Herz der menschlichen Person gelegt, als der „Jichud“, als die von ihr in allen Lebensmomenten und an allen Weltdingen zu bekennende und bewährende Einung. Und die Theurgie wird vom Chassidismus entgiftet, indem er zwar keineswegs die Einwirkung des Menschlichen auf das Göttliche verneint, aber über alle Formeln und Gebärden, über alle Übung, Kasteiung, Zurichtung, Absichtlichkeit hinaus und hinweg als ihren, der Einwirkung, einzigen wahren Träger die Heiligung des ganzen Alltags verkündet, also die Technik der Intention auflöst, kein ein für allemal gültiges, kein „anwendbares“ Sondermittel bestehen läßt. So erneuert der Chassidismus die Einsicht in die mit dem rückhaltlosen Lebenseinsatz zu wagende Gegenseitigkeit, in die dialogische Beziehung des ungeteilten Menschen zum ungeteilten Gott in der Fülle der irdischen Gegenwart und ihrer unvorhersehbaren, uns Augenblick um Augenblick antretenden Situationen; die Einsicht in jene Scheidung von „Geheimnis“ und „Offenbarung“ und in jene Vereinigung beider in dem nicht wißbaren, nur immer wieder erfahrbaren „Ich werde dasein“; die Einsicht in die Wirklichkeit der Begegnung.
Die Gnosis verkennt die Begegnung, die Magie verletzt sie; der Sinn der Offenbarung ist, daß sie bereitet werde; der Chassidismus deutet es aus: daß sie an der ganzen Wirklichkeit des menschlichen Lebens bereitet werde.
6. Der Dreiklang der Weltzeit
Auf der Einsicht in die dialogische Situation, richtiger, auf dem Durchdrungensein von ihr gründet sich das unzerstörbare Wissen des Judentums um die Dreiheit im Dreiklang der Weltzeit: Schöpfung, Offenbarung, Erlösung.
Innerhalb des frühen Christentums hat zuerst das Johannesevangelium die Dreiheit durch eine Zweiheit zu ersetzen gesucht, indem es Offenbarung und Erlösung in eins band: das Licht, das in der Finsternis scheint und von der Finsternis nicht empfangen wird, das den ganzen Men-schen erleuchtende Licht, das in die Welt kommt – das ist Offenbarung und Erlösung zugleich, in seinem In-die-Welt-Kommen offenbart sich Gott und wird die Seele erlöst. Das Alte Testament schrumpft zum Prolog des Neuen zusammen. Marcion ist weiter gegangen: er hat die Zweiheit durch eine Einheit zu ersetzen gesucht, indem er die Schöpfung aus der religiösen [409] Wirklichkeit verbannte, Schöpfergott und Erlösergott auseinanderriß, und jenen der Anbetungswürdigkeit, also der Gottheit verlustig erklärte: der „fremde“ Gott, der sich erlöserisch offenbart, erlöst die Seele vom Kosmos und von dessen Werkmeister, dem nur „gerechten“, nicht „guten“ Judengott, dem Demiurgen und Gesetzgeber, dem Scheingott dieses Äons, zugleich. Das Alte Testament wird als widergöttliches Buch verworfen. Marcions Werk ist von der Kirche nicht rezipiert, ja in großerWeise bekämpft worden; wie aktuell es dennoch für das christliche Denken geblieben ist, hat neben vielem anderen in unseren Tagen die marcionisierende These Harnacks erwiesen, der die „Konservierung“ des Alten Testaments als kanonischer Urkunde im Protestantismus als „die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung“ brandmarkt und von jenem nur noch den Propheten eine religiöse Gültigkeit zuspricht. Aber mit einem Sieg dieser These würde mehr erzielt als die Trennung zweier Bücher und die Entheiligung des einen für die Christenheit: der Mensch wäre von seinem Ursprung losgeschnitten, die Welt verlöre ihre Schöpfungsgeschichte und damit ihren Schöpfungscharakter, oder die Schöpfung selber würde zum Sündenfall, das Sein zerfiele nicht bloß kosmologisch, sondern in letzter religiöser Betrachtung unaufhebbar in eine „Welt“ der Materie und des Moralgesetzes und in eine Überwelt des Geistes und der Liebe. Hier findet die iranische Zweiprinzipienlehre ihren abendländischen Ausbau und die Zwiegespaltenheit des der natürlichen, lebensmäßig vertrauenden Gläubigkeit entfremdeten Menschen ihre theologische Sanktion. Erlösung wird aus einer Vollendung des Schöpfungswerkes zu dessen Überwindung, die Welt kann nicht mehr als solche zum Reich Gottes werden. Der „Unbekannte“, der hier angebetet wird, ist der Geist der Reduktion.
