Predigtmeditation zu Jesaja 35,3-10 (1961)
Von Hans Wildberger
I. Vorbemerkung: Der biblische Realismus
Kapitel 35 beschreibt den zweiten Akt des endzeitlichen Dramas, das die beiden Kap. 34 und 35 zur Darstellung bringen. Der Seher spricht zunächst (Kap. 34) von einer Katastrophe, die über die ganze Welt kommt. „Der Himmel rollt sich zusammen wie eine Schriftrolle“ (V. 4), Berge und Hügel zerfließen (V. 3) und das Zorngericht Jahwes ergießt sich über die ganze Völkerwelt (V. 2). Faktisch ist der Verfasser allerdings nur am Gericht über Edom interessiert. Dem Bibelleser bereitet das Kapitel Mühe, weil es beinahe schwelgt in der Schilderung der blutigen Rache an Edom und der Schilderung der scheußlichen Verwüstung seines Landes. Dabei werden für dieses Gericht über das Nachbarvolk nicht einmal Gründe angegeben. Zwar mag man einwenden, daß solche gewiß dagewesen seien und es nun einmal schrecklich sei, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen (Hebr 10, 31). Aber die christliche Gemeinde kann nur mit bebendem Herzen daran denken, wie andere vom Zorn Gottes zermalmt werden, weil sie um ihre eigene Schuld wohl weiß.
Doch nun gilt es, mit der Erkenntnis ernst zu machen, daß prophetische Worte nur aus ihrer Zeit heraus richtig verstanden und gewertet werden können. Nach dem einhelligen Urteil der neueren Forschung stammen die beiden Kapitel nicht von Jesaja selbst, sondern setzen zum mindesten das Exil, sehr wahrscheinlich aber schon die nachexilische Zeit voraus. Nach dem Ende des davidischen Reiches ist Edom von Süden her weit nach Juda hinein vorgedrungen und hat Unglück und Not des Brudervolkes nach Möglichkeit ausgenutzt. Juda hat diesen Einbruch in sein angestammtes Gebiet schwer ertragen, zumal es doch der Verlust von durch Gott verheißenem und gegebenem Lande war. Es war jetzt auf das wenig fruchtbare, dafür an Steinen um so reichere Gebiet um Jerusalem und die Wüste gegen das Tote Meer hinunter, wo auch der größte Bauernfleiß nicht viel auszurichten vermag, beschränkt. Kam ein Judäer einmal in die Saronflur oder das Karmelgebiet mit ihrer üppigen Vegetation oder blickte er zum fernen Libanon mit seinem Wasserreichtum, mag er mit Wehmut einen Vergleich mit seiner engeren Heimat mit ihren dürren Landstrichen gezogen haben. Dabei stellte er sich wohl auch die Frage, was nun in Wirklichkeit aus der alten Verheißung vom Land, da Milch und Honig fließt, geworden sei. Dieses Israel ist in den beiden Kapiteln angeredet: ein kleines Volk, das unter schwersten ökonomischen Bedingungen dahinlebt, unter dem Druck fremder Herrschaft, eingeengt von den Nachbarn, gedrückt und manchmal an der Grenze der Schwermut angelangt, angefochten im Glauben, weil Verheißung und Wirklichkeit so schwer auseinanderzuklaffen schienen. Aber nun tröstet Gott sein Volk aus seinem Erbarmen heraus. Es ist kein „geistlicher Trost“, den sein Bote auszurichten hat. Er sagt den Seinen nicht, daß es doch bei aller äußeren Armut einen inneren Reichtum gebe, der keinem, der ihn besitzt, durch die Widrigkeit der äußeren Umstände oder die Arglist der Zeit genommen werden könne. Er spricht nicht davon, wie man doch auch in „dürrem Lande“ seines Glaubens froh werden und seinen Gott jeden Morgen in unentwegter Freudigkeit preisen könne. Er tadelt auch seine Brüder nicht, daß ihre Verzagtheit nichts denn Kleinglauben sei, ihre Klage in Wirklichkeit Undankbarkeit. Und er moralisiert nicht, ihre Lage entspreche doch nur ihrem Ungehorsam gegen Gott und sie müßten jetzt erst einmal ernstlich umkehren und bedenken, was sein Wille über ihnen sei. Es gibt Situationen, in denen solch „geistlicher Trost“ nur noch als Hohn empfunden werden kann und wo man sich wohl überlegen muß, ob man dem Verzagten wirklich seinen Kleinglauben vorhalten und dem Angefochtenen von seiner Sünde reden darf. Wohl kann die Kirche falsch trösten, indem