Odo Casel, Das Mysterium der Menschwerdung: „Dringen wir gehorsam durch das Halbdunkel des Glaubens vor, dann erschließt sich uns schon jetzt das Licht Gottes. Dann erkennen wir in diesem mit Elend geschlagenen Menschen, dem Kinde von Bethlehem, dem Gekreuzigten von Golgotha, den König der Herrlichkeit, das göttliche Licht der Weisheit, die die Welt besiegende Macht Gottes.“

Das Mysterium der Menschwerdung

Von Odo Casel

Weihnachten ist nicht ein Fest edler Menschlichkeit, nicht eine Hingabe an Kindheitserinnerungen und süße Gefühle beglückender Menschenliebe, nicht einmal das Fest des »Jesuskindes«, das von dem Schoße einer holdseligen Mutter uns entgegenlächelt und uns von der Liebe des guten Gottes berichtet – es ist unendlich mehr. Es ist die lebendige und erschütternde Gegenwart Gottes unter den Menschen. Die ewige Majestät des unendlichen Gottes, vor dem die Kreatur in ihrem Nichts zittert und bebt, den nie ein Menschenauge gesehen hat noch sehen kann, der durch eine Unendlichkeit von uns getrennt ist – und nach dem sich die Kreatur mit allen Fasern geistigen Begehrens sehnt – sie ist unter uns gegenwärtig; sie läßt uns ihr Antlitz schauen, und wir erkennen in dem Antlitz des Herrn und Königs die Züge des Vaters.

An Weihnachten erfüllt sich, was die Menschheit von jeher ersehnt hat und was sie aus eigener Kraft nie auch nur zu hoffen wagte. Die ganze Menschheitsgeschichte ist nur ein Dürsten nach dem Antlitze des Vaters, ein Ruhenwollen im Urgrunde und letzten Ziele. Moses fleht zum Herrn: »Laß mich deine Herrlichkeit schauen« (Ex 33,18). Aber der Herr läßt ihn sein Angesicht nicht sehen; nur ein Schimmer der Rückseite des Herrn trifft seine Augen, nachdem dieser vorbeigezogen ist; und schon dies erfüllt den Seher mit grenzenloser Beseligung. Die Psalmen rufen: »Höre, du Hirte Israels, der du wie eine Herde Joseph leitest und über den Cherubim thronst. Erscheine! Entfalte deine Macht, komme zu unserem Heile! Zeige uns dein Antlitz; dann sind wir gerettet« (Ps 79,1ff.). Die Propheten verheißen die Gegenwart des Herrn; sie rufen der sich sehnenden Gemeinde zu:

»Erhebe dich, werde licht!
Dein Licht ist gekommen.
Die Herrlichkeit des Herrn geht über dir auf.
Finsternis bedecket die Erde,
und Wolkendunkel lagert über den Völkern.
Über dir aber geht auf der Herr
und strahlt seine Herrlichkeit. –
Die Sonne ist nicht mehr dein Tageslicht,
der Mond braucht dir nicht mehr zu leuchten.
Ewiges Licht ist dir der Herr,
Strahlenglanz dein Gott«
(Jes 60,11.19).

Aber nicht nur die von Gottes vorbereitender Offenba­rung Erleuchteten, auch die Heiden rufen nach der Gegen­wart ihrer Götter und damit im Grunde des wahren Gottes, den sie hinter dem Wust ihrer Götzen heimlich ersehnen. Ja hier nimmt die geträumte Erfüllung der Sehnsucht Formen an, die der strenge Semit mit seiner Trennung von Gott und Welt nicht kannte und die vor der Menschwerdung Gottes auch nicht wahr sein konnten. Hier rufen die Lieder und die geheimen Riten der Mysterien nach der Epiphanie, das heißt nach der sicht- und fühlbaren, lichtvollen, heilbrin­genden Ankunft des Gottes. »Komm, du Held Dionysos, in deinen heiligen Tempel!« »Siehst du dies, du Sohn des Zeus, Dionysos, wie deine Propheten in Not sind? Komm, goldenen Antlitzes, schwingend den Thyrsos, vom Olymp herab. Herr, Herrscher, komm nun hierher zu unserer geweihten Schar.« Und als der Gott den Menschen sich in gewaltiger Rettungstat zeigt, da sinken seine Gläubigen zitternd zu Boden: »Werfet zu Boden, werfet die zitternden Glieder zur Erde; denn der Herrscher, der Sohn des Zeus, zieht ein in den Palast.« Oder aber es läßt sich ein Schall vom Äther her hören, die Stimme des Gottes; ein gewaltiges Licht strahlt auf und setzt Himmel und Erde in Flammen; die ganze Natur aber schweigt, die Blätter der Bäume lassen ihr Rauschen und Lispeln, die Tiere verstummen vor der Gegenwart der Gottheit. Es waren Traumwünsche dessen, was in ganz anderer Art einst Wirklichkeit werden sollte.

