„Wer den Mut hat zu schweigen, der schweige.“ Erklärung Karl Steinbauers zur Anzeige wegen Nichtbeflaggung der Kirchen am 1. Mai 1936: „Mich treibt neben meinem Auftrag als Prediger des Evangeliums auch die Angst um die Zukunft unseres Vaterlandes und die Liebe zu meinem Volk, und auch die verbietet mir, zu schweigen. Ich glaube allerdings, dass ich damit auch meinem Volk einen besseren Dienst tue, als die, die schweigen. Warum sie schweigen, das frage sich jeder selbst. Wer noch immer glaubt, schweigen zu können, ohne Verletzung seines Gewissens, möge es tun.“

Nachdem Karl Steinbauer (1906-1988), selbständiger Vikar in der evangelischen Gemeinde Penzberg nahe dem Starnberger See, am 2. Mai 1936 wegen Nichtbeflaggung der Kirchen in seinem Gemeindegebiet zum 1. Mai angezeigt wurde, verfasste er folgende Erklärung:

Erklärung Karl Steinbauers zu Protokoll der Gendarmeriestation Penzberg/Obb. zur Anzeige wegen Nichtbeflaggung der Kirchen am 1. Mai 1936

EZA Berlin, 50/868 = Karl Steinbauer: Einander das Zeugnis gönnen, Bd. 2, Erlangen 1983, S. 13-19

Sowenig es mir als verantwortlichem Träger des heiligen Predigtamtes, zu dem ich feierlich ordiniert bin, möglich war, der Anordnung Dr. Goebbels’ zum allgemeinen Glockenläuten am Wahlsamstag und Wahldienstag nach­zukommen und meine Kirchen aus diesem Anlaß zu beflaggen, ebensowenig konnte ich auch am 1. Mai d. J. dem gleichen doppelten Ansinnen nachkommen. Im übrigen war ja auch für den 1. Mai das Läuten vom Kir­chenregiment untersagt worden.

Obgleich ich nun meine grundsätzliche Einstellung schon in meinem Schrei­ben vom 5. April dargetan habe, will ich doch auch hier noch einmal die Be­weggründe meines Handelns in verschiedener Richtung aufzeigen.

1. Glockenläuten

Daß es in jeder Beziehung ein für die Kirche Jesu Christi unerträgliches und beleidigendes Verlangen war, den 1. Mai unter dem Gesang „Freut euch des Lebens“ mit Glockengeläute zu eröffnen, mußte von vornherein nicht nur jedem verantwortlichen Prediger des Evangeliums feststehen, sondern jedem auch nur einigermaßen klarsehenden Laien deutlich sein. Daß es Herrn Dr. Ley offenbar nicht klar war, kann vielleicht manchem die Augen öffnen. Wofür muß man denn die Kirche Christi in diesen Kreisen halten, die meinen, der Kirche zumuten zu können, zu solchem Gesang „Freut euch des Lebens“ die gleichen Glocken läuten zu lassen, deren Beruf es ist, zum Wort Gottes und zum Gebet zu rufen? Das ist eine dringliche Frage zu ernster Besinnung für den Staat und wahrlich nicht minder für die Kirche.

2. Verweigerung der Beflaggung

a) Diese eben angedeuteten Gedankengänge waren auch mitbestimmend für die Verweigerung der Beflaggung meiner drei Kirchen. Dazu kommt zunächst noch dieses: lt. ausdrücklicher Mitteilung unserer obersten Kir­chenbehörde bemühte sich die Kirche seit Wochen, am 1. Mai Raum zu bekommen, die Arbeit des deutschen Volkes unter das Wort Gottes zu stellen. Es ist ihr nicht gelungen. Damit hat man sich deutlich genug dahin ausgedrückt, daß man vom Dienst der Kirche bei dieser Gelegenheit nichts wissen will. Es ist schon rein menschlich ein unbilliges Verlangen, daß die Kirche flaggen soll, wenn gleichzeitig der Predigtdienst der Kirche offen­sichtlich zurückgewiesen wird. Es sollte doch verstanden werden, daß einer solchen Forderung schon rein mit Rücksicht auf Ehre und Charakter nicht entsprochen werden kann. In diesem Zusammenhang drängt es mich, auf eine schwere seelische Not unserer Zeit hinzuweisen, unter der nicht we­nige leiden.

Die seelische Not besteht darin, daß heute vielfach auch im alltäglichen Le­ben Anforderungen an das Gewissen, den Charakter und die Mannesehre des einzelnen gestellt werden, die nur unter schwerer seelischer Belastung geleistet werden können.

