Christoph Blumhardt, Morgenandacht zum Magnifikat (1898): „Der Herr Jesus geht nicht den Weg der Hoheit in dieser Welt, nicht den Weg des Selbstruhms und des Stolzes. Nicht mit Kunst und mit äußerlichem Wesen wird Er Sein Königreich aufrichten, sondern auf dem Boden der Wahrheit, auf dem Boden der Niedrigkeit, da wir Menschen sind, wie wir sind, und nichts Gesteigertes, nichts Gemachtes und nichts Gekünsteltes mehr an uns ist, denn das braucht die Welt: freie ungekün­stelte Menschen.“

Morgenandacht zu Lukas 1,43

Von Christoph Blumhardt

Er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. (Lukas 1,43)

Das ist aus dem Lobgesang der Maria; die gehörte auch zu den Niedrigen und zu den Geringen, nämlich zu den Niedrigen im Blick auf das, was die Welt fordert, die nichts Großartiges in Darstellung wollen. Eigentlich niedrig sind sie nicht, ein Abra­ham ist nicht eigentlich niedrig, er ist im Gegenteil eine Majestät, aber seine Maje­stät kommt von Gott; er braucht nicht zu heucheln; wo er geht und steht und wie er geht und steht, ist er eine Majestät. Auch ein David, schon ein Mose, kurz die Männer Gottes: einerseits sind sic niedrig, insofern als sie die äußerlichen Mittel nicht haben, die Schminke haben sie nicht; aber andererseits sind sie gerade deswegen von Gott angesehen und werden eine Majestät, und in dieser göttlichen Majestät können sie ihre Aufgabe vollbringen. Müssten die Leute Got­tes auch für das Äußerliche sorgen, dann brächten sie es wohl nicht durch, denn es wird doch sehr Wunderliches von einem gefordert. Von Mose wird gefordert, dass er ein Schäfer wird 40 Jahre lang, — da komme einer nicht herunter, — und von den Propheten wird Vieles gefordert, namentlich immer das Absehen von allem, was zum äußeren Glanz gehört. Von David wird verlangt, 7 Jahre in der Fremde herumzufahren wie ein Räuberhauptmann, und von der Maria wird auch viel gefordert. Wenn jetzt diese Leute Gottes sich müssten um das Äußere bekümmern, dann kämen sie nicht durch; aber sie bleiben Angehörige Gottes mit Leib und Seele und um das Übrige dürfen sie sich nicht kümmern; dann scheinen sie immer unmögliche Wege zu gehen, vor Menschen unmögliche Wege oder ganz blamable Wege. Aber der liebe Gott sorgt für sie, dass sie ihre Würde behalten, d. h. Er sieht die Niedrigkeit Seiner Magd an; die Maria behält ihre Würde, ob ihr Beruf auch noch so außerordentlich ist. So behalten alle Prophe­ten und alle Apostel ihre Würde: «Du bist niedrig», oder wie der Heiland sagt: «Ihr seid unnütze Knechte, aber euch will ich das Reich Gottes bescheiden, ihr sollt sitzen auf dem Stuhl, und Könige und Priester werden.» Das ist uns nun zum Vorbild, und soll jedem eine Mahnung sein. Was uns in der Arbeit für das Reich Gottes am meisten aufhalten kann, ist, dass wir so viel um unser selbst willen, um unserer Stellung willen, um unseres Ansehens willen überlegen; und doch geht es immer durch Niedrigkeit durch. Vergleicht man sich mit an­dern, so kommt man sich sonderbar vor, man bekommt nicht das Ansehen in der gleichen Weise und auf dem gleichen Wege. Im Gegenteil, es ist immer, wie wenn Räuber hinter einem wären, die einem alles Besondere rauben würden. Wenn man denkt: weil es mir nicht geht wie anderen Leuten, weil ich nicht so fröhlich sein kann, weil ich nicht so stolz sein kann, weil ich nicht so viel Freude haben kann wie andere, nicht so berühmt werden kann wie andere, so kann am Ende der liebe Gott mich nicht brauchen, dann ist man verloren. Sehr viel Schwermut kommt davon her, und auch sehr viel Verstimmung in den Krei­sen derer, die für das Reich Gottes schaffen wollen, sehr viel Ungemütlichkeit, weil die Leute über sich nachdenken Will sie der liebe Gott brauchen, dann müssen sie durch eine Niedrigkeit durch und diese Niedrigkeit ist ihnen ent­setzlich, aber dann sind sie keine Maria. Wer das nicht vertragen kann, der soll nur von der Arbeit Gottes weg bleiben; wenn einer meint, es gehe nur so gerade mit seiner Persönlichkeit durch, der täuscht sich. Denket nur, wie die Men­schen durchkommen in der menschlichen Gesellschaft; wie kommt man denn durch in einem Salon? Da geht es auch nicht von selber, da muss man eine ganze Masse Mitteichen anwenden, damit die Leute einen loben, man muss immer Kunstmittel anwenden, und muss sich schrecklich viel Mühe geben, um in der Gesellschaft hoch zu bleiben. Man ist schnell im Geschwätz, es geht gar nicht von selber; da sind wir doch glückliche Leute, dass wir uns um diese Sachen nicht zu kümmern brauchen, dass wir ganz einfach sein dürfen, wie wir sind, nur treu zum lieben Gott, und uns um das Übrige gar nicht kümmern; für unser Ansehen, für unsere Stellung sorgt der liebe Gott. Sobald wir dafür sorgen, kön­nen wir nicht mehr recht arbeiten. Ich sehe es bei viel edlen Menschen; es gibt Menschen, die wären oft so tüchtig, aber sie denken immer an ihre Ehre, und es kränkt sie immer, wenn sie nach ihrer Meinung durch die Niedrigkeit durch müssen. Und doch ist die Niedrigkeit die Wahrheit, und all das Ehre suchen bei Menschen ist gar nicht wahr; darum müssen wir uns gefasst machen, in diese Niedrigkeit allezeit herein zu kommen, damit die Majestät Gottes uns bekleiden kann. Dessen bedürfen wir allerdings auch, dass Gott die Niedrigen ansieht; so darf es nicht fortgehen wie gegenwärtig, dass fast jedermann lacht, wenn er die Christen sieht; dass diese Schmach auf den Christen liegt, soll nicht so fortgehen. Das ist ein ungeheurer Schade für das Reich Gottes, dass es so ist, wie es Goethe einmal gesagt hat: die schlechteste Empfehlung für das Christentum sind die Christen; aber es kommt eben bloß davon her, dass soviele Christen ihre eigene Ehre suchen und sich selber zur Hoheit und zur Würde in dieser Welt bringen wollen, dass sie glauben, sie tun dem lieben Gott einen Dienst, wenn sie sich groß machen. Das ist der ganze Grund, weswegen so viel Schmach gerade auch auf den gläubigen Christen ruht, und da ist ein großer Schade. Aber das wird anders: wo sich die rechten Leute finden, die sich das Niedrige gefallen lassen, da dreht es sich, und das Hohe und Majestätische, das Wahre und Gute, das Wirksame Gottes kommt an den Niedrigen ans Licht, so dass es auch andere Leute spüren dürfen, und dann sind wir auch in Freude gestellt, so dass kein Niedriges klagen muss und sich in Trauer finden muss, weil es ihm nicht geht wie es recht ist, sondern es kommt alles, das Übrige wird ihm Zufällen.

