Gisbert Greshake, Bemühungen um eine Theologie des Sterbens (1974): „Weil unser Leben im­mer auch ein Leben der Selbstbehauptung und Ichverkrampfung war, darum bedarf der Mensch im Sterben der Vergebung von Seiten Gottes; er bedarf des Ja Gottes zu seinem Leben, der Zusage, daß «Gott auch auf krummen Zeilen gerade schreibt». Eben dies ist ein weiterer wichtiger Aspekt der Sterbeliturgie: sie sagt dem Sterbenden die vergebende Nähe Christi und die bedingungs­lose Annahme durch Gott zu.“

Bemühungen um eine Theologie des Sterbens

Von Gisbert Greshake

In den beiden letzten Jahrzehnten wurde eine Reihe von Beiträgen zu einer «Theologie des To­des» vorgelegt.[1] Unter dem Einfluß der Existen­tialphilosophie standen darin im Vordergrund die Besinnung auf die im Tod greifbare Endlichkeit des menschlichen Daseins sowie die Betrachtung des Todes als privilegierten Augenblicks mensch­licher Freiheit und bevorzugten Orts christlicher Hoffnung. Jedoch kam von dieser theologischen Perspektive aus der konkrete sterbende Mensch kaum in den Blick. Der Tod, nicht das Sterben, der Augenblick des Endes, nicht der zeitlich ge­streckte Vorgang unmittelbar auf das Ende hin war der eigentliche Gegenstand des Interesses. Zwar sind Tod und Sterben strikt aufeinander be­zogen, und insofern finden sich auch in den ver­schiedenen Entwürfen zu einer «Theologie des Todes» beachtenswerte Hinweise für eine Theo­logie des Sterbens. Doch ist das Sterben selbst theologisch noch wenig bedacht, und eine Theo­logie des Sterbens bleibt ein wichtiges Desiderat weiterer theologischer Arbeit, zumal heute, da sich das Interesse zahlreicher anthropologischer Disziplinen der Sorge um den sterbenden Men­schen zuwendet.

Die folgenden Darlegungen wollen zu einer Theologie des Sterbens nur einen kleinen Beitrag leisten, indem sie – erstens – die sogenannte End­entscheidungshypothese bedenken, die in den letz­ten Jahren innerhalb der katholischen Theologie einen hohen Kurswert hatte, – zweitens – die bibli­schen Daten zum Thema Sterben zu skizzieren und ihren systematischen Gehalt zu entfalten suchen und – drittens – von dorther einige Ver­bindungslinien zur heutigen Sorge um den ster­benden Menschen ausziehen.

I. Sterben als vollpersonaler, freiester Akt des Menschen?

Zu einem direkten Gegenstand theologischer Re­flexion ist in letzter Zeit das Sterben nur innerhalb der sogenannten Endentscheidungshypothese ge­worden. So verschieden diese auch im einzelnen von den zahlreichen Theologen und Philosophen vorgelegt wird,[2] nahezu alle kommen in Anknüp­fung an die existentialistisch gefärbte Denkform der «transzendentalen Subjektivität» in folgenden drei Momenten überein:

1. Zwar ist der Augenblick des Todes der beob­achtenden Erfahrung schlechthin entzogen. Doch ist es möglich, das dort im Grenzakt des Lebens Geschehende durch Extrapolation aus dem Le­bensvollzug zu ermitteln. Es gilt gleichsam, aus der Beobachtung der Lebenskurve deren äußerste Asymptote in den Blick zu bekommen. Wenn nun der Mensch in seinem Lebensvollzug immer Ma­terie und Geist, Notwendigkeit und Freiheit, Natur und Person ist, so muß auch das Sterben diese reale Dialektik an sich tragen. Das bedeutet: Der Tod kann nicht nur ein zerstörerisches Geschehen von außen, ein biologisches Vorkommnis oder ein un­berechenbarer Abbruch sein, den der Mensch aus­schließlich machtlos-passiv hinzunehmen hätte, sondern der Tod muß auch sein «tätige Voll­endung von innen, ein aktives Sich-zur-Voll­endung-Bringen, aufwachsende, das Ergebnis des Lebens bewährende Auszeugung und totales Sich- in-Besitz-Nehmen der Person».[3] Was also das ganze menschliche Leben ausmacht: das Ineinan­der von ohnmächtigem Erleiden und freier Tat, von Fremd- und Selbstverfügung, das kommt im Tod zum Höhepunkt: wo der Mensch im Tod die totale Verfügung über sich erleidet, da ist auch die letzte und höchste Tat seiner Freiheit gefordert, kraft welcher er den Tod als Vollendung in das Geheimnis Gott hinein annimmt oder in einem letzten Protest sich an sich selbst festhält. So ist der Tod «der höchste Akt des Menschen, in dem er in Freiheit sein Dasein total vollzieht»;[4] er ist – so vor allem L. Boros[5] – der eigentliche Ort der Menschwerdung: «Im Tod eröffnet sich die Mög­lichkeit zum ersten vollpersonalen Akt des Men­schen; somit ist er der seinsmaßig bevorzugte Ort des Bewußtwerdens, der Freiheit, der Gottbegeg­nung und der Entscheidung über das ewige Schick­sal.»

2. Vollpersonal und absolut frei ist der Akt des Todes deshalb, weil er im Augenblick der Tren­nung von Leib und Seele geschieht, und so der Geist, befreit von den Fesseln der Materialität und Zeitlichkeit, innerlich ganz er selbst ist, «in einer ganzheitlichen Seinspräsenz».[6]

3. Indem der Akt der Entscheidung in den Augenblick des Todes gelegt wird, entzieht sich die Theorie dem Einwand, sie entspräche nicht der konkreten Erfahrung des Sterbens, da der Mensch doch oft ohnmächtig und bewußtlos oder im Zu­stand qualvoller Agonie oder auch plötzlich vom Tod überrascht dahinscheide, so daß die Möglich­keit einer freien Entscheidung gar nicht gegeben sei. Durch Rekurs auf den ausdehnungslosen, grundsätzlich nicht beobachtbaren und verifizier­baren Augenblick des Todes, der nicht identisch ist mit dem zeitlichen Verlauf des Sterbens, wird dieser Einwand a priori unterlaufen. – In diesem Zusammenhang wird auch auf die heute medizi­nisch anerkannte Mehrstufigkeit des Sterbens hin­gewiesen, wonach der endgültige Tod nicht ein­fach identisch ist mit Einzelphänomenen des orga­nischen Sterbens.[7]

