Über das Barfußgehen und Jesu Fußwaschung nach Johannes 13
Von Hans Graf von Lehndorff
28. April 1946
Seit Wochen gehen wir barfuß. Angeregt durch das ständige Barfußgehen, habe ich in diesem Jahr das Evangelium von der Fußwaschung anders gelesen als sonst. Denn wenn man abends barfuß nach Hause kommt, ist das Bedürfnis, sich die Füße zu waschen oder sie gewaschen zu bekommen, in der Tat sehr groß, und man beginnt zu verstehen, warum der Heiland sich gerade dieses Mittels bediente, um etwas deutlich werden zu lassen von der wichtigsten Beziehung, die es unter Christenmenschen gibt. Es geht doch hier um das Reinwerden, um das Aufrechterhalten der Verbindung mit Christus und untereinander.
Ich glaube, wir Protestanten machen es uns in diesem Punkte zu schwer. Wie Petrus, so meinen wir auch, es ginge bei der Sündenvergebung immer um die Reinigung des ganzen Menschen. Aber Jesus sagte zu Petrus: «Wer rein ist, dem brauchen nur die Füße gewaschen zu werden. Und ihr seid rein — nämlich um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe.»
Hat nicht Jesus auch zu uns geredet? Aber wir nehmen diese unsere grundsätzliche Reinheit, wie mir scheint, gar nicht recht in Anspruch und schleppen deshalb die Gewissensbelastungen unnötig lange mit uns herum. Hätten wir das Bild der Fußwaschung vor Augen, dann würden wir wahrscheinlich unsere Schuld — die täglich dazukommende, fast unvermeidbare — bald in der gleichen Weise als störend empfinden lernen wie Straßenschmutz an bloßen Füßen. Und wir würden von der Möglichkeit, sie uns von dem Weggenossen fortnehmen zu lassen, in ganz anderer Weise Gebrauch machen als bisher.
Quelle: Hans Graf von Lehndorff, Ostpreußisches Tagebuch. Aufzeichnungen eines Arztes aus den Jahren 1945-1947, München: Biederstein, 1961, S. 254.