Rudolf Bultmanns Predigt über Matthäus 25,31-46 von 1959: „Wir alle wissen, dass wir Stunden der Ruhe brauchen – aber soll diese Ruhe nur unserer körperlichen Erholung dienen, damit wir Kraft für unsere Arbeit gewinnen? Sollte sie nicht auch eine Erholung für die Seele sein? Sollte sie uns nicht Zeit geben, über die tiefere Dimen­sion des Lebens nachzudenken, damit wir nicht nur für unsere Arbeit, sondern auch für die unerwarteten Begegnungen mit dem Herrn Kraft schöpfen können?“

Ich frage mich, ob sich Rudolf Bultmann damit einen Gefallen getan hat, seine 1959 auf Englisch gehaltene Predigt über Matthäus 25,31-46 1962 in der Festschrift für Ernst Wolf zur Veröffentlichung zu bringen.

Predigt über Matthäus 25,31-46 (1959)

Von Rudolf Bultmann

31 Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, 32 und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, 33 und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. 34 Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! 35 Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. 36 Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. 37 Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? 38 Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? 39 Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? 40 Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. 41 Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! 42 Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. 43 Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen, und ihr habt mich nicht besucht. 44 Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? 45 Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. 46 Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben. (Matthäus 25,31-46)

Es mag scheinen, dass diese Worte nicht durch eine Predigt erklärt werden müssen. Sind sie nicht an sich schon eine Predigt, einfach und leicht zu verstehen. Was sollen wir ihnen noch hinzufügen? Aber wir müssen aufpassen, dass wir die Konsequenzen dieser einfachen Worte für unser eigenes Verhalten nicht übersehen.

Die Beschreibung, das Bild des Jüngsten Gerichts, das in diesen Worten gegeben wird, ist eine ernste Ermahnung, ein Aufruf zur Entscheidung: Was werden wir wählen, den Platz zur Rechten oder zur Linken? Die Antwort scheint sehr einfach zu sein: Zur Rechten, natürlich. Und so sind wir versucht zu fragen: Was sollen wir tun, um zur Rechten gestellt zu werden? Die Worte Jesu sagen uns jedoch, dass die Frage „Was sollen wir tun?“ eine falsche Frage ist, denn sie setzt die Vorstellung voraus, dass wir eine bestimmte Verhaltensordnung befolgen oder besondere Taten vollbringen könnten, durch die wir den Platz zur Rechten erreichen kön­nen. Die Worte Jesu lehren uns, dass die Frage „Was sollen wir tun?“ zu spät kommt, dass wir unsere Entscheidung bereits getroffen haben, ohne uns dessen bewusst zu sein.

Die Menschen zur Rechten sind sich nicht bewusst, dass ihre Taten für den Herrn getan wurden, dass der Herr ihnen immer wieder begegnet ist, so wie die Menschen zur Linken sich nicht bewusst waren, dass sie die Begegnungen des Herrn nicht erkannt hatten. Wenn wir un­serem Text einen Titel geben wollen, dann muss es dieser sein: Die Bedeutung unseres un­bewussten Verhaltens. Im Allgemeinen denken wir natürlich an die Worte Jesu, die von uns eine bewusste Entscheidung verlangen. Aber heute wollen wir nach unserem Text die Bedeutung unseres unbewussten Verhaltens betrachten.

Wir dürfen nicht übersehen, dass die Worte der Ermahnung einerseits ein Trost für jene Menschen sind, die mit großem Ernst Christen sein wollen, die sich mit tiefer Gewissen­haftigkeit bemühen, die Gebote des Herrn, wie sie sie verstehen, zu erfüllen. Menschen, deren Gewissen mit Verantwortungsbewusstsein belastet ist, die sich selbst prüfen und sich eingestehen müssen, dass sie immer wieder ihre Pflichten nicht erfüllt haben, dass sie das Ideal christlicher Lebensführung nie verwirklichen können. Für all diese Menschen sind die Worte Jesu in der Tat tröstlich, denn sie sagen ihnen: Seid nicht betrübt, seid nicht beunruhigt, denn das Gericht des Herrn hängt nicht von eurem bewussten Wirken ab, sondern von eurem unbewussten Verhalten, und seine Augen sehen, was ihr ohne das bewusste Bemühen um die Erfüllung seiner Gebote getan habt, was ihr ohne Überlegung getan habt. Wir können die Wahrheit der Worte Jesu wie folgt formulieren: Das Wesentliche ist nicht das Tun des Menschen, sondern das Sein; mit anderen Worten: Das Wesentliche ist nicht das, was wir tun, sondern das, was wir sind … Genau das ist das Entscheidende.