Wie oft werden vom Einzelnen Handlungen verlangt, welche mit seiner in­neren Überzeugung nicht im Einklang stehen, die er aber nicht verweigern kann, ohne ernstliche Nachteile für seine Existenz befürchten zu müssen. Es liegt auf der Hand, daß hierdurch die innere Lauterkeit des einzelnen ernstlich gefährdet und damit weithin die Charakterwerte des Gesamt­volkes in erschreckendem und beängstigendem Ausmaße zerstört werden. Schon meine Auffassung von der äußeren Würde der Kirche hätte es mir aus solchen Gedankengängen heraus in diesem Falle schwer gemacht, zu beflaggen.

b) Nun kommt aber als bestärkend und entscheidend hinzu das offizielle Wort der Partei und des Staates – Partei und Staat sind ja eines – zum Ge­schehen am 1. Mai aus dem Munde des Reichsleiters Dr. Ley.

Er sagt („Völkischer Beobachter“ Nr. 122/36) u. a.: „Da spricht der törichte Mensch vom Jammertal dieser Erde; von ewiger Sünde und Schuld, von zerknirschender Buße und knechtseliger Gnade.“

Dieser Satz ist eine ganz unerhörte Verhöhnung der Kirche und er­schreckende Lästerung Gottes und seiner heiligen Botschaft an die Welt, wie sie uns durch die Heilige Schrift aufgetragen ist.

Zum einzelnen:

a) „Jammertal “ – der „törichte Mensch“ Dr. Martin Luther hat den 84. Psalm aus der Heiligen Schrift Vers 6 u. 7 so übersetzt: Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten und von Herzen dir nachwandeln, die durch das Jammertal gehen und machen daselbst Brunnen. …

Der „törichte Mensch“ Dr. Martin Luther hat im Kleinen Katechismus, einer der Bekenntnisschriften unserer Evang.-luth. Kirche, zur Auslegung der 7. Bitte „sondern erlöse uns von dem Übel …“ gesagt: „Wir bitten in diesem Gebet als in der Summa, daß uns der Vater im Himmel von allerlei Übel Leibes und der Seele, Gutes und Ehre erlöse, und zuletzt, wenn unser Stündlein kommt, ein seliges Ende beschere, uns mit Gnaden aus diesem Jammertal zu sich nehme in den Himmel.“

b) „Von ewiger Sünde und Schuld “ – man sollte nicht imstande sein, so wie es hier geschieht, von Sünde und Schuld zu reden; von allem anderen abge­sehen, schon deshalb nicht, weil die Wahl vom 29. März mit der Fälschung des Wahlergebnisses – die ja von der Reichskanzlei auf Anfrage förmlich zugegeben worden ist – und mit all den belastenden Begleiterscheinungen noch so kurz hinter uns liegt, daß wir sie noch nicht wieder vergessen ha­ben sollten. Vielleicht müssen wir als Volk und Staat viel früher, als wir meinen, es uns vom lebendigen Gott, der sich nicht spotten läßt, praktisch wieder beibringen lassen, daß es auch heute noch gilt: „Gerechtigkeit er­höhet ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben.“ Dieses Wort steht in der Heiligen Schrift Spr. 14, 34 und ist Gottes heiliges Wort, und das ist wahr! Und abermals steht geschrieben: „Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht.“ Andererseits spricht der Herr Christus Matth. 2, 17: „Ich bin ge­kommen, die Sünder zur Buße zu rufen“, und so schreibt der Apostel Paulus 1. Tim. 1, 15: „Das ist gewißlich wahr und ein teuer wertes Wort, daß Jesus Christus gekommen ist in die Welt, die Sünder selig zu machen.“ Wer nicht an der Sünde zugrunde gehen will, der höre!