So eindrucksvoll diese theologische Theorie vom Sterben als vollpersonaler, freiester Entschei­dung des Menschen auch ist und so fruchtbar sie überdies dazu verwendet werden kann, eine Reihe von anderen theologischen Problemen zu lösen, so steht ihr doch eine Reihe von Einwänden ge­genüber, die eher gegen sie sprechen:

1. Die ganze Durchschlagskraft der Endent­scheidungshypothese beruht auf der Deutung eines der Erfahrung und Verifikation grundsätz­lichen entzogenen transempirischen Geschehens. Nicht nur, daß sie sich damit auf ein unsicheres und stets unentscheidbares Gelände begibt, ist das mißliche, sondern daß sie die konkrete Gestalt des Sterbens in all seinen verschiedenen Formen außer acht läßt und unterläuft. Diese Theorie trifft so­mit gar nicht den sterbenden Menschen und kann daher auch keine wirkliche Hilfe sein, weder für ihn, noch für diejenigen, die sich um ihn sorgen.

2. Die Behauptung der dialektischen Einheit von passivem Erleiden und freier Tat im Augen­blick des Todes kann nicht einfach begründet werden mit dem Hinweis auf die das ganze menschliche Leben wesenhaft ausmachende Ein­heit von Freiheit und Notwendigkeit, von Aktivi­tät und Passivität. Denn – so bemerkt E. Jüngel[8] zu Recht –: «Es gibt eine Passivität, ohne die der Mensch nicht menschlich wäre. Dazu gehört, daß man geboren wird … Dazu gehört, daß man stirbt.» Und wer vermag zu sagen, ob nicht das Sterben uns in eine ähnliche exklusive Passivität versetzt wie die Geburt?

3. Die Hypothese impliziert, daß das Leben im Augenblick des Todes – also noch «vor» der Gottesbegegnung — zu seiner inneren Vollendung kommt und seine Identität findet.[9] Es wird sich noch zeigen, daß diese eindimensionale Annahme dem komplexen biblischen Befund nicht voll ge­recht wird; ganz abgesehen davon, daß die undialektische Sinnbehauptung des Todes gegenüber seiner sinnwidrigen Erfahrung notwendig unter Ideologieverdacht kommen muß.

4. Der Augenblick des Todes als der einzigen vollpersonalen und freien Entscheidung wird in dieser Theorie überfrachtet; er wird zum privi­legierten Ort menschlichen Daseins. Damit aber wird die Bedeutung des konkreten Lebens (ein­schließlich des Sterbens als Endphase des Lebens) entwertet, und der Vorrang des Lebens vor dem Tod, wie ihn die menschliche Erfahrung kennt und auch die Schrift betont, auf den Kopf ge­stellt.[10]

So fragwürdig darum auch die Endentschei­dungshypothese ist, sie hat gleichwohl das Ver­dienst, auf einige methodische und inhaltliche Ge­sichtspunkte aufmerksam gemacht zu haben, die auch unabhängig von einer postulierten Todes­entscheidung gelten, ja mehr noch: die ihre eigent­liche Bedeutung erst zeigen, wenn sie nicht auf den transempirischen Todesaugenblick, sondern auf den konkreten Sterbevorgang bezogen werden. In der Tat ist das Sterben selbst – und nicht erst der hypothetische Übergangsaugenblick – eine beson­dere Entscheidungssituation, in der sich das ver­dichtet und zuspitzt, was im Vollzug des mensch­lichen Lebens immer schon gegeben ist. Darum können auch Sinn, Bedeutung und Wirklichkeit des Sterbens nicht unabhängig von der Erfahrung des Lebens, sondern nur als deren äußerste Asym­ptoten betrachtet werden. Um vom Sterben zu sprechen, muß man vom Leben sprechen. Auf dieses methodische Prinzip weist zu Recht die Endentscheidungshypothese hin. So geht auch die Heilige Schrift vor. Ihren Grundaussagen zum Thema Sterben – wie sie in der Exegese der letzten Zeit herausgestellt wurden – haben wir uns nun zuzuwenden. Denn will die Theologie sich nicht in unverifizierbare Spekulationen verrennen, hat sie an der Schrift ihr Maß zu nehmen. Dabei soll der komplexe biblische Befund im folgenden in systematischer Form dargestellt werden.