Die Worte der Ermahnung können auch ein Trost für diejenigen sein, die sich selbst in Frage stellen und sich fragen, ob ihr Glaube ein echter Glaube ist; für diejenigen, die im Zweifel sind, weil sie nicht allen christlichen Lehren zustimmen können, und die sich fragen: „Wie viel muss ich glauben? Darf ich mich Christ nennen, wenn ich nicht alles glauben kann, was in der Bibel, in den christlichen Glaubensbekenntnissen steht?“ Oder für diejenigen, die sich über die Frage streiten: „Welche ist die wahre Religion? Gibt es nicht viele Religionen, in denen Gott auch angebetet wird?“

Für all diese Menschen sind die Worte Jesu auch ein Trost, denn er sagt zu ihnen: Seid nicht betrübt, seid nicht beunruhigt. Das Urteil des Herrn hängt nicht von eurem bewussten Glau­bensbekenntnis ab, sondern von dem Glauben, der unbewusst in eurem Verhalten wirkt. Genau das ist das Entscheidende.

Schließlich gibt es vielleicht Menschen, die, wenn sie das Lob der unbewussten Taten hören, klagen: Ach, wir sind nicht mehr in der Lage, etwas zu tun, weder bewusst noch unbewusst. Ich meine damit Menschen, die krank sind und deshalb meinen, sie seien nur eine Last für andere; oder alte Menschen, die auch das Gefühl haben, dass sie nichts mehr beitragen. Solchen Menschen müssen wir laut unserem Text sagen: Seid nicht betrübt, seid nicht beunruhigt. Sein ist mehr als Tun, was du bist, ist mehr als das, was du tust. Ihr wisst nicht, wie viel Kraft von eurem unbewussten Verhalten in eurem Leiden oder in eurem Alter ausgehen kann. Deine Geduld, deine Gelassenheit, die Art und Weise, wie du dein Leiden erträgst, kann anderen mehr geben, als alle Taten je erreichen könnten. Auch hier ist das unbewusste Verhalten das Entscheidende.

Doch betrachten wir nun die andere Seite: Unser Text ist nicht nur ein Trost, sondern auch eine ernste Warnung und Ermahnung. Wer sind die Menschen, die auf der linken Seite stehen? Sie sind überrascht, dass sie verflucht werden sollen. Was sind die schlechten Taten, für die sie die Strafe verdienen? Waren es böse Taten? Nein! Es waren überhaupt keine Taten! Diese Menschen wurden verflucht, weil sie nichts getan haben, weil sie die Bedürftigen nicht versorgt oder besucht haben.

Diese Menschen können in ihren eigenen Augen und in den Augen anderer hochgeschätzt und ehrenhaft sein. Sie mögen fleißig und gewissenhaft in ihrer Arbeit sein. Sie mögen das Gefühl haben, dass sie ihre Pflichten erfüllen, und sie mögen ihre Verantwortung gegenüber ihrer Familie und der Gemeinschaft, in der sie leben, spüren. Und das alles soll nicht ausreichen? Nein, das ist es nicht!

