Sacra musica. Über Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium
Liebe Schüler und Schülerinnen, liebe Eltern, liebe Freunde unserer beiden Gymnasien und – ich fasse zusammen – liebe christliche Gemeinde!
Sacra musica! Gibt es das? Heilige Musik!? Müssen wir nicht ehrlich und bescheiden dem Himmel und den Seligen allein heilige Musik zugestehen und überlassen? Genügt es nicht, weltliche und geistliche Musik zu unterscheiden und je nach Zeit und Ort und Stimmung die eine oder die andere Art zu üben und aufs Ohr und Gemüt wirken zu lassen? Heilige Musikanten sind’s ja nicht, die uns heute ein Geschenk aus ihren Gaben, ihrem Üben und ihrer schönen, nun seit Jahren wachsenden Zusammenarbeit machen wollen. Und heilig war auch Johann Sebastian Bach selber nicht, dessen gewiß nicht ebenbürtige Schüler und Hörer wir heute sein dürfen. Ja, nicht einmal der fromme und geistliche Gehalt der Worte und Töne gerade dieses herrlichen Weihnachtsoratoriums macht es, daß wir nun gebend und empfangend an heiliger Musik teilhaben dürfen. Etwa zwanzig Stücke aus Werken ausgesprochen weltlicher Musik hat ja Bach in die sechs Kantaten dieses Oratoriums einfach übernommen und dazu nur die Texte umgestaltet.
Wir haben sicher nicht alle ein gleich feines Ohr für Musik und haben nicht alle ein gleich empfängliches Herz für Religion, um nun gemeinsam
zugleich von heiliger Musik erfreut und von heiliger Musik erbaut zu werden. Aber eines haben wir wohl alle gemeinsam, nämlich das, daß wir es unwidersprochen lassen: Weihnachten ist heilige Nacht! Da ist ein Wunder geschehen, das bis heute in allen Sprachen erzählt und besungen wird und das bis heute Gegenwart geblieben ist, weil es noch heute heiligend und heilend eingreift in die Sehnsüchte der Herzen und in die wechselnden Gebilde unserer Gemeinschaften.
Es ist nicht nur Bachs hohe Kunst, sondern auch Bachs tiefer Glaube, was ihn zu dem frohen Erzähler und zu dem bescheidenen Bekenner der Weihnachtsbotschaft macht. Und das ist die Heiligkeit seines schlichten Kantorenamtes und seines unermüdlichen Fleißes gewesen: einzustimmen in das himmlische »Ehre sei Gott in der Höhe!« und hier in den Grenzen menschlicher Kraft und wahrhaftig auch in den Grenzen menschlicher Leiden (darum spielt er ja das »Wie soll ich dich empfangen« nach der Melodie »O Haupt voll Blut und Wunden«!) Zeuge und Zeichen zu sein des »Soli Deo gloria«. Darum ist Sinn und Absicht dieses seines Weihnachtsoratoriums die teilnehmende Nacherzählung des Weihnachtswunders und so die laute und zugleich innig-herzliche Einladung, dabei zu sein beim Wunder dieses Geschehens und zuzustimmen in die Freude und den Jubel, dessen Anfang und Grund im Himmel, dessen Inhalt die Versöhnung von Himmel und Erde und dessen Ziel eine selige Menschheit ist.
Seht, weil das geschehen ist: weil die Heiligkeit Gottes selber Wohnung genommen hat inmitten der unheiligen und heillosen Geschichte der Menschheit, weil die Herrlichkeit des göttlichen Lichtes eingebrochen ist in die Nacht des dunklen Geheimnisses menschlicher Existenz, weil die Macht göttlicher Güte sich herabgelassen hat in die Ohnmacht menschlicher frommer und gottloser Lebensversuche, weil der Reichtum göttlicher Seligkeit hineingeflossen ist in die Armut menschlicher Herbergsnot und Schäfermühsal, weil der frohmachende Klang der Stimme Gottes ertönt ist mitten hinein in die Unsagbarkeit letzter Höhen und Tiefen der stummen Einsamkeit des Menschenherzens – darum und nur darum kann und soll und darf menschliche Musik, wo es auch sei, in Kirchen und Sälen und Häusern und Schulen »sacra musica« sein.
Seht, ihr Musikanten alle, die ihr jetzt die Noten Bachs in Töne und Stimmen zurückübersetzt, viel liegt daran, daß ihr nicht dem Irrtum verfallt, ihr müßtet nun eure Kunst zeigen und es uns vormachen, wie man heilige Musik spielt und singt, in dem Wahn, ihr müßtet durch den Erfolg fleißigsten Übens und feinsten Zusammenspiels dieses Weihnachtsoratorium erst zur heiligen Musik machen. Und ihr Hörer alle, laßt uns nicht hängen bleiben am Genuß reiner und voller Töne, die uns willkommene seelische Erhebung zu weihnachtlicher Stimmung bereiten, wobei man so leicht all die vielen vergißt, die als Gefangene in Zellen und Lagern oder bei einem Kerzenstumpf schwermütige Weihnachten feiern. Es geht ja doch um mehr. Es geht doch für Sänger und Musikanten und Hörer, wie immer es bestellt sein mag, um die Kunst der Hände und Kehlen und um die Empfänglichkeit der Ohren, um die Erlaubnis und Freiheit für alle, teilzuhaben an himmlischer Freude, dabei sein zu dürfen bei dem Ereignis, das die Weltgeschichte um 180 Grad gedreht hat, so wenig man das auch im Alltag merken und wahr haben mag. Gott läßt sich’s gefallen, daß wir ihm singen und spielen; Gott gefällt’s, wenn wir uns freuen und in aller menschlichen Unzulänglichkeit besingen und bestaunen, was Er an uns gewendet hat, wenn wir uns einreihen in den Chor der Dankbaren und Ehrfürchtigen und uns auffordern lassen, »zu kommen und zu schauen dies schwache Knäbelein«.
So wird unsere Musik zur »sacra musica«, wenn wir nur der Einladung folgen: »Lasset das Zagen, verbannet die Klage, stimmet voll Jauchzen und Fröhlichkeit an! Dienet dem Höchsten mit herrlichen Chören!«
So wird auch die Weihnachtsfeier unserer beiden Schulen zur Feier der heiligen Nacht und damit zur Feier einer christlichen Gemeinde, wenn wir uns selber in all unserer Verschiedenheit vergessen und es hören, aufnehmen und weitersagen, und – wie’s jedem jetzt zukommt, mit Herzen, Mund und Händen – singen und spielen, denn es gilt heute und jetzt wie immer: »Erd’ und Himmel, nehmt’s zu Ohren! Jauchzend ruft alle Luft: Christus ist geboren!« Amen.
Ansprache anläßlich einer Weihnachtsfeier des Eberhard-Ludwig- und des Hölderlin-Gymnasiums Stuttgart im Dezember 1953, in deren Mittelpunkt das Weihnachtsoratorium von J.S. Bach stand. Das Thema der Ansprache »Sacra Musica« war Schempp vorgegeben.
Quelle: Paul Schempp, Briefe, ausgewählt und herausgegeben von Ernst Bizer, Tübingen: J.C.B Mohr, 1966, S. 175-177.