II. Das Janusgesicht des Sterbens in der Heiligen Schrift

«Alles, was der Mensch hat, gibt er für sein Leben hin» (Hi 2,4) – in diesem Satz drückt sich die alttestamentliche Einschätzung des Lebens als des schlechthin höchsten Gutes aus.[11] Aber Leben heißt im AT nicht nacktes Dasein, bloßes Existie­ren, sondern Leben ist nur dort, wo es sich ver­wirklicht in Gemeinschaft mit anderen Menschen, in Sicherheit, Gesundheit, Frieden, Glück und Freude. Solches gefülltes Leben ist unverfügbare Gabe Gottes, der es dem Menschen als sein Heils­und Segensgut mitteilt. Und mehr noch: da Jahwe die Quelle des Lebens ist (Ps 36,10), erhält der Mensch in der Gabe des Lebens mit den von der Gabe nicht zu trennenden Geber. Deshalb bedeu­tet Leben wesentlich in Beziehung zu Gott stehen. Aber nicht nur Gabe ist das Leben, sondern auch Aufgabe. Der Mensch erhält es, um es im Dienst und nach der Weisung Gottes zu verwirklichen. Darum findet sich auch im AT häufig die Verbin­dung von Lebenszusage und Gebotsverkündi­gung, eine Verbindung, die wir geradezu «für ein konstituierendes Element des Jahweglaubens überhaupt ansprechen dürfen».[12] So ist das Leben als Gabe und Aufgabe in seinem Ursprung und seiner Sinnrichtung dem Menschen entzogen; es weist ihn strikt in die Beziehung zu Gott ein. Der Mensch hat es nie als festen Besitz, über den er verfügen kann, sondern er gewinnt das Leben nur, indem er es einsetzt, um es von Gott je neu zu ge­winnen. – Daß das Leben zeitlich befristet ist, wird in der älteren atl. Literatur nahezu problem­los hingenommen.[13] Kein Aufbäumen hilft: Der Mensch ist «wie Gras, das verdorrt» (Jes 40,6 u.ö.). «Wir müssen alle sterben und sind wie Was­ser, das auf die Erde ausgegossen ist und nicht wieder gesammelt werden kann» (2 Sam 14,14). Aber deswegen ist nicht der Tod «der letzte Feind», sondern im Sterben hört der Lebensodem auf, den Jahwe dem Menschen zugedacht hat. So ist der Tod als Grenze des Lebens, das Jahwe schenkt, eingebunden in die Beziehung zu Gott; et steht unter der Herrschaft Gottes (vgl. 5 Mose 32,39). Weil zum Leben die Frist gehört, hat sich die Wahrheit vom göttlichen Heilsgut des Lebens hier und jetzt innerhalb der durch Geburt und Sterben markierten Grenze zu erweisen. Und da­von kündet das AT allenthalben: Wem Gott sich in Freundschaft zuwendet und wer den Weisungen Gottes entspricht, dem schenkt Jahwe ein langes, reiches, reifes, glückliches Leben, für welches das Ableben nicht eigentlich düsteres Ende, sondern Vollendung, und für welches das Sterben nicht schreckensvolle Krise, sondern friedvolle Erfül­lung bedeutet. So wird es Abraham verheißen: «Du sollst in Frieden zu deinen Vätern eingehen und in hohem Alter begraben werden» (1Mose 15,15). Und so erfüllt sich die Verheißung: «Abra­ham starb in gesegnetem Alter, hochbetagt und lebenssatt» (1Mose 25,8). « Lebenssatt» also und in «schönem Alter» stirbt der Gottgesegnete (vgl. dazu auch 1Mose 35,29; Ri 8,32; Hi 42,17; 1Chr 25,1; 29,28; 2Chr 24,15). So kann Sterben die glückhafte Erfüllung menschlichen Lebens sein und der Tod die Ernte reich gesegneter Zeit. «Du gehst in Vollreife zum Grabe ein, gleichwie die Garbe eingebracht wird zu ihrer Zeit» (Hi 5,26). Wenn es auch Stellen im AT gibt, die die ganze Bitterkeit des Sterbenmüssens herausstellen und die gipfeln in der Aussage, daß «Jahwe der Toten nicht mehr gedenkt» (Ps 83,6), so nimmt man doch im allgemeinen den Tod als selbstverständ­liche Grenze des Lebens hin. Da die Frist des Le­bens von Gott kommt, ist die Macht des Todes Jahwes Macht. An der Grenze des Lebens steht der lebendige Gott und nichts sonst. Von diesem Glauben aus entfaltet sich zwar erst relativ spät, aber doch sehr stringent die Hoffnung auf Über­windung des Todes durch die erweckende Kraft Gottes.

Sterben als friedvolle Erfüllung des Lebens ist nur die eine Seite der atl. Glaubenserfahrung. Das AT kennt auch die Erfahrung des Sterbenmüssens, bevor das Leben erfüllt ist und sich voll­enden kann. Es gibt den jähen, verfrühten, den «bösen» Tod, den «Tod in der Mitte der Tage», . der seine Vorboten jetzt schon auf den Menschen zusendet. Krankheit, Armut, Not, Einsamkeit, Verzweiflung sind Wirklichkeiten des Todes, die jetzt schon in das Leben eingreifen, es in seinen positiven Qualitäten mindern und es gar vorzeitig abbrechen lassen. Dieses «Sterben» ist aufs engste mit der Sünde verbunden. Denn der Sünder will das Leben aus sich heraus ohne Gott und gegen Gott gewinnen. Aber gerade so verliert er, von seinem Lebensquell getrennt, das (volle) Leben; er muß sterben. Nur durch radikale Zuwendung zu Gott wird er aus der Macht des «bösen Todes» befreit: der Gerechte «entgeht den Schlingen des Todes» (Spr 14,27). Mit diesen und ähnlichen Aussagen ist nicht eine Überwindung der Todes­grenze angedeutet, sondern die Befreiung aus der hier und jetzt im Sünder wirksamen Machtsphäre des Todes gemeint, der die Fülle des (irdischen) Lebens zunichte macht und es vorzeitig abbricht. – Der Gerechte also lebt, der Sünder stirbt: dieser Tun-Ergehenszusammenhang mußte aber in eine tiefgreifende Krise kommen, da offenbar wurde, daß der «böse Tod» nicht nur in das Leben des Sünders einbricht, sondern auch in das des Ge­rechten, ja daß der Sünder, der aus sich heraus leben will, oft besser «lebt» als der Gerechte, während dieser oft sehr viel bedrängender die Er­fahrung des Tödlich-Bedrohenden in seinem «Le­ben» macht. Damit zeigte sich zugleich, daß das Bild des Sterbens als selbstverständlicher Voll­endung und friedlicher Erfüllung des Lebens, wie es sich im Sterben der atl. Gerechten darstellt, zwar eine Möglichkeit ist, die aber nicht die ganze Wirklichkeit trifft. So könnte man sterben, so wäre es schön zu sterben. Aber de facto ist es anders. De facto stirbt der Mensch, obwohl er nicht vollendet ist, er stirbt zu früh, er stirbt, obwohl er eigentlich nicht sterben kann. Deshalb ist das Sterben de facto ein Fluch, für Gerechte und Ungerechte, denn beide trifft das gleiche Los des Sterbenmüssens, ohne sich darin vollenden zu können. Damit kündigt sich bereits im AT (vor allem beim Jahwisten) die Konsequenz an, die erst das NT in aller Schärfe ausziehen wird, daß nämlich das Sterben nicht «natürlich» und so nicht von Gott gewollt sein kann, daß es vielmehr «der Sünde Sold» ist und in seiner konkreten Gestalt sich als Fluchtod zeigt, als die Folge dessen, daß der Mensch sein Leben nicht als Gabe und Aufgabe von Gott her versteht und es von ihm vertrauensvoll und dank­bar entgegennimmt, sondern daß er es ohne Gott lebt und ohne ihn vollenden will. Dann aber wird das Sterben zum äußersten Beweis der Ohnmacht eines Lebens, das in sich selbst Stand sucht. Da­mit stellt sich aber neu die Frage, wie sich denn angesichts des immer zu frühen Sterbens mensch­liches Leben vollenden kann und welchen Sinn das Sterben des Gerechten hat. Das AT vermag diese Probleme nur am äußersten Rand zu lösen, indem es Hoffnung auf Auferstehung aufrichtet und dem Leiden und Sterben des Gerechten süh­nende und heilstiftende Kraft zuspricht. So zeigt das Sterben im AT ein eigentümliches Janus­gesicht: es ist einerseits friedvolles Sich-Vollenden und zum andern sinnwidriger Abbruch des Le­bens.