Diese Menschen mögen auch die Überzeugung haben, dass sie gute Christen sind, denn sie spenden ihr Geld großzügig an ihre Kirche, sie besuchen sonntags die Gottesdienste, sie spenden für wohltätige Zwecke. Sollte das alles nicht ausreichen? Nein, das ist es nicht. Warum nicht? Erinnern wir uns an den Pharisäer, der im Tempel stand und sagte: „Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie andere Menschen bin, nicht wie Wucherer, Ungerechte, Ehe­brecher oder gar wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich bekomme.“[1] Ich will nicht sagen, dass alle angesehenen und ehrbaren Menschen, die ein reines Gewissen haben, wie der Pharisäer sind, dass sie stolz sind und sich rühmen, wenn sie sich mit anderen Menschen vergleichen. Aber es muss darauf hingewiesen werden, dass das, was ihnen ihr gutes Gewissen gibt, in den Augen des Herrn nicht das Entscheidende ist.

Dann können wir fragen: Gibt es keinen Unterschied zwischen gerechten Menschen und sol­chen, die Böses tun? In gewissem Sinne: Nein. Ihr wisst, dass man Jesus vorwarf, er sei der Freund der Sünder und Huren, und dass er sagte: Die Zöllner und Huren werden vor euch in das Reich Gottes kommen (Matthäus 21,31). Das war schockierend für seine Zeitgenossen, und ist es nicht auch schockierend für uns heute?

Es ist paradox: Einerseits haben wir die Pflicht, uns um die Erziehung unserer Jugend zu be­mühen, um sie vor schlechtem Verhalten im Leben zu bewahren; wir haben die Pflicht, diejenigen, die auf Abwege geraten sind, auf den rechten Weg zu führen usw. Andererseits können uns die Sünder aber auch beschämen. Nach Jesu Worten können sie uns ein Beispiel sein. Wie kann das sein und warum? Natürlich nicht wegen ihrer bewussten Taten, sondern wegen ihres unbewussten Wesens, das Jesus hinter ihren Taten sieht.

Die Worte Jesu öffnen uns die Augen für eine tiefere Dimension des Lebens, jenseits der übli­chen Ebene, auf der wir zu leben gewohnt sind, jenseits der Ebene, auf der wir uns bewusst bewegen, auf der wir fleißig und gewissenhaft sein mögen, auf der wir versuchen, unsere Pflichten und Verantwortungen zu erfüllen. Die Augen der Menschen auf der linken Seite waren nicht offen für diese tiefere Dimension, sie waren nicht offen für die Begegnungen mit Jesus, weil solche Begegnungen nicht zu ihrem Lebensentwurf gehörten. Diese Begegnungen mit Christus sind immer unerwartet, sie lassen sich nicht planen oder vorbereiten und sie sind oft störend. Deshalb verschließen wir unsere Augen und sehen und verstehen nicht, was sie von uns verlangen, und wir versäumen es, das zu tun, was wir tun sollten. Mit anderen Worten: Wir folgen einer bewussten Rationalisierung, anstatt uns vom Unbewussten leiten zu lassen. Daher sind wir gefragt: Werden wir diesen unerwarteten Momenten in unserem täglichen Leben Aufmerksamkeit schenken?

Die Bedeutung unseres unbewussten Verhaltens besteht jedoch nicht nur darin, dass wir un­bewusst nicht das tun, was wir tun sollten, sondern es ist ebenso wichtig, dass wir uns der Fol­gen unseres unbewussten Verhaltens oft nicht bewusst sind. Damit meine ich die einfache Tatsache, dass wir uns der Macht nicht bewusst sind, die wir haben, um eine klare und freudige Atmosphäre in unserem Umfeld, in unserer Familie oder an unserem Arbeitsplatz zu schaffen. Alles, was mit Absicht getan wird, hat den Geschmack von Zielgerichtetheit. Wie viel kann im Vergleich dazu ein echtes freundliches Wort, ein freundlicher Blick bewirken, ohne dass wir es bewusst wollen. Wie viel hingegen kann durch unbewusste Unfreundlichkeit, durch kalte Gleichgültigkeit zerstört werden!