Was das Judentum vor diesem Ausgang – der für es nicht nur wie für die abendländischen Völker eine drohende Zersetzung, sondern die unvermeidliche Auflösung gewesen wäre – bewahrte, ist nicht, wie die Marcioniten wohl meinen möchten, daß es die „Tragik“, den Widerspruch des Weltgangs nicht tief genug erfahren hätte, vielmehr daß es ihn in der dialogischen Situation erfuhr, das heißt: daß es den Widerspruch als Theophanie erfuhr. Die Welt dieses Widerspruchs, ungekürzt, ungemildert, unverglättet, unvereinfacht, unreduziert, eben sie ist es, die zum Reich – nicht überwunden: vollendet, ja vollendet werden soll, denn sie ist es, eben sie, in deren ganzer Gegensätzlichkeit das Reich angelegt ist, so daß dieses durch allen Abstrich nur gehemmt, jedoch durch alle Einung der Gegensätzlichkeit bereitet wird: durch Erlösung nicht vom Bösen, sondern des [410] Bösen, als der von Gott zu seinem Dienst und zum Wirken seines Werkes erschaffenen Kraft.
Steht die ganze Welt, das ganze Weltgeschehen, die ganze Weltzeit unreduziert in der dialogischen Situation, bedeutet ihre Geschichte in Wahrheit das Zwiegespräch Gottes mit seiner Kreatur, dann ist die Dreiheit, in der diese Geschichte geschaut und vernommen wird, nicht ein beiseitezuschiebendes menschliches Orientierungsschema, sondern die geschehende Wirklichkeit selber. Was aus dem Abgrund des Ursprungs in die Sphäre unserer nicht erfassenden Fassung, unseres stammelnden Berichtes tritt, ist der schöpferische Ruf Gottes an das Nichts. Noch lagert das Schweigen ihm gegenüber, aber schon erstehen die Dinge und antworten, ihr Gewordensein ist ihre Antwort, und indem Gott sie segnet und beauftragt, hat die Offenbarung, die Beziehung von Geben und Empfangen, aber auch die vom Gebenwollen und Empfangversagen, begonnen. Sie währt, bis die echte Antwort der umkehrenden Kreatur lautbar und von Gottes Erlösergnade aufgenommen wird, so daß in der ungeminderten Vielheit und Vielfältigkeit, aus dem Element der Gegensätzlichkeit selber gestaltet, die Einheit sich erhebt und die Gemeinschaft der Kreaturen im Namen und im Angesicht Gottes stiftet.
Und wie Schöpfung nicht die Seele anruft, sondern die Ganzheit der Dinge, wie Offenbarung nicht die Seele ermächtigt und erheischt, sondern die Ganzheit der Wesen, so ist es auch nicht die Seele, sondern die Ganzheit der Welt, deren Erlöstwerden von der Erlösung gemeint ist. Erschaffen richtet sich der Mensch auf, ein einiger Leib, beseelt in der Verbundenheit mit den Geschöpfen, begeistet in der Verbundenheit mit dem Schöpfer; dem einig leibhaften, beseelten und begeisteten Menschen gegenwärtigt sich der Herr der Offenbarung und begabt ihn mit seiner Botschaft, in eben diese Ganzheit hinein, so daß er nicht bloß mit dem Denken und mit dem Gefühl, sondern auch noch mit Sohlen und Fingerspitzen die Zeichenrede der sich ereignenden Wirklichkeit empfängt; am einig leibhaften Leben muß die Erlösung geschehn. Nicht weniger als seine ganze Schöpfung will Gott der Schöpfer vollenden, nicht weniger als seine ganze Offenbarung will Gott der Offenbarer zur Tatsächlichkeit machen, nicht weniger als alles Erlösungsbedürftige will Gott der Erlöser an sich ziehen.
Dieser für die staatswissenschaftlichen Kurse in Reichenhall 1928 erbetene Vortrag konnte erst danach im Rahmen des Kieler Weltwirtschaftlichen Instituts nachgeholt werden.
Quelle: Martin Buber, Politische Schriften, hrsg. v. Abraham Melzer, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins, 2010, S. 399-410.