Das NT führt fast ausschließlich die zweite Linie weiter. Im Sinne der paulinischen Theologie ist der Tod geradezu die «Definition des Menschen unter der Sünde».[14] Der Sünder weigert sich, sein Leben als Gabe und Aufgabe von Gott her zu empfangen, er will sein eigenes «Leben» haben. Indem er aber «sich selbst lebt» (vgl. 2 Kor 5,15), ist er in der Tat sich selbst und seinen eigenen Möglichkeiten überlassen, in denen er zwar meint, das Leben zu haben: Glück, Freiheit, Zu­kunft, die sich aber von ihrem Ende her als nich­tige Möglichkeiten erweisen. Das unweigerliche Sterbenmüssen des Menschen besiegelt alles ver­meintlich selbstmächtige Leben als Tod, alles Heil als Unheil, alle Freiheit als Verstrickung in die eigene Ohnmacht. Im Sterben kommt es gleichsam handgreiflich heraus, was es mit dem Leben des Sünders auf sich hat: das Leben, das glaubt, über sich selbst verfügen zu können, ver­läuft ins Leere.

Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft ist der Ruf des Lebens an solche, die ihr Leben verfehlen. Nur wer sich Gott und seinem Anspruch öffnet, nur wer bereit ist, aus der erstickenden Enge seines Selbst auszubrechen und das Leben wieder als Gabe und Aufgabe von Gott her entgegenzuneh­men, nur wer versucht, das Leben ständig hinzu­geben im Dienst an Gott und den Brüdern, der gewinnt wahres Leben jetzt und in Zukunft (vgl. Mk 9,34ff par; 10,29 ff par). Wer aber den Ruf des Lebens überhört, der gehört schon zu den Toten (vgl. Lk 9,60). Und wer weiterhin nur sich selbst lebt und sich um Eigenbesitz und Vorteil sorgt, der muß spätestens in seiner Sterbestunde ein­sehen, daß sein Leben keinen Grund und Bestand hatte (vgl. Lk 12,15 ff). So sieht das NT im Ster­ben nicht das natürliche Ereignis der Lebensvoll­endung, sondern es weist auf den Tod als Macht der Sünde Irin, der das Sterben zum sinnwidrigen Abbruch macht.

Diese düstere Erfahrung des Sterbens nimmt Jesus auf sich. Zwar ist historisch nicht sicher aus­zumachen, wie der irdische Jesus seinen Tod ver­standen hat und in welcher Haltung und Gesin­nung er gestorben ist. Doch ist wahrscheinlich, daß Jesus sein Sterben als dunklen, bitteren Ab­bruch seines Lebens erfuhr. Er starb nicht den «schönen Tod» der atl. Gerechten, auch nicht den heroisch-harmonischen Tod, wie Platon ihn am Beispiel des Sokrates darstellt. Er starb den Tod des Sünders, und es ist nicht auszuschließen, daß er in bitterer Verzweiflung starb: er, dessen Leben bestimmt war von der Nähe Gottes, er, der den Menschen die Leben verheißende Herrschaft Got­tes in unerhörter Weise nahegebracht hat, wird ab­gelehnt, verraten, von den Seinen im Stich ge­lassen, sein Werk bleibt unvollendet, seine Bot­schaft scheint ad absurdum geführt zu sein; ein­sam stirbt er den qualvollen Exekutionstod am Kreuz. Sein letzter Schrei, von dem übereinstim­mend berichtet wird (vgl. Mk 15,37; Hebr 5,7), mag der Verzweiflung über diese göttliche Ab­surdität entsprungen sein.[15] Und doch, wenn auch die überlieferten letzten Worte Jesu spätere Inter­pretationen sind, sie zeigen doch eines: Jesus starb nicht «im Fluch gegen Gott, sondern gerade in einer verzweifelten Flucht zu Gott».[16] Der Psalm 22, den er nach Mk 15,34 betet, klagt geradezu die Bundestreue Gottes zum Menschen um Gottes willen ein. «Der Ton ruht auf der Anrede: ‹Mein Gott›… Der Sohn hält dann noch Glauben, wenn Glauben sinnlos geworden zu sein scheint und die irdische Wirklichkeit den abwesenden Gott kund­tut.»[17] Indem Jesus so den sinnwidrigen Tod des Sünders stirbt in letztem «verzweifeltem Ver­trauen» auf Gott – indem Jesus sich dem Abgrund des Todes preisgibt, in der Hoffnung, auch dort Gott zu finden – indem der Sohn in der Erfahrung der Todesgrenze an seinem Vater als der grenzen­losen Quelle des Lebens festhält, antwortet Gott mit dem Erweis seiner Treue. Gott erweckt ihn zu neuem Leben. Er schenkt neue Identität und neue Beziehung, da im Tod alle Identität und alle Be­ziehungen abgebrochen sind, mehr noch: Gott identifiziert sich mit dem für uns leidenden und ‘ sterbenden Jesus, so daß sein Sterben und damit unser aller Sterben Einlaß in Gottes Leben findet. Die Leidens- und Todesgeschich­te der Welt wird durch das Sterben Jesu in die Geschichte Gottes hineingenommen. Darum ist alles Sterben befreit von letzter Dunkelheit und Ausweglosigkeit, es ist erlöst von dem Fluch, nur Besiegelung der hoffnungs- und sinnlosen selbstischen Sünder­existenz zu sein. Sterben darf wieder sein, was es sein kann: Vollendung des Lebens in Gott.

Freilich bleibt auch das Sterben für den Jünger Christi – und damit greifen wir einen Gedanken der Endentscheidungshypothese wieder auf – noch die letzte und schwierigste Bewährung und Verwirklichung dessen, was das Leben in der Nachfolge immer schon forderte, nämlich sich selbst und sein Leben nicht festzuhalten, sondern es hinzugeben, um es von Gott her je neu zu ge­winnen.