sie über das Böse hinwegsehen will und vergißt, daß Gott „der Heilige Israels“ ist — das haben die großen Schriftpropheten unermüdlich betont. Man treibt aber auch falsche Seelsorge, wenn man über die äußere Notlage des Nächsten hinwegsieht oder wenn man dem schon Bedrückten und Angefochtenen seine innere Not durch den Vorwurf der Glaubenslosigkeit oder — wie im Fall der Freunde Hiobs — durch den Hinweis auf nicht erkannte Schuld noch schwerer macht. Es gibt keine geschichtslose Verkündigung und Seelsorge. So hat denn auch das Wort des Heilspropheten, der in diesen beiden Kapiteln zu uns spricht, Eingang in das Jesajabuch und damit in den Kanon des Alten Testaments gefunden. Es gibt Umstände, unter denen der Bußruf verstummen darf und der Prediger nur Heil zu künden hat. Dabei muß vielleicht nicht einmal ausdrücklich von jenem Heil gesprochen werden, das seinen Mittelpunkt in der Vergebung der Sünden und der Auferstehung zu einem neuen Leben hat, sondern es soll einfach von der Hilfe Gottes in den leiblichen und materiellen Nöten die Rede sein. Gott ist nun einmal nicht bloß Schöpfer und Herr der Seele, sondern auch des Leibes. Er ist kein Verächter der Leiblichkeit. Die Bibel vertröstet keineswegs nur auf den Himmel und sie überläßt die Erde nicht der „Welt“. Der Materialismus in der Heilshoffnung des Alten, aber auch des Neuen Testaments, hebt sich vom Spiritualismus der Kirche schroff ab. Wir haben darum, wenn uns eine biblische und nicht eine stoizistische Theologie am Herzen liegt, guten Grund, an solchen Texten nicht vorbeizugehen. Aber es kommt hier besonders viel darauf an, daß wir wohl bedenken, zu wem wir sprechen und wie wir unsere Botschaft sagen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, als gingen wir um den Ruf zur Buße herum, aber es soll klar sein, daß wir von unserem Text her das große Erbarmen Gottes künden dürfen, das allen Schwachen und Bedrückten, Armen und Elenden gilt und an ihren materiellen Nöten keineswegs vorübergeht. Auf die Frage der Johannesjünger: „Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten“, hat Jesus, Formulierungen unseres Textes aufnehmend, die Antwort gegeben: „Blinde werden sehend und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote werden auferweckt und Armen wird die frohe Botschaft gebracht.“ Wohl ahnend, daß diese Antwort in den Augen der Frommen als nicht genügend angesehen werden könnte, um seine Sendung durch Gott glaubhaft zu machen, hat er hinzugefügt: „und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert“ (Mt 11, 5 f.).
II. Auslegung
Die Perikope beginnt erst mit dem dritten Vers des 35. Kapitels. Das ist unberechtigt, denn die beiden ersten Verse bilden den Auftakt zum ganzen Verheißungswort. Dennoch ist es nicht unmöglich, bei der Predigt mit V. 3 einzusetzen. Der Inhalt von V. 1 und 2 kann bei V. 6 f. berücksichtigt werden.
1. Der Trost für die Verzagten
„Stärkt die schlaffen Hände
und festigt die wankenden Knie!
Saget zu denen, die verzagten Herzens sind:
Seid getrost (wörtlich: seid stark), fürchtet euch nicht!“ (V. 3—4a).
Da wird die Situation, in die hinein das Wort des Trostes gesagt werden soll, deutlich, auch wenn die konkrete Darlegung der Gründe für die Verzagtheit fehlt. Die Glaubensgenossen des Sehers sind tief niedergeschlagen. War der Grund eine Mißernte? War es ein erneuter Einfall der Edomiter? Haben wilde Tiere das Land unsicher gemacht (V. 9)? Solche Verheißungsworte sind mit Absicht nicht scharf auf eine bestimmte, einmalige Situation gezielt, damit sie angesichts recht verschiedener Nöte ihre Funktion des Tröstens ausrichten können. Es ist also das Recht, aber auch die Aufgabe des Predigers, das ihm vorliegende Wort je und dann zu aktualisieren auf die Lage seiner Gemeinde hin.
Der Inhalt des Trostes ist der:
„Siehe da, euer Gott! …er selbst kommt und wird euch helfen“ (V. 4 b).
