Karl Barth, Wie man die eigene Lebensbahn findet? (Neujahr 1958): „Es geht schlicht um das Hören seines Wortes, das er uns nicht ver­schwiegen hat, keinem von uns ver­schweigt. Es ist lebendig mitten unter Bitten und Empfangen, Suchen und Finden, Anklopfen und Aufgetanbekommen sind, indem wir sein Wort hören, Eines. Und wieder indem wir es und in ihm ihn selbst hören, zeigt es uns auch unsere eigene, zeigt es je mir meine, je dir deine Lebens­bahn, ist es deines und meines Fusses Leuchte, das Licht auf deinem und meinem Pfade. So auch in dem nun anhebenden Jahr 1958. Wir wissen nicht, wie unsere Le­bensbahn in diesem Jahr aussehen wird. Es könnte für mich oder für dich deren letzte Strecke sein. Sie wird aber, indem wir auch in ihm Gottes Wort hören und also mit Gott leben dürfen, auf alle Fälle keine Todesbahn, sondern hell und also gangbar sein. Ein Jahr des Herrn und darum ein Jahr des Heils ist dann auch mit diesem neuen Jahr für uns angebrochen. «Jesu, geh voran, auf der Lebensbahn!»“

Wie man die eigene Lebensbahn findet?

Von Karl Barth

Indem ich die Frage genau so aufnehme, wie sie mir gestellt worden ist, fällt mein Blick zuerst auf das Wörtlein «eigene»: die «eigene» Le­bensbahn. Was hülfe es mir, wenn ich über des Menschen Lebensbahn, Bestimmung, Aufgabe, Verantwort­lichkeit im Allgemeinen noch so klare Einsichten und gute Gedanken hätte? Ich bin ja nicht der Mensch im Allge­meinen. Ich bin ich: bei aller Ähn­lichkeit, ja Gleichheit, bei aller Ver­bundenheit mit allen anderen, nun eben dieser Mensch. Und so ist die Frage, vor der ich Tag für Tag und so auch in jedem neuen Jahr stehe, nicht nur für mich in meinem Winkel, sondern gerade auch für mich als Mitmensch meiner Mit­menschen meine Frage — mit dem Lied zu reden, die Frage: «wo mein Fuss gehen kann»? was in dieser mei­ner Zeit mir gegeben, mir erlaubt und geboten, von mir erwartet, mir auferlegt ist? was dann auch gerade mein Teil am ewigen Leben sein kann und wird? Sie ist nicht meine Privatfrage. Sie ist aber die persönliche — man sagt heute gerne: die «existentielle» — Frage, der ich unter keinem Vorwand ausweichen darf.

«Wie man die eigene Lebensbahn findet?» «Man»? Dieses Wörtlein ist nur dann nicht irreführend und ge­fährlich, wenn «man» sich darüber klar ist: Ich selbst bin gemeint, ich bin der «Mann» oder die Frau, nach deren «eigener Lebensbahn» gefragt ist. Ich selber darf und soll nach ihr fragen. Das blosse «man» könnte ja doch wieder der Mensch im Allgemei­nen sein, über dessen Lebensbahn ich das Tiefste und Schönste denken und wissen könnte, ohne dass dabei mehr als eine grosse schillernde Seifenblase herauskäme.

Dass nun Einer seine eigene Lebens­bahn und also die gerade ihm gewie­sene Richtung seines Denkens und Handelns «findet», scheint vor­auszusetzen, dass er sie gesucht hat oder, wenn er das noch nicht getan hat, suchen sollte. Aber geht es uns nicht auch sonst gelegentlich so, dass wir gerade Wichtigstes und Kost­barstes finden dürfen, ohne es ge­sucht zu haben? «Ich ging im Walde so für mich hin und nichts zu suchen, das war mein Sinn…» Und ist es umgekehrt nicht oft genug so, dass wir darum nichts finden, weil wir all­zu eifrig nach irgend etwas meinten suchen zu müssen? Und wenn es nun vielleicht gerade mit der eigenen Le­bensbahn, jedenfalls mit ihren be­deutsamsten Strecken so sein sollte, dass sie sich nur eben plötzlich vor uns auftun und dann zu begehen und insofern ungesucht nur eben zu finden wären?

Das ist sicher, und das gilt gerade von der eigenen Lebensbahn: wir können weder suchen noch finden, was nicht vorher schon da und dann erst, nachträglich, von uns zu suchen oder auch ungesucht einfach zu fin­den ist. Ich kann meine eigene Le­bensbahn, ob sie nun die Gestalt eines gefährlichen Gemsjägerpfades oder die einer von Bogenlampen beleuch­teten Ausfallstrasse habe, weder im Ganzen noch in ihren Einzelheiten selber planen und bauen. Ich kann sie — ich kann jeweils wieder eine näch­ste Strecke meines Weges nur (ob ge­sucht oder ungesucht) als schon ge­plant und gebaut vor mir erblicken und dann eben in Gottes Namen be­gehen. Darum «in Gottes Namen», weil sie, indem, ja bevor ich zu leben begann, von Gott für mich geplant und gebaut ist und weil ich selbst, weil gerade ich von ihm dazu er­wählt und bestimmt bin, sie als meine eigene Lebensbahn zu begehen. Man kann es auch so sagen: Gott hat sie (er jedenfalls brauchte sie nicht erst zu suchen) für mich gefunden. Und wieder Gott hat mich (und das von Ewigkeit her) für sie, als den rechten Mann, die rechte Frau zum Begehen gerade dieser Lebensbahn gefunden. Daraufhin darf und soll ich es mit grösster Gewissheit wagen, sie zu be­gehen.