Mitten im Vollzug der Christusnachfolge also steht die eigentliche Wirklichkeit des Sterbens als inneres Moment wahren Lebens. Das bringen die ntl. Aussagen zum Ausdruck, die das Leben des Christen als ein Mitsterben mit Christus beschrei­ben. Solches Mitsterben ist nichts Negatives, son­dern die Befreiung von einem Leben, das nur sich selbst sucht und gerade dadurch verfehlt und eigentlich «Tod» ist. Der «Mitsterbende» nimmt sein Leben wieder als Gabe Gottes, das ihm zur Auf-Gabe übereignet ist, entgegen und gewinnt eben dadurch Anteil am bleibenden und wirk­lichen Leben. Solches Mitsterben und -auferstehen mit Christus macht die Wirklichkeit christlichen Lebens seit Taufe und Glaubensentscheidung aus (vgl. Röm 6,2ff; Joh 5,24). Paulus macht dies den Gemeinden vor allem an seiner eigenen Person deutlich: «Täglich sterbe ich» (1Kor 15,30; siehe auch 2Kor 4,7ff; Gal 6,17; Röm 8,36). «Wir sind Sterbende, und doch: wir leben» (2Kor 6,9). Die harte und gefährliche Missionsarbeit, das tägliche Verbraucht werden im Dienst an den Gemeinden, die Liebe zu den Brüdern sind Weisen des Ster­bens, Formen der Hingabe des Lebens. Aber in der Abkehr von einem sich selbst festhalten wollenden Leben, das in Wirklichkeit nur «Tod» ist, und in der Gemeinschaft mit Christus und der durch ihn vermittelten Gottesbeziehung ist der Tod grund­sätzlich überwunden (vgl. Joh 11,25f). Wer liebt, «ist schon aus dem Tod zum Leben übergegan­gen» (1Joh 1,4).[18]

In dieser Perspektive ist auch das (biologische) Sterben grundsätzlich relativiert. «Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn; darum, ob wir leben oder sterben – wir gehören dem Herrn» (Röm 14,8). «Weder Tod noch Leben … kann uns von der Liebe Got­tes trennen» (Röm 8,36ff). «Leben ist für mich Christus und Sterben Gewinn» (Phil 1,20f; siehe auch 1Kor 3,21f).

Freilich als unmittelbares und unausweichliches Konfrontiertsein mit dem Tod ist das (biologi­sche) Sterben noch einmal eine radikale Entscheidungssituation, wo der Mensch gefragt ist, wie er sich und sein Leben verstand und nunmehr – im Rückblick – verstehen will. Die Zeit unmittelbar vor dem Ende, das Sterben, gibt eine letzte Mög­lichkeit, kraft der Freiheit das Vorzeichen seines Lebens zu bestimmen. Und mehr noch: da im Leben das Mitsterben mit Christus immer nur im Fragment gelang, trägt das endgültige Sterben nicht nur den Charakter des seligen Sich-Voll­endens, sondern es bringt auch die letzte bittere Erfahrung der Nichtigkeit des Lebens. Von daher kann Paulus das Sterben auch ganz im Rahmen der jüdischen Leidenstheologie als Strafe und Mög­lichkeit zur Sühne deuten (vgl. 1Kor 11,32; 5,5).

Und doch bleibt wahr: Der Christ ist grundsätz­lich befreit von einem Sterben, das als letzte Kon­sequenz der Sünde nur sinnlos und absurd ist. Im Erleiden des Todes als biologischer Lebensgrenze ist er «in anderer Weise passiv als im Erleiden des als Konsequenz seines eigenen Tuns verschulde­ten Fluchtodes. Im Fluchtod ist der Mensch das Subjekt einer Aktivität, die er dann passiv erleiden muß. Das vom Fluchtod befreite Lebensende hin­gegen erleidet der Mensch in einer Passivität, die durch die Aktivität des Schöpfers bedingt ist. Eine solche Passivität kann kein Übel sein.»[19]

III. Konsequenzen für eine christliche Praxis

Wenn sich so etwas wie ein roter Faden durch die verschiedenen biblischen Aussagen zum Thema Sterben zieht, so ist es dieser: die Betrachtung des Sterbens ist aufs engste verknüpft mit der Rede vom Leben. Das Sterben ist nicht Sinnziel und Horizont des Lebens, so daß dieses abgewertet wird zu einer Einübung in den Tod (ars moriendi), sondern umgekehrt: das Leben als das Umfassende hat das Sterben als inneres Moment bei sich. Dar­um lädt der christliche Glaube den Sterbenden ein, auf das Leben zu blicken. Aber dieser Blick kann entsprechend der Doppelgesichtigkeit des Todes als Vollendung des menschlichen Lebens in Gott oder als Besiegelung der Ohnmacht des sich selbst suchenden Lebens sehr verschieden sein. Ver­schieden sind damit auch die theologischen Kon­sequenzen für die Sorge an Sterbenden.