Dieser Weg des Heilandes ist der Siegesweg, und den müssen wir gehen; aber es kostet allerdings oft viel Mühe, Selbstüberwindung und Verleugnung, weil die ganze Welt einen anders beeinflussen möchte. Da soll es immer hinauf gehen und immer in der Höhe laufen und immer in der Ehre; und sobald es von der Ehre ein wenig weg geht, dann scheint es, als ob es nicht mehr gehen könnte. Darum handelt es sich immer wieder in der Nachfolge des Heilandes um den er­sten Satz: dass man sich selbst verleugnen kann, und auch sein eigen Leben nicht schätzen kann, damit man auf dem Weg vorwärts geht, den allein der Heiland geht; denn dessen dürfen wir ganz versichert sein: der Herr Jesus geht nicht den Weg der Hoheit in dieser Welt, nicht den Weg des Selbstruhms und des Stolzes. Nicht mit Kunst und mit äußerlichem Wesen wird Er Sein Königreich aufrichten, sondern auf dem Boden der Wahrheit, auf dem Boden der Niedrigkeit, da wir Menschen sind, wie wir sind, und nichts Gesteigertes, nichts Gemachtes und nichts Gekünsteltes mehr an uns ist, denn das braucht die Welt: freie ungekün­stelte Menschen. Man braucht kein äußerliches Herrschen und kein Hochsein, sondern was wir bedürfen in dieser Welt, ist, dass wir Menschen sein dürfen ge­rade heraus, ohne dass wir in irgendwelche menschliche Künstelei hinein kom­men; wie der Heiland geradeaus ein Mensch ist. Das bedarf die Welt, und wenn wir einmal alle miteinander uns dahin frei geben, dass Jedes das Andere gerade­aus Mensch sein lässt, dann haben wir schon viel vom Reich Gottes gewonnen. Das Niedrigsein ist oft deswegen so schwer, weil es das Eine dem Anderen nicht erlaubt; die Intrige ist maßgebend geworden, so dass ein aufrichtiger Mensch, schon deswegen, weil er aufrichtig ist, niedrig wird in den Augen anderer, man duldet es bei ihm nicht; und die Kritik ist gleich da, sobald Eines recht natür­lich und ungekünstelt ist. Und doch, sieht man genau zu, so hat jeder Mensch das Verlangen, recht natürlich sein zu dürfen und recht ungekünstelt, wie es das Herz gibt. Dazu wolle es der liebe Gott führen, denn Seine Sache braucht eine ganz natürliche Gesinnung. Man muss sich auch in acht nehmen, zu viel mit menschlichem Wissen und Verstand und Wissenschaft an göttliche Dinge zu kom­men; göttliche Sachen müssen herzlich angenommen werden, ohne dass man es sich viel überlegt. Gott muss herzlich in dein Herz hinein, lass Ihn herzlich hinein, und lass deine Gedanken weg. Der Heiland will mit deinem Herzen zu tun haben, und wenn du willst Gaben bekommen von Gott, so darfst du es dir nicht selber ausdenken, wie es gehen soll und in welcher Weise sie wirken sollen, wie du mit diesen Gaben etwas willst ausrichten, sondern du musst sein wie ein Kind, und der liebe Gott sorgt, dass, was Er dir gibt, in der rechten Weise wirkt, und dass du gerade unter Gott der ungezwungenste, freiste, natürlichste Mensch werden kannst.