Als Gott die Sehnsucht der Völker erfüllte und als er die Verheißungen seiner eigenen Propheten zur Tat werden ließ, da war es ganz anders, als die Menschen es sich gedacht hatten. Gottes Gedanken sind ja immer ganz anders als Menschensinnen. Sie bleiben zunächst scheinbar dahinter zurück, in der Tat aber übertreffen sie sie um Himmels­länge. Gott kam als Mensch und offenbarte seine Men­schenliebe im Antlitz eines Menschen, zunächst eines Kin­des. Er kam nicht in schrecklicher Majestät, in weltüberflu­tendem Licht, in offenbarer Macht und Herrlichkeit. Er kam in Schwäche und Ohnmacht, ja in Verachtung und Verlassenheit. Er kam verborgen, er kam nicht, um seine Allmacht zu offenbaren, auch nicht, um Weisheit aufleuch­ten zu lassen, nicht, um die Bösen zu richten und der Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen und damit ein Gottes­reich in der Welt aufzurichten. Nein, er kam, um die göttliche Agape, das heißt, die sich selbst verschenkende Liebe, wie sie nur in Gott ist, zu offenbaren. Das ist die höchste Mysterienweisheit des Christentums: Gott ist Agape, und diese Agape ist uns aufgeleuchtet im Antlitz eines Menschen, des gütigsten, selbstlosesten, liebevollsten, opferbereitesten aller Menschen.

Ist also doch das Weihnachtsmysterium eine Offenba­rung edelster Menschlichkeit, der »Phil­anthrophie«, von der der Apostel (Tit 3,4) spricht? Ist also Weihnachten nicht doch die Selbstfeier des Menschen, der seine edelsten Güter in dem Kinde in der Krippe personifiziert sieht?

Nein, das heißt Weihnachten ganz und gar mißverstehen. Das heißt, dieses erhabene Mysterium auf die Erde herab­ziehen und den Menschen vergöttern. Die Selbstvergötte­rung der Menschheit aber ist in unseren Tagen furchtbar gescheitert. Der »gute« Mensch, seit der Renaissance und Aufklärung großgezogen und verhätschelt, hat sein Raub­tiergesicht nur allzu deutlich enthüllt. Wie sollten wir erlöst sein von dem Fluche der Welt, wenn Weihnachten eben doch nur ein Fest der Humanität wäre?

Nein, dieses Kind, dieser Mensch, aus dessen Antlitz uns die Güte Gottes entgegenleuchtet, ist Gott. Der dem Vater gleichwesentliche Sohn, »der Logos, wurde Fleisch und zeltete unter uns, und wir schauten seine Herrlichkeit« (Joh 1,14). Der Gottmensch ist die höchste Offenbarung Got­tes. »Gott hat nie jemand gesehen; Eingeborener Gott, der im Schoße des Vaters ist, er hat Kunde gebracht« (so der echte Text 1,18). Nur der Glaube an die Gottheit dieses Menschen, der in der Heiligen Nacht vom Weibe geboren wurde, gibt uns Erlösung, läßt uns das ersehnte Antlitz des Vaters schauen.

»Wer mich sieht, sieht den Vater« (Joh 14,9). Christus der Gottmensch ist das Ursymbol, das Urmysterium. Wah­res Symbol ist dort, wo wir durch das Bild hindurch die Wirklichkeit sehen und besitzen. Wahres Mysterium ist dort, wo wir im heiligen Sinnbilde und Wort die Urwirk­lichkeit ergreifen. So ist es mit dem Herrn Jesus Christus. »Gott, der (bei der Schöpfung) sprach: Aus Finsternis wird Licht aufleuchten, er leuchtete in unseren Herzen auf zur lichtvollen Erkenntnisschau der Herrlichkeit Gottes im Antlitze Christi« (2 Kor 4,6).