Dazwischen steht allerdings das Sätzchen: „Die Rache kommt, die Vergeltung Gottes.“ Aber das Schwergewicht liegt zunächst durchaus auf der Ankündigung des Kommens Gottes selbst. Alles weitere wird sich dann geben. An sich genügt die Gewißheit, daß Gott zugunsten der Seinen eingreifen wird, um Verzagtheit und Furcht zu vertreiben. Man beachte aber: Der Prophet tröstet Israel nicht damit, daß Gott doch immer und überall gegenwärtig sei. Auch das „siehe da“ (hĭnnēh) ist nicht so zu verstehen, sondern kündet vielmehr das Erscheinen Gottes an. Der Glaube darf nicht bloß wissen, daß Gott in jeder Not auch „da“ ist, sondern soll sich daran halten, daß er „kommt“, das Leid zu wenden, indem er allen Druck von uns nimmt; er eilt seinem Volk zur Hilfe herbei. Des näheren aber wird Israel gesagt, daß sein Gott zur Rache, zur Vergeltung kommt. Das Neue Testament mahnt: „Rächet euch selbst nicht, Geliebte, sondern gebt Raum dem Zorne Gottes, denn es steht geschrieben: Mir gehört die Rache, ich will vergelten, spricht der Herr“ (Röm 12, 19). Das Volk Gottes hat darauf zu verzichten, selbst Rache zu üben, aber es darf zugleich dessen gewiß sein, daß Gott schon für Gerechtigkeit sorgen wird.
2. Die Heilung der Kranken
„Alsdann werden die Augen der Blinden aufgeschlossen,
und die Ohren der Tauben werden auf getan.Alsdann wird der Lahme springen wie ein Hirsch,
und die Zunge des Stummen wird jauchzen“ (V. 5—6 a).
Die Verheißung klingt an manche ähnliche Stelle an (zu V. 5 vgl. 29, 18; 32, 3; Mt 11,15; zu V. 6 a vgl. 33, 4; 33, 23). Die Ausleger stellen sich die Frage, ob die Sätze wörtlich oder übertragen zu deuten seien und geben im allgemeinen die Antwort, sie seien nicht nur geistlich, sondern auch leiblich zu verstehen. Zu einer geistlichen Auslegung gibt der Text selbst keinen Anlaß, so nahe die Umdeutung liegt. „Die christliche Kirche ist das rechte Lazarett, darin man einen Haufen Müde, Kranke, Strauchelnde und elende Leute findet. Darum ist Christus der Arzt selbst (Matth. 9, 12), der das Verwahrloste verbindet und heilt (Ez. 34, 16; Jes. 61, 1)“ (Cramer bei Naegelsbach, Der Prophet Jesaja). Gerade die neutestamentlichen Wundererzählungen mahnen uns, als Prediger zunächst einmal beim Wortsinn zu bleiben. Der Einbruch der Christusherrschaft wirkt sich bis ins Körperliche hinein aus, und wo Christus gedient wird, kann zwar nicht allen Kranken geholfen werden, aber da wird ihnen doch Labsal und Linderung auch für den Leib gebracht.
3. Die Fruchtbarkeit der Wüste
„Denn in der Wüste brechen Wasser hervor
und Bäche in der Steppe,
und der glühende Sand wird zu einem Teiche
und das durstige Land zu Wasserquellen.
An der Wohnstatt, wo Schakale lagerten,
ist eine Stätte für Rohr und Schilf“ (V. 6 b—7).
Trotz des kī (denn) im Anfang darf man diese Sätze mit dem Vorhergehenden nicht dadurch in Verbindung setzen, daß man deutet, die Entstehung von Quellen in der Wüste mache die Blinden sehend und die Lahmen gehend. Das kī ist oft Verbindungspartikel ohne logisch präzise Bedeutung. Der Sinn wird etwa der sein: Es verschwinden alle Gebrechen, denn es kommt die Zeit des Heils, wo in der Wüste Quellen zu sprudeln beginnen. Auch Deuterojesaja hat von der wunderbaren Belebung der Wüste in naher Heilszukunft gesprochen (41, 18 f.; 43, 19 f.; 48, 21; 49, 10), und es ist wohl möglich, daß der Verfasser unserer Heilsweissagung von ihm abhängig ist. Aber bei Deuterojesaja sind solche Verheißungen aus dem konkreten Grund gegeben, daß Israel jetzt durch die Wüste heimwandern muß, während an unserer Stelle nicht an die Rückwanderung aus dem Exil, sondern ganz allgemein an die Herrlichkeiten der kommenden Endzeit gedacht ist. Das hebräische Wort šārāb, das wir oben mit „glühender Sand“ wiedergegeben haben, heißt vielleicht nach dem Arabischen „Kimmung“, „Fata Morgana“, der durch Luftspiegelung auf dürre Steppen hingezauberte Schein von Wasserflächen. Das gäbe einen guten Sinn: Was jetzt nur Täuschung, Illusion ist, wird einmal volle Wirklichkeit sein. — Infolge der Wassermenge wächst dann an Stelle der so dürftigen Wüstenvegetation üppiges Rohr und Schilf. Es werden also unerhörte Wunder zu erleben sein (vgl. V. 1—2). Sollte da Israel nicht umkehren zu seinem Herrn? Wird da nicht ein Jubel erschallen, wie er noch nie zu hören war? Davon spricht die Fortsetzung:
4. Die heilige Prozessionsstraße
„Und dort wird eine reine Straße sein,
und ‚heilger Weg‘ wird man sie nennen.
