Von Jochen Klepper
15. September [1941] / Montag Grigoro Brigadirowka
Unfaßlich, daß schon der halbe September um sein soll.
Der milde, strahlende Morgen enthüllt erst das ganze Elend und die ganze Häßlichkeit des Dorfes. Welcher Glanz des Himmels über all dem Elend.
Da schon einige Tage deutsche Truppen hier gelegen haben, ist die Bevölkerung schon ans deutsche Militär gewöhnt, zutraulich und gefällig. Durch unsere Vorgänger finden wir nun auch schon die fertigen Schutzgräben vor; das spart viel Mühe und Zeit. Die neue Quartierstube hat mehr Heiligenbilder, auch ein gutes, altes und größeres Ikon als üblich. Sonst ist es die gleiche Armut.
Heute unter „Sonstige Nachrichten“ unserer hektographierten Mitteilungsblätter: „Für das Deutsche Reich ist eine Polizeiverordnung ergangen, nach der alle Juden in der Öffentlichkeit sichtbar auf der linken Brustseite des oberen Kleidungsstückes einen gelben Judenstern tragen müssen.“
Noch immer ist bei solchen Nachrichten, als bliebe einem das Herz stehen. Welche Erleichterung hatten Hanni und Reni durch ihr Aussehen, das niemals Jüdinnen in ihnen vermuten ließ. Damit ist’s auch aus mit Renerles Reiten – dem Ersatz für all die versagten Jugendfreuden. Und für die Kirchenkonzerte – das letzte, was wir glaubten, wagen zu dürfen – wie wird es da sein? Und damit ist wohl auch keine Reise mehr möglich. So oft hing alles vom Aussehen ab -.
Am 12. September fiel der Oberbefehlshaber unserer Armee, Generaloberst Ritter von Schobert. (OB, ehe wir unter Stülpnagel kamen.)
Als Gott in Christus Mensch wurde, wollte er den Juden gleich sein. Wer unschuldig leidet in dem „Gleichwerden“ seines Schicksals mit dem Christi unter dem Judentum, erlebt ein in die letzten Tiefen reichendes Ähnlichwerden mit Christus, in dem allein der Sinn unseres Daseins liegt -. Das stellt alles in den Schatten und hebt unser Los ins unvergängliche Licht.
Zu Nikolassee habe ich, was Hanni und Renerle betrifft, einiges Zutrauen. Aber sonst – jeder Schritt in die Öffentlichkeit, all das Tagtägliche – Geschäfte, Straße, Fahrten -.
Nach der Entwicklung, die dies alles beim Heer genommen hat, glaube ich an keine Ausnahme für Mischehen. Es soll sie weiter zermürben.
Wenn unser Leben nun von außen noch eingeengter wird; wenn uns immer mehr genommen wird: im Hause, wenn Gott dies gewährt, wollen wir es uns immer schöner machen.
Und wieder bin ich mir bewußt, was es heißt, „die Kunst“ durch die eigene Arbeit im Hause zu haben. Alles, was uns versagt wird als Wirklichkeit, wird in den Büchern erst recht leben. Und Hanni, der man die geliebte Kunst raubt, wird in Katharina von Bora selbst Kunst.
Als ich meinen Taufspruch erhielt, wußte Gott, wieviel Angsterregendes mein Leben umschließen würde; und meine „Herzenswunden“ hat er damals schon gesehen.
Von einer Predigt über Jesaja 43, 1 schreibt auch Hanni, in einem der drei Briefe, die ich heut von ihr erhielt, so daß nun die Lücke heute geschlossen ist; und der letzte Brief, der von ruhigeren Nächten berichtet, stammt vom 27. August. Auch das Pittel schreibt; nun war es wenigstens noch einmal bei Glasers in Breslau -. Die Briefe atmen so viel Fleiß, Zufriedenheit, Bescheidenheit. Auch im Hinblick auf meine unmöglich gewordene Auszeichnung und Beförderung -. Inzwischen ist nun schon wieder der neue Schatten auf Hannis und Renis Leben gefallen. Es ist leichter, ein fest umgrenztes Unglück zu ertragen, als Jahr um Jahr hinzuleben in diesem Schrecken ohne Ende. Ich sehe nur noch einen Abgrund vor mir; und darüber Gottes Hände. Darum können wir auch alles allein tragen.
So sehr ich alle falsche Eschatologie ablehne, die überall schon die Schrecken der Endzeit sehen will, muß ich doch in unserem Geschick glauben, daß für uns die Schrecken der Endzeit angehoben haben, daß damit für uns sich aber auch schon die Wiederkehr Christi ankündigt.
Soll ich nun klagen oder Gott danken, daß für Renerle dies alles schon so frühe geschieht?
Es schrieben auch noch Lilge, Schillers, Fornaçons, Lene; der Kreis der Treuen ist sehr klein geworden. Auch Heinz Hintze schrieb. Auch kamen in der Zeit unseres Mangels viele Zigaretten von daheim.
Abends war Foelsche bei uns zum Abendbrot, und er hat sich sehr wohl bei uns gefühlt. – Schweres, nächtliches Gewitter.
Nun kann mir auch mein Kummer meinen Schlaf nicht mehr rauben.
Quelle: Jochen Klepper, Überwindung. Tagebücher und Aufzeichnungen aus dem Kriege, Stuttgart: DVA, 1958, S. 197-199.