Doch noch ist dieses Schauen ein Schauen im Glauben. Das irdische Auge, auch das des Geistes, sieht nur die Schwäche und Ohnmacht Christi und seiner auserwählten Schar, der Kirche. Noch hat sich seine und ihre Herrlichkeit nicht offen gezeigt. Denn wir wandeln noch in der Welt der Sünde. Die Welt, die sich stolz von Gott abwendet, darf und kann nicht das unendlich reine Antlitz Gottes sehen; sie würde daran sterben und vergehen, wie Wachs vor dem Feuer schmilzt. Deshalb hat Gott sein Antlitz erbarmend und richtend zugleich verborgen. Bei seiner ersten Ankunft hat er das Fleisch der Sünde angenommen, unter dem die Gottheit sich barg und nur zuweilen glühende Funken hervorsprühen ließ. So tat er, um sich als Opfer für die Sünde in den Tod geben zu können. Wir müssen ihm in seine freiwillige Erniedrigung hinein folgen. Er verlangt von uns das Opfer des Glaubens, das heißt, daß wir unser eigenes Ich aufgeben, unseren Stolz brechen und uns dem göttlichen Lichte öffnen, das uns begnaden will. Die bloße Natur in ihrer Selbstsicherheit muß sterben. Dringen wir aber dann gehorsam durch das Halbdunkel des Glaubens vor, dann erschließt sich uns schon jetzt das Licht Gottes. Dann erkennen wir in diesem mit Elend geschlagenen Menschen, dem Kinde von Bethlehem, dem Gekreuzigten von Golgotha, den König der Herrlichkeit, das göttliche Licht der Weisheit, die die Welt besiegende Macht Gottes.

Wenn wir Weihnachten feiern, dann dürfen wir nicht bei der holden Krippenszene stehen bleiben, sondern müssen die ganze Gotteserscheinung betrachten. Dann offenbart sich uns das Geschehen der Heiligen Nacht in seiner übergeschichtlichen, ewigen Bedeutung als die Erscheinung Gottes in dieser Welt, als die Enthüllung seines Antlitzes, als Epiphanie. Nur der Gläubige, der Myste, hat den Blick für diese Wirklichkeit; nur er kann Weihnachten als das sehen, was es ist, Beginn und Grundlage der höchsten Gottestat, die die Welt umwandelt und zu ihrer ewigen Vollendung hinführt. Seit dieser Heiligen Nacht ist Gott in dieser Welt, und die Welt ist in Gott. Er ist da. Die Welt hat nun ihre Aufgabe. Sie geht nicht mehr in die Irre, sondern sieht den Weg zu Gott, auf dem sie sich der hohen Mysterien der Gottesweihe würdig erweisen soll.

»Der Herr ist in seinem heiligen Tempel« (Ps 10,5). Der Tempel des im Fleische erschienenen Gottes sind die gläubi­gen Seelen, ist die Gemeinschaft der von seiner Gegenwart Ergriffenen: die Kirche. In ihr wohnt der Herr durch seine pneumatische, das heißt über jede irdische Seinsweise erha­bene, göttliche und daher uns zur Teilnahme an dem Sein Gottes erhebende Gegenwart. In ihr ist er tätig, heilend, lehrend, stärkend, erleuchtend, beseligend. Diese Tätigkeit aber hat er vor allem an seine Mysterien gebunden, die wir im Gottesdienste begehen.