Kein Unreiner wird sie betreten …
und (selbst) Toren werden nicht (auf ihr) irre gehen“ (V. 8).
Das hebräische Wort für „Straße“, măslūl, wird nur an dieser Stelle verwendet, es meint, wie das ihm gleichbedeutende mesillāh, nicht einen gewöhnlichen Weg, sondern eine wohl zugerichtete, aufgeschüttete Kunststraße. Jes 19, 23 redet von einer solchen mesillāh, die Ägypten mit Assur verbinden werde. Sie wird nötig sein, weil dann Ägypten mit Assur zusammen Jahwe verehren wird. Ähnlich spricht Kap. 40, 3 von einer mesillāh „für unsern Gott“, vgl. 11, 16; 49, 11; 62, 10. Es handelt sich an all diesen Stellen offensichtlich um eine Prozessionsstraße, die darum in unserm Abschnitt „heiliger Weg“ genannt wird. Nur „Reine“ werden sie betreten, wohl nicht darum, weil es andern verboten wäre, sondern weil es kaum mehr Unreine geben wird. Jedermann wird, überwältigt vom Segen Jahwes, sich beeilen, sich unter Jahwes Gebot zu beugen. Man kann sich fragen, ob ṭāme’, unrein, nur in kultischem Sinn zu verstehen sei. Da parallel dazu ’ewīl, Tor, verwendet wird, hat das Wort hier wohl einen weiteren Sinn. Die „Toren“ ihrerseits sind nicht bloß Unwissende, törichte Leute in unserm Sinn, sondern Menschen, die Gott nicht kennen und ihn auch gar nicht kennen wollen. „Die Toren sprechen in ihrem Herzen: Es ist kein Gott“ (Ps 14, 1 a). Wer verständig ist, der fragt nämlich nach Gott (Ps 14, 2), wer das aber nicht tut, fällt in Sünde und Verderben: „Verderbt und abscheulich handeln sie, keiner ist, der Gutes tut“ (Ps 14, 1 b). Torheit und Gottlosigkeit gehören im Alten Testament zuhauf. Aber selbst wenn solche Toren die heilige Straße betreten sollten, so werden sie auf ihr nicht irregehen, sondern mitgenommen und mitgetragen von der nach dem Zion Wallfahrtenden Menge, durch die andern mitgerissen zum Gotteslob. So müßte die christliche Gemeinde die „Toren“ von heute mit hineinziehen können in die Freude am Herrn!
In uneingeschränkter Sorglosigkeit wird Israel über diese Straße seines Weges gehen können. Wilde Tiere werden ihm dort keinen Schaden antun (V. 9 a),
„sondern die Erlösten (ge’ūlim) werden darauf gehen
und die Befreiten Jahwes (pedūjê jăhwĕh) werden heimkehren
und nach Zion kommen mit Jauchzen,
ewige Freude über ihrem Haupte.
Freude und Wonne wird bei ihnen einkehren,
und Leid und Seufzen werden fliehen“ (9 b—10).