Für uns moderne Menschen ist es bezeichnend, dass unsere Zeit fast immer vollständig belegt ist, dass wir immer wieder antworten „Ich habe keine Zeit“. Ich brauche nicht darauf hin­zuweisen, welche schlechten Auswirkungen dieses rastlose Leben auf unsere Gesundheit hat. Wir alle wissen, dass wir Stunden der Ruhe brauchen – aber soll diese Ruhe nur unserer körperlichen Erholung dienen, damit wir Kraft für unsere Arbeit gewinnen? Sollte sie nicht auch eine Erholung für die Seele sein? Sollte sie uns nicht Zeit geben, über die tiefere Dimen­sion des Lebens nachzudenken, damit wir nicht nur für unsere Arbeit, sondern auch für die unerwarteten Begegnungen mit dem Herrn Kraft schöpfen können? Das bedeutet, dass wir in unserem Wesen gestärkt werden, damit wir uns bewusst werden, was jeder Augenblick von uns verlangt.

In unserem unbewussten Verhalten offenbart sich unser eigenes Wesen. Oft wird es schon un­seren Mitmenschen, unseren Brüdern und Nachbarn offenbart, vor allem aber wird es radikal vor den Augen unseres Richters offenbart. In unserem unbewussten Verhalten offenbart sich, ob unser Wesen edel und würdig ist, oder ob es niedrig und wertlos ist. Dies ist ein Trost für die Menschen zur Rechten, aber eine Ermahnung für die Menschen zur Linken. Und es besteht kein Zweifel daran, dass der eigentliche Zweck unseres Textes seine Ermahnung ist.

Die Ermahnung zu was? Sagte Jesus zu den Linken, sie sollten ihr unbewusstes Verhalten än­dern? Bewusst statt unbewusst zu sein? Ja! Bewusst sein in einem entscheidenden Punkt, nämlich dass sie die tiefere Dimension des Lebens vergessen hatten. Und das bedeutet para­doxerweise, dass sie sich der Tatsache bewusst sein müssen, dass das Urteil des Herrn von ih­rem unbewussten Tun abhängt, denn der Herr berücksichtigt nicht ihr Tun, sondern ihr Sein. Sprechen wir hier nur von den Menschen auf der linken Seite? Bilden wir uns ein, dass wir zu den Menschen auf der rechten Seite gehören? Was wir gerade über die Menschen zur Linken gesagt haben, gilt in Wirklichkeit für uns alle. Wir alle müssen uns selbst prüfen und nicht über andere urteilen.

Was muss dann das Wesen unseres Wesens sein, damit es sich in solchen unbewussten Taten offenbart, die in den Augen des Herrn würdig sind? Die Antwort ist einfach: Wir müssen uns nur daran erinnern, dass all die unbewussten Taten, die in unserem Text genannt werden, Taten der Liebe sind. Die Liebe ist also die Kraft, durch die der Mensch seinen wahren Wert gewinnt. Das Geheimnis dieser Kraft ist, dass sie im Unbewussten wirkt und zum Charakter der menschlichen Natur, des menschlichen Wesens wird. Von dieser Kraft werden dann auch unsere bewussten Entscheidungen geleitet, die Entscheidungen, die wir in unserem täglichen Leben treffen müssen.

Aber die Frage bleibt: Wie können wir diese Macht empfangen? Wir können sie nicht er­greifen, aber sie kann uns ergreifen, wenn wir für sie offen sind. Die Quelle unserer Liebe ist, dass wir geliebt werden. Und unser Text mit seinem Trost und seiner Ermahnung, in dem Gott durch Jesus zu uns spricht, ist er nicht ein Beweis dafür, dass wir geliebt sind?

Gehalten am 26. April 1959 in der Hendricks Chapel, Syracuse, New York.

Quelle: Hören und Handeln. Festschrift für Ernst Wolf zum 60. Geburtstag, hrsg. von Helmut Gollwitzer und Hellmut Traub, München: Chr. Kaiser Verlag, 1962, S. 47-51.


[1] Lukas 18,11f.

Hier der Text als pdf.

Und hier die englischsprachige Originalfassung als pdf.

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