Denn der Herr wollte nicht bloß einmal in der Geschichte bei uns zelten und dann sich wieder von uns entfernen und nur aus der Höhe uns weiter regieren. Nein, er sprach: »Ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung dieser Zeitlich­keit« (Mt 28, 20). Deshalb wirkt er beständig in unserer Mitte durch sein Pneuma, das heißt durch seine ganz reale Gotteskraft, die vom Verklärten uns zuströmt. Diese seine Gegenwart aber bestätigt er uns und macht er uns geradezu greif- und fühlbar durch äußere, sinnenhaft erkennbare Zeichen, durch heilige Symbole, insbesondere die Sakra­mente, die nicht nur erziehend auf seinen Heilswillen hinweisen, auch nicht bloß seine Kraft uns aus der Ferne vermitteln, sondern seine wirkende Gegenwart unmittelbar enthalten und uns mitten in das von dieser ausgehende Heil hineinstellen. Wie er selbst als Gott und Mensch das Ursymbol ist, so daß wir in dem Menschen Jesus den Vater schauen, ebenso besitzen wir in dem von seiner Kraft und Gegenwart erfüllten Symbol ihn selbst mit seiner Kraft und seiner Heilstat, die dadurch in der Kirche durch die Jahr­hunderte hin fortwirkt, stets neues Leben weckend und vollendend. Wir stehen in nichts hinter den Zeitgenossen Jesu zurück. Nein, die Menschwerdung, sein Opfer, seine Erhöhung sind uns im Glauben und der Glaubensschau durch die Mysterien unmittelbar zugänglich und gegenwär­tig. Wenn wir die heiligen Mysterien Christi mitfeiern, als wahrhaft Gläubige, als Mysten, als Mittätige – und dieses Mittun steht jedem Gläubigen offen, da er durch Taufe und Firmung lebendiges Glied am pneumatischen Leibe Christi ist -, dann stehen wir mitten drin im Heilswerke des Herrn und werden deshalb von ihm ergriffen und umgestaltet. Wir treten durch das kirchliche Mysterium in die unmittelbare, lebendigste Gegenwart des Urmysteriums, das heißt der Gottesoffenbarung und Heilstat, ein. Sie erscheint uns jetzt nicht in ihrem historischen Ablauf; hat sie sich doch von Anfang an nicht in geschichtlichen Tatsachen erschöpft, sondern sich in übergeschichtlicher Wirklichkeit vollendet. Denn die Erhöhung des Herrn, sein Eintritt in das himmli­sche Heiligtum, sein Thronen zur Rechten des Vaters ist nichts Geschichtliches mehr, sondern übergeschichtliche Realität. Im Mysterium aber erblicken wir die ganze Heils­tat des Herrn, die im hellen Licht der Geschichte begonnen und im unzugänglichen Lichte der Ewigkeit Gottes sich vollendet hat, in eben diesem Ewigkeitslichte Gottes. Die Geburt des Kindes von Bethlehem ist nunmehr das Hervor­treten des Logos, des Sohnes Gottes, aus der Ewigkeit des Vaters und der ewigen Ruhe der Trinität in diese Zeitlich­keit unserer Schöpfung, damit diese zum Sein in Gott zurückgeführt werde. Christi Tod am Kreuze ist nicht mehr das Sterben eines Gerichteten, sondern sein Ganzopfer zur Erlösung der Menschheit, seine Rückkehr als Vollendeter und als Vollender der Kirche zum Vater. Seine Auferste­hung, damals nur wenigen Auserwählten bekannt, wird uns nun in der Glaubensschau kund und offenbar; wir sehen nun mit dem Auge des Glaubens den Erhöhten zur Rechten des Vaters. Ja wir besitzen im Glauben schon, was sich geschichtlich noch nicht erfüllt hat, seine glorreiche Wie­derkunft zur Vollendung der Welt und damit die volle Gottesherrschaft. So sind wir durch das Mysterium in die ganze Fülle der Heilandswirklichkeit hineingetaucht, in die Kraft seiner Menschwerdung, in das heilende Blut seines Opfers, in die verklärende Glorie seiner Auferstehung. Da­durch werden wir hineingezogen in das innerste Leben Christi, in die Teilnahme an seiner Macht, seiner Weisheit, seinem Pneuma, werden dadurch sein Leib, der sein Leben mitlebt, werden dadurch vergöttlicht und so zu wahren Menschen Gottes erhöht. Wir erhalten die Kraft, in dem Leben dieser Zeitlichkeit mit seiner Not und seinem Elend, mit der Verfolgung des Guten und dem Triumph des Bösen, in den Schmerzen der Krankheit und des Todes auszuhal­ten, weil wir ja mit unserem höheren Sein in einer ganz anderen Art Leben drinstehen, im Leben Christi.

Wenn wir die Heilige Nacht so mit der Mutter Kirche begehen, dann feiern wir wahrhaft Weihnacht, das heißt geweihte Nacht, heilige Mutternacht, in der die Erde vergeht und das göttliche, nie aufhörende Leben uns gebo­ren wird. Maria, die jungfräuliche Mutter, ist uns dann das Symbol der heiligen Jungfrau-Mutter Kirche, die uns das wahre Leben schenkt. Jesus ist uns das Kind, nach dessen Urbild wir alle aus Gott geboren werden und in dem wir heranwachsen zum Vollalter Christi. In dem heiligen Mysterienwort, von dem die Kirche in dieser Nacht mit dem Propheten sagt, daß es »bleibt in Ewigkeit« (Jes 40,9), in der heiligen Mysterienhandlung des Opfers und Opfermahles, wird uns all das zum beseligenden Besitz, was die Gnade Gottes uns als Weihnachtsgabe geben will, und alles zusammengefaßt in dem Wort: »Siehe, ich hin da

Quelle: Odo Casel, Das christliche Festmysterium, Paderborn: Bonifacius, 1941, S. 7-15.

Hier der Text als pdf.

Hinterlasse einen Kommentar