V. 10 ist identisch mit 51, 11, vgl. auch 51, 3 und 61, 7. Die Priorität liegt gewiß bei Deuterojesaja. Bei ihm handelt es sich um eine wirkliche Heimkehr, nämlich aus dem Exil, und das Verbum šūb ist dort voll berechtigt. Hier aber ist wohl einfach an eine festliche Wallfahrt zum Zion zu denken. Das bedeutet aber, daß auch die bei Deuterojesaja so beliebten und inhaltsschweren Begriffe ge’ūlim und pedūjīm neu gefaßt sind. Die beiden Verben gā’ăl und pādāh dienen, sofern sie als theologische Termini verwendet sind, mit Vorliebe zur Beschreibung der Errettung aus Ägypten. Deuterojesaja hat sie aufgenommen, aber auf die Erlösung aus dem Exil bezogen. Sie meinen also auch bei ihm zunächst die Befreiung aus der Macht der Feinde. An unserer Stelle sind die beiden Ausdrücke aber viel allgemeiner verwendet: Die Erlösten und Befreiten sind die Glieder des Jahwevolkes, wie im Neuen Testament die Glieder der Christusgemeinde die Heiligen oder die Geheiligten genannt werden. Sie heißen mit Recht so, denn sie haben Jahwes Barmherzigkeit erfahren. Gott hat sich an ihnen verherrlicht.
Die „heilige Straße“, über welche die Erlösten ziehen, führt zum Zion, zur Gottesstadt. Das heißt natürlich, daß sie sich zu Gott wenden, dessen Offenbarungsstätte der Zion ist. Etwas anderes kann sich der Verfasser unseres Wortes nicht denken, als daß die Guttaten Gottes sein Volk bewegen, sich ihm wieder zuzuwenden, und zwar in einer Dankbarkeit, die sich in Jubel und „ewiger Freude“ kundtut. Dem Ausdruck „ewige Freude über ihrem Haupte“ liegt vermutlich das Bild von einer Kopfbedeckung zugrunde, die man als Zeichen der hohen Stellung trägt, vgl. 61, 3: „Kopfschmuck statt Asche“. Es wird ewige Freude sein, das heißt Freude, die nicht schon in sich zusammensinkt, wenn sich nach einer Festzeit die Unannehmlichkeiten des Tages wieder bemerkbar machen, sondern eine Freude von solcher Kraft, daß vor ihr „Leid und Seufzen fliehen“. So wird hier schon jener Sieg des Glaubens sichtbar, von dem es heißt, daß er die Welt überwunden hat (1J0 5, 4). Denn offenbar ist die Freude nicht darum so tragfähig, weil der Segen Gottes sich sichtbar auf das Land gelegt hat, sondern weil Israel jetzt „heimgekehrt“ ist zu seinem Gott. Vera autem et solida gaudii materia per Christum solum afferri potest. Nec enim pendet a rebus caducis, quales sunt honores, opes, divitiae et reliqua eius modi, quae facile depereunt, sed gaudium hoc spirituale est, sedemque habet in animis, neque adimi, neque avelli ullo modo potest, tametsi Sathan omnibus modis nos perturbare atque affligere conetur. Eius enim tanta vis atque efficacia est, ut omnem moerorem absorbeat (Calvin).
Aber so gewiß das Kommen zum Zion Hinwendung zu Gott selbst bedeutet, so wenig kann der Zion ausgeschaltet werden. Denn der biblische Glaube hat es nicht mit einem Gott im eigenen Innern, aber auch nicht mit einem Gott in unerreichbarer Ferne zu tun, sondern mit dem auf dem Zion offenbaren Gott, dem Gott Jakobs, der inmitten seines Volkes gegenwärtig ist. Die Heimkehr zu Gott ist unablösbar verknüpft mit dem Kommen nach dem Zion. Das heißt aber auch: Wer sich Gott zuwendet, der stellt sich hinein in die dort sich versammelnde und dort Gott lobende Gemeinde. Im Gelübdeteil des Klageliedes gelobt der Beter, in der Gemeinde Gott zu preisen und im Danklied tut er das auch. — So ist es unerläßlich, daß die „Erlösten des Herrn“ die „heilige“ Straße dahinziehen zur Gottesstadt, zum Heiligtum, dort Anschluß an die jubelnde Gemeinde gewinnen und „im Hause des Herrn bleiben immerdar“ (Ps 23, 6). Wir werden uns auch da vor falscher Spiritualisierung zu hüten haben. Die Erlösten haben ihren Standort in der sichtbaren Gemeinde ihres Herrn, und nur wenn sie diesen Standort gewonnen haben, wird ihre Freude „ewig“ sein, und werden Leid und Seufzen für immer fliehen.
Quelle: Georg Eichholz, Herr, tue meine Lippen auf. Eine Predigthilfe, Bd. 5: Die alttestamentlichen Perikopen, Wuppertal-Barmen: Emil Müller, 31964, S. 577-585.