So bekennen unsere reformatorischen Väter 1530 in Augsburg (Augsburger Conf. II. Art.): „Weiter wird bei uns gelehrt, daß nach Adams Fall alle Menschen, so natürlich geboren werden, in Sünden empfangen und geboren werden, das ist, daß sie alle von Mutterleib voller böser Lust und Neigung sind und keine wahre Gottesfurcht, keinen wahren Glauben an Gott von Natur haben können: daß auch dieselbige angeborene Seuche und Erbsünde wahrhaftig Sünde sei und verdamme alle die unter ewigen Gotteszorn, die nicht durch die Taufe und Heiligen Geist wiederum neu geboren werden. – Hieneben werden verworfen die Pelagianer und andere, so die Erbsünde nicht für Sünde halten, damit sie die Natur fromm machen durch natürliche Kräfte zu Schmach dem Leiden und Verdienst Christi.“

(Ich möchte hier nebenbei darauf hinweisen, daß durch die Verkündigung der Kirchenverfassung vom Juli 1933 und durch die Anerkenntnis des dort enthaltenen Vorspruchs die Bekenntnisschriften mit ihrem Inhalt als Grundlage kirchlichen Handelns auch vom Staat als Reichsgesetz anerkannt worden sind.)

c) „zerknirschende Buße“ – Es hat noch nie Zweifel bestanden, daß der Ruf zur Buße ein unaufgebbares Stück der christlichen Verkündigung ist. Als die Zeit des Neuen Testamentes im Anbruch war, ruft der „törichte Mensch “ Johannes der Täufer: „Tut Buße, das Himmelreich ist nahe herbei­gekommen!“ Und der Herr Christus selbst, der „törichte Mensch“ – merkt man nun, was hier für eine ungeheure Lästerung getrieben wird -, nimmt diesen Ruf wieder auf und beginnt seine Predigt ebenfalls: „Tut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“

Die erste der 95 Thesen Luthers heißt: „Da unser Meister und Herr Jesus Christus spricht: Tut Buße … usw., will er, daß das ganze Leben seiner Gläubigen auf Erden eine stete oder unaufhörliche Buße sein soll.“ Und so bekennen und lehren unsere reformatorischen Väter (Verteidigung der Confession Art. XII): „Hie berufen wir uns auf Erfahrung aller Gottesfürchti­gen, auf alle redliche, verständige Leute, die auch gern die Wahrheit erkenn­ten, die werden bekennen, daß die Widersacher in allen ihren Büchern nichts Rechtschaffenes gelehrt haben von der Buß, sondern eitel verworren unnütz Geschwätz; und ist doch dies ein Hauptartikel der christlichen Lehre, von der Buße, von der Vergebung der Sünde.“

d) „Knechtselige Gnade“ – So stehet geschrieben Eph. 2, 8+9: „Aus Gnade seid ihr selig geworden durch den Glauben – und das nicht aus euch: Got­tes Gabe ist es – nicht aus den Werken, auf daß sich nicht jemand rühme.“ Römer 3, 23: „Denn es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht, aus seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Chri­stum Jesum geschehen ist.“ Davon zeugen unsere reformatorischen Väter mit Martin Luther (Schmalkald. Art. II, 1): „Von diesem Artikel kann man nichts weichen oder nachgeben, es falle Himmel und Erden oder was nicht bleiben will. Denn es ist kein anderer Name den Menschen gegeben, da­durch wir können selig werden …“

Zusammenfassend sagen unsere Bekenntnisschriften über diese reforma­torischen Zentraltatsachen von Sünde, Buße und Gnade (Augsb. Conf. Art. XII): „Und ist wahre, rechte Buße eigentlich Reu und Leid oder Schrecken haben über die Sünde und doch daneben glauben an das Evangelium und Absolution, daß die Sünde vergeben und durch Christus Gnade erworben sei, welcher Glaube wiederum das Herz tröstet und zufrieden macht.“ Wer die Entstehungsgeschichte der Reformation auch nur einigermaßen kennt, weiß, daß sie daraus erwachsen ist, daß Luther die Tatsache der Sünde (vgl. b) und der Buße (vgl. c) wieder ganz ernst genommen hat und ihm damit die Botschaft Gottes in Christus wirklich als Frohbotschaft wieder geschenkt worden ist. Wer nun diese Hauptartikel reformatorischer Bot­schaft von Sünde, Buße und Gnade angreift oder glaubt lächerlich machen zu können, setzt sich damit auch in Widerspruch zu dem, was die Kirche Jesu Christi auftragsgemäß und deshalb positiv seit jeher verkündet hat. Da­mit sind die Ausführungen Dr. Leys als Mund der Partei klar als Lästerung gerade der reformatorischen Botschaft erwiesen.

Wenn aber ein Vertreter des Staates und der Partei glaubt, seine Machtstel­lung dazu zu haben, um in einer so offiziellen Kundgebung, wie die zum 1. Mai, die Sache des Evangeliums und der Botschaft Gottes in Jesus Chri­stus lästern zu dürfen in solch unerhörter Weise, wie es hier tatsächlich ge­schieht, so möge er es tun, man kann und darf aber nicht erwarten, daß ein ev.-luth. Pfarrer und Prediger des Evangeliums dazu schweigt.