Aber eben: Wie finde ich sie, um das zu wagen, und zuweilen mit solcher grössten Gewissheit wagen zu dürfen und zu können? Das ist nun auch sicher: nicht ohne den, der sie für mich und mich für sie bestimmt hat. Hier gilt es aufzupassen: eine ohne ihn ge­suchte und gefundene, gar eine von uns selbst geplante und gebaute Le­bensbahn ist sicher nicht meine eigene, nicht der Weg, auf dem ge­rade ich mit meinen Füssen feste Tritte zu tun und zu meinem Ziel zu gelangen hoffen darf. Nicht ohne ihn — und also nur mit ihm. «Mit Gott» — das heisst aber: in der klaren zuversichtlichen Erkenntnis, dass Gott gerade mich gefunden, nämlich sein Kind zu sein mich bestimmt, zu sei­nem Dienst mich erwählt und frei gemacht hat — und in dem aufrich­tigen Begehren, diesen Dienst zu tun und in diesem Dienst Gottes freier Mensch zu sein, von Tag zu Tag neu zu werden. In dieser Erkenntnis und in diesem Begehren und so als einer, der gefunden hat, dass Gott ihn ge­funden, erblicke ich dann auch meine eigene Lebensbahn — immer wieder ein Stück oder Stücklein weit —, und an dem fröhlichen Mut, sie zu be­gehen, kann und wird es mir dann auch nicht fehlen.

Hier, wenn es um das entscheidende «mit Gott» geht, hat nun auch das Suchen seinen rechten, notwendi­gen Ort und Sinn. «Suchet Ihn, so werdet ihr leben!» hat einer der alten Propheten gerufen: er meinte Ihn, den Gott, der Israel zu seinem Volk und zu seinem Dienst bestimmt hatte. Eben als der, der mich von Ewigkeit her gefunden, will er von mir gesucht sein. Nicht meine eigene Lebensbahn, aber Er, der sie für mich geplant und gebaut, der mich für sie bestimmt hat! Dass er sie mir zeigt, darum brauche ich mich nicht zu sorgen. Es versteht sich aber nie von selbst, dass meine Ohren und Augen für ihn offen sind, dass er also für mich der ist, der Er ist, so dass ich dessen, was Er mir unfehlbar zeigt, gewahr werden kann. Dass ich, dass mein Herz für ihn offen sei, das will täglich von ihm erbeten, bei ihm gesucht, durch Anklopfen bei ihm aus seiner eigenen Hand erlangt sein. Alle Irrtümer hinsichtlich unse­rer eigenen Lebensbahnen kommen, menschlich geredet, aus der Unterlas­sung dieses Bittens, Suchens, Anklop­fens, alle Weisheit in ihrer Entdeckung daraus, dass wir in ihm nicht müde werden.

Wir sind aber auch in diesem Bitten, Suchen und Anklopfen nicht uns selbst überlassen, nicht etwa auf die Anstrengung, Tiefe und Kraft unseres «Näher mein Gott zu dir!» angewie­sen. Es geht schlicht um das Hören seines Wortes, das er uns nicht ver­schwiegen hat, keinem von uns ver­schweigt. Es ist lebendig mitten unter Bitten und Empfangen, Suchen und Finden, Anklopfen und Aufgetanbekommen sind, indem wir sein Wort hören, Eines. Und wieder indem wir es und in ihm ihn selbst hören, zeigt es uns auch unsere eigene, zeigt es je mir meine, je dir deine Lebens­bahn, ist es deines und meines Fusses Leuchte, das Licht auf deinem und meinem Pfade.

So auch in dem nun anhebenden Jahr 1958. Wir wissen nicht, wie unsere Le­bensbahn in diesem Jahr aussehen wird. Es könnte für mich oder für dich deren letzte Strecke sein. Sie wird aber, indem wir auch in ihm Gottes Wort hören und also mit Gott leben dürfen, auf alle Fälle keine Todesbahn, sondern hell und also gangbar sein. Ein Jahr des Herrn und darum ein Jahr des Heils ist dann auch mit diesem neuen Jahr für uns angebrochen. «Jesu, geh voran, auf der Lebensbahn!»

Quelle: Kirchenbote für die reformierten Landeskirchen der Kantone Glarus und Schaffhausen, 52. Jahrgang, Nr. 1, Januar 1958, S. 1-2.

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