Alfred Delps Weihnachtsmeditation (1944, Haftanstalt Berlin-Tegel): „Den Lasten Gottes soll man nicht ausweichen. Sie sind zugleich der Weg in den Segen Gottes. Und wer dem herben und harten Leben die Treue hält, dem werden die inneren Brunnen der Wirklichkeit entsiegelt und ihm ist die Welt in ganz anderem Sinn nicht stumm, als er ahnen konnte. Die Silberfäden des Gottesgeheimnisses alles Wirklichen fangen an zu glänzen und zu singen. Die Last ist gesegnet, weil sie als Last Gottes anerkannt und getragen wurde.“

Laßt uns dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt

Von Alfred Delp

Es ist die unbegreifliche Tatsache der Eingeschichtlichung Gottes. Daß er in unser Gesetz, in unsere Räume, in unsere Existenz eintritt: nicht nur wie, sondern als einer von uns. Das ist das Erregende und Unfaßliche dieses Geschehens.

Die Geschichte wird nun auch zur Daseinsweise des Sohnes, das geschichtliche Schicksal sein Schicksal. Er ist auf unseren Straßen anzutreffen. In den dunkelsten Kellern und einsamsten Kerkern des Lebens werden wir ihn treffen. Und das ist schon die erste Segnung und Weihung der Last, daß er unter ihr anzutreffen ist. Und damit zugleich die zweite: alle, die den gleichen Lastballen schleppen, spüren es, wenn eine neue mächtige Schulter sich unter ihn schiebt und mitträgt. Und die dritte sei zugleich mitgesagt: seit der Heiligen Nacht ist das gottmenschliche Leben die Urform des Daseins, nach der alles Leben von Gott gebildet wird, das sich dieser Bildung nicht widersetzt. Die Kraft zur Meisterung des Lebens wächst durch den Einstrom des göttlichen Lebens in die menschliche Daseins- und Schicksalsgemeinschaft, zu der sich Christus bekannt hat.

Wir sind dem Leben mehr gewachsen, lebenstüchtiger und lebenskundiger, wenn wir den Weisungen dieser kommenden Nacht uns öffnen. Laßt uns wandern und fahren, laßt uns die Straßen und Schrecken des Lebens nicht scheuen und fürchten: in uns ist ein Neues geworden; und wir wollen nicht müde werden, dem Stern der Verheißungen zu glauben und den singenden Engeln ihr Gloria zuzugestehen, wenn auch manchmal unter Tränen. Es wurde doch unsere Not gewendet, weil wir ihr überlegen geworden sind. […]

Immer wieder unser Schicksal: da haben wir Verheißungen gehört und Botschaften geglaubt und Sendungen gespürt und plötzlich hängen wir allein im Schicksal. Das passiert so im Menschenleben. Auch im Christenleben? Sollte es nicht gerade da ganz anders sein und ganz selten? Aber es ist so.

Und gerade dies sind die Entscheidungsstunden für den Wert und Unwert unseres gläubigen Daseins. Wider das Zeugnis der Steine, an die unser Fuß gestoßen, wider das Zeugnis der Geißeln, die uns blutig geschlagen, wider das Zeugnis der Ketten, die uns binden, im Wort bleiben, unerschüttert und unermüdet stehen bleiben: das ist die große Antwort, die ein Mensch Gott geben kann. Und nach der Gott jeden Menschen fragen wird. Jeden. Es wird keinem geschenkt, der wach und erwachsen vor Gott dem Herrn gelten soll.

Hundertfältig stellt Gott heute diese Fragen. Daß wir fähig seien, die Antwort zu geben. Die Tugend der Unermüdlichkeit ist anstrengend. Aber sie erst macht den Menschen gottesfähig. Und öffnet ihm auch die Augen für die eigentliche Wirklichkeit Gottes.

Und wo dies vom Menschen ehrlich versucht wird, da gewinnt die Welt ein neues Gesicht. Die starren Züge innerweltlicher Kausalität, logischer Verknüpfung und Notwendigkeit lösen sich. Das Antlitz der Welt und des Lebens wird mütterlicher und väterlicher. Es beginnt jenes Geheimnis der hundert und hundert kleinen Aufmerksamkeiten, mit dem Gott den Menschen umsorgt. Die Dinge und Zusammenhänge bleiben in ihrem Lauf und in ihrer Sicherheit, und doch geschieht in ihnen und ihrer leisen Abstimmung zu einem neuen Ergebnis die väterliche Sorge, die Gott denen zuwendet, die seinen Fragen gewachsen waren. Der Mensch erfährt auf einmal, daß der Lauf der Welt nicht mehr seinen universalen Anblick hat und seine allgemeine Gleichgültigkeit, sondern daß die Dinge mehrdeutig und mehrwertig sind. Im persönlichen Dialog zwischen Gott und dem Menschen, der Höchstform menschlichen Lebens, haben die Ereignisse einen ganz anderen Stellenwert als im allgemeinen Geschehen. Und beides geschieht zu recht: daß der eine nur eine banale Alltäglichkeit bemerkt und dem andern das gleiche Geschehen ein Zeichen der Erbarmnis und der Führung ist.

Und hier sind wir auf der Höhe angekommen, auf der das respirare, das Aufatmen nun doch geschieht und geschehen darf und geschehen soll. Die Welt ist in ihrem Lauf geblieben, aber sie ist zur Barke des Herrgotts geworden, die kein Sturm umwerfen, keine Flut hinabreißen wird. Das Leben ist in seinen Gesetzen und Spannungen geblieben. Der Herrgott hat sich diesen Spannungen untergeordnet und eingeordnet. Er trägt sie mit und erhöht das Kraft- und Tüchtigkeitspotential der ganzen Menschheit.

Als letztes aber: der Mensch ist nicht mehr allein. Der Monolog war nie die gesunde und glückhafte Lebensform des Menschen. Der Mensch lebt nur echt und gesund im Dialog. Alle diese Mono-Tendenzen sind vom Übel. Aber daß das Bestehen der Spannungen des Daseins und der Lasten Gottes den Menschen nun in den Dialog mit Gott beruft, das überwindet die schrecklichste menschliche Krankheit: die Einsamkeit, endgültig und wirklich. Es gibt nun keine Nächte mehr ohne Licht, keine Gefängniszellen ohne echtes Gespräch, keine einsamen Bergpfade und gefährlichen Schluchtwege ohne Begleitung und Führung.

Gott ist mit uns: so war es verheißen, so haben wir geweint und gefleht. Und so ist es seinsmäßig und lebensmäßig wirklich geworden: ganz anders, viel erfüllter und zugleich viel einfacher als wir meinten.

Den Lasten Gottes soll man nicht ausweichen. Sie sind zugleich der Weg in den Segen Gottes. Und wer dem herben und harten Leben die Treue hält, dem werden die inneren Brunnen der Wirklichkeit entsiegelt und ihm ist die Welt in ganz anderem Sinn nicht stumm, als er ahnen konnte. Die Silberfäden des Gottesgeheimnisses alles Wirklichen fangen an zu glänzen und zu singen. Die Last ist gesegnet, weil sie als Last Gottes anerkannt und getragen wurde.

Gott wird Mensch. Der Mensch nicht Gott. Die Menschenordnung bleibt und bleibt verpflichtend. Aber sie ist geweiht. Und der Mensch ist mehr und mächtiger geworden. Laßt uns dem Leben trauen, weil diese Nacht das Licht bringen mußte. Laßt uns dem Leben trauen, weil wir es nicht allein zu leben haben, sondern Gott es mit uns lebt.

Weihnachtsmeditation [1944]

Hier der Text als pdf.

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