1. Sterben als Vollendung des Lebens

Ein langes, erfülltes Leben, welches sich im «natürlichen Alterstod» (der bisher nur im Ver­hältnis 1 : 100000 vorkommt) vollendet und fried­voll in Gott hineinstirbt, gehört nach dem Zeug­nis der Schrift offenbar zum vollen, ursprünglich von Gott so gewollten Menschsein des Menschen. Darum hat der christliche Glaube, der von der Er­lösung des ganzen Menschen und mithin auch sei­nes Sterbens durch Jesus Christus weiß, sich in be­sonderer Weise für gesellschaftliche und indivi­duelle Verhältnisse einzusetzen, in denen solches Leben und Sterbendürfen ermöglicht und erleich­tert wird und dem Sterbenden die dazu erforder­lichen Hilfen und Gegebenheiten bereitgestellt werden.[20] Es sind Hilfen innerer und äußerer Art. Mit den Hilfen mehr äußerer Art ist nicht nur eine ärztliche Versorgung gemeint, welche der Person des Sterbenden gerecht wird, sondern vor allem die Schaffung von Verhältnissen, die der persona­len Würde des Menschen in seiner letzten Reife- zeit entsprechen. Daß viele in äußerster Einsam­keit, entweder in Intensivstationen durch einen Wust von technischen Apparaten und Instrumen­ten vom personalen Kontakt mit den Mitpatien­ten, Pflegern und Ärzten getrennt, oder in Neben- und Abstellräumen von Krankenhäusern sterben, die sich mehr und mehr als «Servicestationen für Gesundheit und optimale biotechnische Versor­gung verstehen»,[21] ist mit der Würde des Sterben­den, da der Mensch «in Vollreife dahingeht, ein­gebracht wie die Garbe zu ihrer Zeit» (Hi 5,26), schlechterdings nicht vereinbar. Die heute schon und in Zukunft wohl immer weiter mögliche, rein vegetative Erhaltung menschlichen Lebens durch eine großaufgebaute Apparatur hat zumindest die Gefahr bei sich, den Sterbenden zu einem Objekt zu depotenzieren und nicht so sehr um der ster­benden Person, sondern um des Egoismus medi­zinischer Selbstbehauptung willen, dem Tod eine biologische Minimalexistenz abzuringen. So mag man zwar den Sieg instrumentellen menschlichen Könnens feiern – der Sterbesituation als letzter personaler Reifesituation des Lebens wird man so kaum gerecht. So wenig das menschliche Leben von außen abgekürzt und begrenzt werden darf, da es allein in Gott seine Grenzen hat, so wenig darf es unterpersonal, d.h. allein durch die tech­nische Erhaltung bestimmter Lebensfunktionen ohne jede Aussicht auf weiteres personales Leben erhalten werden. Vielmehr hat die ärztliche Kunst Hilfe zu friedlichem Sich-Vollenden des Lebens geben. – Zu diesen äußeren Sterbehilfen haben andere mehr innerer Art zu kommen. Wenn das Sterben Vollendung des Lebens in Gottes Leben hinein ist, so ist der Sterbende – so paradox das klingt – gerade in seinem Lebensverlangen, in seiner Hoffnung und Liebe zum Leben zu stärken. ¿Nur wenn das Leben Sinn hat, hat auch der Tod ¡Sinn: gerade diese Wahrheit hat sich in der letzten Phase des Lebens zu bewähren. Diese theologische Forderung trifft sich auch mit Erkenntnissen der Profanwissenschaften, die darauf hinweisen, daß Sterbende im allgemeinen den Willen haben, noch weiter in Kontakt mit dem alltäglichen Leben zu stehen und, wenn auch nur eine noch so kleine Frist zu leben. Gerade bei denen, die das Leben lieben, verliert der Tod ein Stück weit seine Schrecken.[22] Der Sonnengesang des hl. Franz von Assisi, ein Loblied auf das Leben, auf dem Sterbe­bett geschrieben, mag dafür ein beredtes Beispiel sein. Darum ist es auch vom christlichen Glauben her nicht geringzuachten, sondern zu unterstüt­zen, daß der Sterbende sich um seine Angehörigen sorgt, daß er gelegentlich noch die verschieden­sten alltäglichen praktischen Angelegenheiten regelt, ja sogar noch langgehegte Zukunftspläne forciert. All das gibt dem Sterbenden das Gefühl der Erfüllung des Lebens. Dabei kann gerade die Hoffnung auf das kommende ewige Leben frei machen von egoistischer Sorge um das eigene Leben und Sterben; sie kann den Sterbenden öff­nen zu selbstloser letzter Fürsorge für das Leben anderer und zur Bereitschaft, bewußt und willig Platz zu machen für die kommende Generation. Christliche Sorge um die Sterbenden wird all diese «kleinen Hoffnungen», die der Sterbende zeigt, zu unterstützen und zu stimulieren suchen. Denn nur wer «kleine» und «vorletzte» Hoffnungen hat und darin die Lebensgabe und -zusage Gottes erblickt, kann auch die «große» Hoffnung auf eine nie endende Zukunft des Lebens hegen, eine Hoff­nung, die sich gerade in den kleinen Hoffnungen konkret verheißt und vorwegentwirft.[23] Freilich, nur da kann das Sterben als Vollendung des Le­bens im letzten und vollen Sinn erfahren werden, wo sich die Hoffnung auf die Leben erweckende Macht Gottes richtet. Sie ist der einzige Bezugs­punkt, der dem erlöschenden Leben noch Identi­tät, Sinn und Zukunft zusprechen kann. Damit unterscheidet sich christliche Sorge um die Ster­benden von allen eindimensionalen Versuchen, dem Tod als natürlichem Ende sinnvoll begegnen zu können. Christliche Hoffnung vermittelt sich dem Sterbenden nicht allein durch das Wort, son­dern vor allem durch die persönliche, den Tod nicht verdrängende Haltung der Menschen am Sterbebett und durch Zeichen der Liebe. In der zwecklosen Liebe, die dem Sterbenden bis zuletzt erwiesen wird (Verharren am Sterbebett, Lieb­kosungen) wird am überzeugendsten dem Ster­benden nahegebracht, daß die menschliche Ge­meinschaft der Liebe auch durch den Tod nicht zerstört wird. «Einen Menschen lieben heißt sagen: du wirst nicht sterben.»[24] Die gleiche Funk­tion hat auch die Sterbeliturgie. Schon die An­wesenheit des Priesters kann schweigendes Zei­chen jener Hoffnung sein, die auch dann noch standhält, wenn alles andere zerbricht. In der Sterbeliturgie begleitet die Kirche den Sterbenden an seine Grenze und übergibt ihn gleichsam Gott und der himmlischen «Gemeinschaft der Heili­gen». So ist sie Zeichen der Hoffnung, daß das Sterben die Gemeinschaft der Liebe nicht zer­stört.