So ist es, wenn uns der liebe Gott ansieht. Ihr wisst wohl, wie zerdrückt und wie verkümmert die meisten Menschen sind. Sieht man von den Jüngern, Apo­steln und Propheten ab, deren Niedrigkeit Gott angesehen hat, so dass sie jetzt wie Sterne glänzen dürfen in der menschlichen Gesellschaft, und sieht die Leute im allgemeinen an, die Völker und die Geschlechter, so bekommt man überaus tiefes Mitleid: wie niedrig ist doch die Welt, die Menschheit geworden, und wie sind oft die edelsten Menschen in eine falsche Niedrigkeit hineingetrieben ohne Gott, von den Verhältnissen zertreten und verkümmert; da braucht es eine große Kraft, dass die Welt aus diesem Jammer und aus dieser Niedrigkeit errettet wird.

Sie kann nicht gerettet werden, außer Gott kann gewisse Menschen ansehen; je mehr der liebe Gott Seine Gemeinde und Seine Kinder ansehen kann und sie in die Höhe heben, zum Licht machen kann, desto mehr kommt es in die Welt hinein, je mehr aber die Kinder Gottes, diejenigen, die für Gott arbeiten sollen, selber zur Hoheit kommen wollen, dass es nicht lauter Gottesmajestät ist, die im Reich Gottes wirkt, desto weniger kommt es zur Errettung der Elenden und Ar­men in der Welt. Darum ist es ungemein wichtig, dass ein Mensch niedrig sein kann, lass es dich also nicht anfechten. Oft muss man auch wie sündig niedrig werden, man. muss sich unter den Sündern wie ein Sünder fühlen, nicht nur un­ter den Geringen als ein Geringer, sondern auch unter den Fehlenden wie ein Fehlender. Man kann nicht immer so in der Höhe schweben, wie wenn man keine einzige Sünde und keinen einzigen Fehler begehen würde, man muss auch in dieser Beziehung durch die Niedrigkeit hindurch, wie der Heiland selbst, der sich nicht scheute, ein Sünder zu heißen, und sich nicht scheute, unter den schlechten Leuten zu erscheinen, wenn man Ihn auch darüber schilt; Er kann sich nicht trennen von den Menschen, wie sie eben sind, so rein und so heilig Er ist. Darum können auch wir diesen Weg gehen und müssen ihn gehen; und wenn je­mand angefochten ist, als ob er ein Sünder wäre, und doch nach Gott hungert, so denke er an diese Niedrigkeit, die wir durchmachen müssen und die Gott ansieht; und wenn jemand in allerlei Unglück kommt und das allerschwerste Leid auf sich liegen hat, so denke er an die Niedrigkeit, die er dabei haben darf und die Gott ansieht. Schlagen wir um uns, wollen wir keine Sünder sein mit den Sündern, oder wenigstens nicht das Ansehen von Sündern haben mit Sün­dern, wollen wir nicht Trübsal mit den Trübseligen haben, nicht ein Unglück tragen mit den Unglücklichen, dann scheuchen wir die Niedrigkeit von uns weg, die der liebe Gott ansieht. Haben wir sie aber, dann haben wir auch Sein An­sehen, und mit diesem bringen wir es durch, und das Reich Gottes wird auf diese Weise zum Sieg kommen.

Gehalten am 26. April 1898 in Bad Boll.

Quelle: Gerhard Sauter, Die Theologie des Reiches Gottes beim älteren und jüngeren Blumhardt, Zürich-Stuttgart: Zwingli-Verlag, 1962, S. 331-334.

Hier der Text als pdf.

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