(Nebenbei sei gesagt: Wie man glaubt, solches Verhalten mit dem § 24 des Parteiprogramms vereinbaren zu können, bleibt freilich eine Frage der Wahrhaftigkeit und inneren Sauberkeit.)

Wenn darum der Kirche zugemutet wird, den Ort zu beflaggen, an dem die Christusbotschaft auftragsgemäß verkündet wird, angesichts der im amt­lichen Aufruf zum 1. Mai ausgesprochenen Lästerungen, so würde sie sich selbst verächtlich und auch schuldig machen, wenn sie diesem Ansinnen entsprechen würde.

Ich meinerseits war wenigstens nicht in der Lage, meine Kirchen zu be­flaggen. Hätte ich anders gehandelt, ich hätte mich geschämt vor unse­ren reformatorischen Vorvätern, deren Erbe wir zu verwalten haben, vor meiner Gemeinde, vor meinen Schulkindern und Konfirmanden, denen wir dieses Erbe zu vermitteln haben, vor meinem Volk, vor Ahnen und Nachkommen.

Mich treibt neben meinem Auftrag als Prediger des Evangeliums auch die Angst um die Zukunft unseres Vaterlandes und die Liebe zu meinem Volk, und auch die verbietet mir, zu schweigen. Ich glaube allerdings, daß ich damit auch meinem Volk einen besseren Dienst tue, als die, die schweigen. Warum sie schweigen, das frage sich jeder selbst. Wer noch immer glaubt, schweigen zu können, ohne Verletzung seines Gewissens, möge es tun. Wer den Mut hat zu schweigen, der schweige.

Penzberg/Obb., den 2. Mai 1936                                      gez. Unterschrift
                                                                                               Karl Steinbauer
                                                                                               Evang.-Luth. Expon. Vikar

Quelle: Zustimmung – Anpassung – Widerspruch. Quellen zur Geschichte des bayerischen Protestantismus in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, zusammengestellt von Karl-Heinz Fix, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021, S. 837-841.

Nachdem Steinbauer seine Erklärung zur Anzeige wegen Nichtbeflaggung der Kirchen an den Landeskirchenrat geschickt hatte, erhielt er von Landesbischof Hans Meiser folgendes Schreiben:

Evang.-luth. Landeskirchenrat                                                          München, 28. Mai 1936

Nr. 5158

Herrn

Expon. Vikar Karl Steinbauer

Penzberg

Betreff: Erklärung zur Anzeige wegen Nichtbeflaggung der Kirchen am 1.5.1936

Sie haben uns einen Abdruck Ihrer „Erklärung zu Protokoll der Gendarmeriestation Penzberg zur Anzeige wegen Nichtbeflaggung der Kirchen am 1. Mai 1936“ zugesandt. Die Begründung, die Sie für die Verweigerung der Beflaggung gegeben haben, ist uns aus münd­lichen Aussprachen mit Ihnen bekannt. Wir wissen, daß Sie aus rein christlicher und kirchlicher Erkenntnis heraus handeln wollen, und ehren die überzeugungstreue Vertretung Ihres Standpunktes. Es ist Ihnen aber bekannt, daß wir Ihre Gründe für die Verweigerung der Beflaggung Ihrer Kirchen für nicht richtig, weil nicht von der Schrift und vom Bekenntnis her zu rechtfertigen, ansehen können. Wir weisen Sie außerdem auch darauf hin, daß die Beflaggung der kirchlichen Gebäude eine Anordnung des Landeskirchenrates ist (K.Amtsblatt 1935, S. 148). Durch die Nichtbeflaggung Ihrer Kirchen verweigern Sie den Gehorsam gegenüber Ihrer vorgesetzten Behörde. Wir müssen Ihnen ernstlich die Frage vorlegen, ob Sie Ihren Unge­horsam vor Gott und Ihrem christlichen Gewissen rechtfertigen können. Wir möchten keinen Zweifel darüber lassen, daß wir Ihre Hal­tung in dieser Sache nicht billigen können, und geben der Erwar­tung Ausdruck, daß Sie noch einmal ernstlich mit sich zu Rate ge­hen und Ihr Verhalten ändern.

Evang.-Luth. Landeskirchenrat

D. Meiser

Quelle: Karl Steinbauer, Einander das Zeugnis gönnen, Bd. 2, Erlangen 1983, S. 20.

Hier die beiden Texte als pdf.

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