2. Sterben als sinnwidrige Ohnmachtserfahrung

Bisher zogen wir nur die Konsequenzen, die sich aus der Betrachtung eines einzigen «Gesichts» des janusköpfigen Sterbens ergeben. Alles Gesagte bliebe in falscher Einseitigkeit, würde man nicht beachten, daß die Erlösung des Sterbens durch Jesus Christus, wie alle Erlösung, nur anfanghaft verwirklicht ist und ihrer Vollendung noch harrt. Auch wenn der Christ den Tod als «Folge der Sünde» und das Sterben als Besiegelung eines sinnwidrigen Lebens, das sich Gott und seinem Anspruch verschließt und allein auf sich baut, hin­ter sich gebracht hat, auch wenn er bereits in sei­nem Lebensvollzug das Sterben als Moment wah­ren Lebens immer wieder verwirklicht haben sollte, so gelingt all dies doch nur je im Bruch­stück. Darum ist auch für den Erlösten das Sterben nicht einfach die natürliche Vollendung seines Le­bens, sondern es wird immer auch erfahren als das Nichtseinsollende, als das Düstere und Beängsti­gende.[25] Weil das «Mitsterben mit Christus» im­mer nur im Fragment gelang, weil der Mensch in seinem Leben zu wenig «starb», darum ist das Sterben am Ende nicht nur Vollendung, sondern zugleich bitter und düster. Es muß erst noch zu einem oft schwierigen schrittweisen Verzichtenkönnen auf das Leben, das man vordem nicht hin­geben wollte, kommen. Dabei steckt in der Angst vor dem Sterben nicht nur die Furcht vor dem Kommenden, sondern vor allem die Erfahrung der Nichtigkeit des Vergangenen. «Die Leere der Diesseitserfahrung ruft die Angst vor der Leere des Jenseits.»[26] Falls der Mensch sich wesentlich im Haben, im Leisten und im Konsumieren wäh­rend seines Lebens verwirklicht haben sollte, «muß» er sich gegen das Sterben wehren, er muß den Tod verdrängen und verleugnen.[27] So zeigt sich: Nicht so sehr der Tod, sondern das zurück­liegende Leben, das nun vor seinem Abschluß steht, bedarf der Bewältigung. So gesehen ist das Sterben die Stunde der Wahrheit, deren verschie­dene Phasen von der Weigerung bis zur fried­vollen Bereitschaft E. Kübler-Ross[28] eindrucks­voll beschrieben hat. Jetzt spätestens gilt es an­zunehmen, daß das Leben einem nicht gehört und daß es sich nicht durch eine auch noch so ausge­dehnte Verlängerung in der Zeit aus sich heraus vollenden kann. Das Sterben gibt somit dem Men­schen die letzte Chance, aus sich selbst auszu­brechen und das Leben, das vordem mit Christus nicht sterben wollte, auf Gottes Zukunft hin zu lassen. Auch dies zeigen die Zeugnisse sterbender Menschen, die gerade in der Konfrontierung mit dem Tod einen grenzenlos sich weitenden Raum innerer Freiheit erfuhren.[29]

In diesem Zusammenhang wird nun nicht nur verständlich, sondern auch theologisch äußerst sinnvoll das Bemühen vieler Sterbender, ihr Le­ben «in Ordnung» zu bringen, ihm einen letzten Sinn zu geben, offene Konflikte noch zu verarbei­ten, Frieden zu schließen, Schuld zu vergeben, Un­geordnetes zu bereinigen. Das Ja zum Sterben als Vollendung des Lebens in Gott – all das, was wir im vorigen Abschnitt betrachteten – setzt das Ja zum vergehenden Leben voraus. Und weil dieses von uns aus nie ganz gelingt, weil unser Leben im­mer auch ein Leben der Selbstbehauptung und Ichverkrampfung war, darum bedarf der Mensch im Sterben der Vergebung von Seiten Gottes; er bedarf des Ja Gottes zu seinem Leben, der Zusage, daß «Gott auch auf krummen Zeilen gerade schreibt». Eben dies ist ein weiterer wichtiger Aspekt der Sterbeliturgie: sie sagt dem Sterbenden die vergebende Nähe Christi und die bedingungs­lose Annahme durch Gott zu.

3. Tod ohne «Sterben»

So wie das heutige Leben vielen Menschen keine Zeit läßt zum Leben, so läßt auch der Tod vielen keine Zeit zum Sterben.[30] Da sind die unzähligen Verkehrsunfälle, die Opfer von Krieg und Gewalt, der Massentod, der über das Individuum hinweg­geht, die Krankheiten, die plötzlich und ohne Vor­warnungen den Tod bringen, ohne daß ein Prozeß des Sterbens als innerer Reifung vorausging. So wie im AT das eigentlich Erschreckende des To­des der jähe und zu frühe Tod war, so ist es auch heute noch vielfach. Das Sterben Jesu ist eine Ant­wort auch auf den Tod der vielen, die sterben, ohne zu «sterben». Jesus ist gestorben ohne Trost und Gemeinschaft, ohne von Worten der Liebe und Hoffnung begleitet zu werden, ohne sein Le­ben und Werk von innen her vollenden zu kön­nen. Indem Gott diesen sinnwidrigen Tod als eigenen übernahm und eben diesem Tod die neue Zukunft der Auferstehung eröffnete, zeigt er, daß er auch dem Sterben all derer nahe ist, die ohne Reifung und Vollendung den banalen, zufälligen und sinnlosen plötzlichen Tod sterben. So gibt Jesu Tod jedem Tod Hoffnung, und Hoffnung ist die eigentliche Botschaft, welche der christliche Glaube von Tod und Sterben hat.

Quelle: Concilium 10 (1974), S. 270–278.


[1] Vor allem; K. Rahner, Zur Theologie des Todes (Freiburg-Basel-Wien 1958); R. Troisfontaine, Ich sterbe nicht… (Freiburg-Basel-Wien 1964); L. Boros, Mysterium Mortis (Olten-Freiburg 1962); E. Jüngel, Tod (Stuttgart 1971).

[2] Die wichtigsten Autoren dieser Theorie sind: H. E. Hengstenberg, Einsamkeit und Tod (Regensburg 1938); P. Glorieux, In hora mortis: MelScRel.6 (1949) 185-216; R. W. Gleason, Toward a Theology of Death: Thought (Fordham University Quarterly) 23 (1957) 39-68; Rahner, Troisfontaine, Boros, aaO.; J. Pieper, Tod und Unsterblichkeit (München 1968).

[3] Rahner, aaO. 30.

[4] Ebd. 85.

[5] AaO. 9.

[6] Boros, aaO. 19. – Ebenso: Troisfontaine, aaO. 120, 133; P. Schoonenberg, Und das Leben der zukünftigen Welt: H. H. Berger u.a., Leben nach dem Tode (Köln 98f).

[7] Zusätzlich werden von Boros, Troisfontaine und Schoonenberg noch folgende Argumente zugunsten der Hypothese namhaft gemacht; 1. Nur unter der Bedingung einer solchen vollpersonalen Endentscheidung komme menschliches Leben zur wahren Vollendung seiner selbst; 2. nur diese Hypothese könne verständlich machen, daß sich im Tod der Pilgerstand vollende, und zwar in dem Sinne, daß die Grundrichtung der menschlichen Freiheit, wie sie in der letzten Entscheidung erfolgt, unwiderruflich ist, selbst in der Gottesbegegnung nach dem Tod; 3. auch für die Kleinkinder, Geistesgestörten und Nichtevangelisierten eröffne sich von dieser Theorie her im Tod die Möglichkeit einer personalen Glaubensentscheidung.

[8] AaO. 116.

[9] Das geht so weit, daß J. Pieper, aaO. 128, schreibt: Der Tod ist immer «ein das Dasein von innen her abschließender Akt, … ein wirkliches Zu-Ende-bringen, Vollzug des Lebensganzen. Vor allem ist mit alledem das sowohl Tröstliche wie auch wiederum unmittelbar Einleuchtende behauptet, daß es einen unzeitigen oder vorzeitigen Tod, genaugenommen, gar nicht gibt. Immer stirbt vielmehr der Mensch, in einem weit exakteren Sinn, als man es meistens realisiert, ‹am Ende seines Lebens›»).

[10] Zwar wird bei allen Autoren die Entscheidung in Zusammenhang mit den Lebensentscheidungen gesehen. Doch bringt nach ihnen die Todesentscheidung hinsichtlich ihrer Vollpersonalität, Ganzheitlichkeit und totalen Freiheit etwas qualitativ Neues, so daß grundsätzlich mit einer Korrektur der vorangehenden Lebensentscheidungen gerechnet werden muß. Die damit gegebene Überlastigkeit der Todesentscheidung kommt aber in Konflikt mit der Glaubenswahrheit vom Tod als dem Ende der Pilgerzeit. Denn indem die Verfechter der Theorie die letzte Freiheitstat in den Augenblick des Übergangs legen müssen, da erst dann der Mensch den Bedingungen der Materialität und Fragmentalität entnommen ist, fällt die Endentscheidung bereits außerhalb der condition humaine, wiewohl postuliert wird, sie gehöre noch der Situation des Pilgerstandes an. Gerade an der ontologischen Beschreibung der Übergangssituation erweist sich die Hypothese als Konstrukt.

[11] Siehe zum Folgenden: G. Greshake, Auferstehung der Toten (Essen 1969) 175 ff. Dort auch die wichtigste Literatur.

[12] G. v. Rad, «Gerechtigkeit» und «Leben» in den Psalmen: Festschrift A. Bertholet, hrsg. v. W. Baumgartner u.a. (Tübingen 1950) 427.

[13] Die Gründe dafür sind zusammengetragen bei Greshake, aaO. 186 ff.

[14] Siehe dazu G. Schunack, Das hermeneutische Problem des Todes (Tübingen 1967); Greshake, aaO. 246ff.

[15] Jüngel, aaO. 134.

[16] A. Strobel, Kerygma und Apokalyptik (Göttingen 1967) 144.

[17] E. Käsemann, Die Gegenwart des Gekreuzigten: Christus unter uns (Stuttgart-Berlin 1967) 6,9.

[18] So wird gerade in der Liebe sowohl das Sterben als auch das Gewinnen wahren Lebens vorweggenommen. Darauf wird in der Literatur häufig hingewiesen. Vgl. z.B. Boros, aaO. 68; F. Ulrich, Leben in der Einheit von Leben und Tod (Frankfurt 1973).

[19] Jüngel, aaO. 115 f.

[20] Hier begegnen sich mithin die Forderungen des christlichen Glaubens mit den außerchristlichen Zielvorstellungen eines «natürlichen Todes». Dieser «verlangt eine gesellschaftliche Verfassung, in der ein solcher natürlicher Tod die Regel ist oder mindestens zur Regel werden kann. Jedem muß es möglich sein, am Ende seiner Kräfte zu verlöschen, ohne Gewalt und Krankheit oder vorzeitigen Tod seine biologischen Lebenskräfte bis an ihr Ende auszuleben»: W. Fuchs, Todesbilder in der modernen Gesellschaft (Frankfurt 1973) 72.

[21] K.-H. Bloching, Tod (Mainz 1973) 27.

[22] «Ich habe schon wiederholt beobachtet, daß Menschen, die intensiv leben und wissen, warum sie leben, dem Altern und dem Nahen des Todes mit großer Gelassenheit entgegensehen. Sie betrachten es als den natürlichen Prozeß ihrer Reifung, ihrer Vollendung — und dies ganz unabhängig von einem möglichen Glauben an ein personales Fortleben nach dem Tod»; I. Lepp, Der Tod und seine Geheimnisse (Würzburg 1967) 184.

[23] Zu dieser Terminologie: große/letzte und kleine/vorletzte Hoffnungen vgl. K. Barth, Kirchliche Dogmatik IV, 1,131 f und Greshake, aaO. 85 f.

[24] G. Marcel, Das Geheimnis des Seins (Wien 1952) 472.

[25] Deshalb löst die marxistische und neopositivistische These vom Tod als natürlichem Ende, das in einer repressionsfreien Gesellschaft durch konfliktlose Hinnahme dieser Sachlage erfahren werden könne, das Problem nicht. Siehe dazu: Fuchs, aaO. 219. – Die Angst vor dem Sterben liegt tiefer als in gesellschaftlichen Verhältnissen oder in einer noch nicht zum Durchbruch gekommenen Aufklärung über den Tod. Die Bagatellisierung dieser Angst wird weiter zur Verdrängung des Todes und zur Entstehung zahlreicher Neurosen führen, wenn nicht der eigentliche Grund der Angst namhaft gemacht wird: Es zeigt sich, daß am Tod eine rein emanzipatorische Auffassung vom Menschen scheitert und sich hier die Wahrheit vom Leben als unverfügbarer Gabe Gottes erweist. Siehe zu diesem Problemkontext: G. Scherer, Der Tod als Frage an die Freiheit (Essen 1971).

[26] R. Leuenberger, Der Tod (Zürich 1971) 127.

[27] Vgl. D. Sölle, Der Tod in der Mitte des Lebens [Referat auf dem Evangelischen Kirchentag 1973]: Herder- Korr. 27 (1973) 412.

[28] Interviews mit Sterbenden (Stuttgart 1971).

[29] Siehe dazu Pieper, aaO. 135f.

[30] Vgl. Leuenberger, aaO. 125.

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