Von Ernst Wolf
1. Schrittweises theologisches Werden des Reformators
Wenn die Lutherforschung den entscheidenden Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis, Luthers «Turmerlebnis» möglichst früh anzusetzen suchte – man ist da heute zurückhaltender geworden so darf doch nicht übersehen werden, daß Luther über seine Frühschriften und Vorlesungen merkwürdig negativ berichtet. Er habe in ihnen dem Papst, das heißt der damit gemeinten Institution und Lehre, zuviel nachgegeben. Erst mit der zweiten Psalmenvorlesung von 1519 ändert sich das Urteil. Dieser Befund spricht freilich nicht gegen die mögliche Feststellung eines früh anhebenden schrittweisen theologischen Werdens. Es beginnt mit der Lösung «von der Autorität und den Autoritäten der scholastischen Theologie, gegen die er die heftigsten Worte findet, wobei er sich offensichtlich völlig darüber im unklaren ist, daß er sich damit schon von den Voraussetzungen der damaligen katholischen Theologie und Kirche überhaupt zu lösen beginnt. Seine Devotion dieser Kirche gegenüber bleibt bis ins Jahr 1518 hinein völlig intakt, wenn er auch lebhafte und ungenierte, manchmal leidenschaftliche Kritik an einzelnen Mißbräuchen übt. Er ist der Meinung, seine praktische Haltung und seine theologische Auffassung entspreche völlig derjenigen der Kirche, es bedürfe nur der Alarmierung ihrer eigentlichen Autoritäten, um wenn nicht Beseitigung, so doch Besserung der Mißstände zu erreichen. Selbst dann und da, wo er für seine Person bereits mit bestimmten Elementen der kirchlichen Frömmigkeit… gebrochen hat, kann er sie doch gleichzeitig mit aller Unbefangenheit pflegen … Sein kirchliches Amt führt er mit voller Strenge, wie er seine Mönchspflichten bis in die späte Zeit mit allem Ernst wahrnimmt» (Aland).
Begleitet wird dies von seelischen Kämpfen im Bereich seines Frömmigkeitslebens, im Umkreis des Bußproblems und in der Prädestinationsangst. Sie bestimmen den «existenziellen Charakter» seiner Theologie. Denn er sucht diese Anfechtungen in Orientierung an der Hl. Schrift durchzustehen, und das erlaubt es, die persönliche Erfahrung zu allgemeingültiger theologischer Erkenntnis zu erheben. Das geschieht erstmals – Luther hat es immer betont – bei der Ablaßfrage, an der sich ihm die bisherigen Probleme und Lösungsversuche neu ordnen. Aber erst die Begegnung mit Cajetan in Augsburg und die Leipziger Disputation machen ihm klar, daß er sich in theologischem Gegensatz zur römischen Kirche und ihrer Lehre befindet. Die Resolutionen zu den Leipziger Thesen bringen:
1. die Klärung seines «Schriftprinzips», ausschließliche Autorität der Hl. Schrift; Selbstauslegung der Schrift im Lichte ihres Christuszeugnisses;
2. die Förderung seines geistlichen Kirchenbegriffs in Konsequenz der früheren Erkenntnisse, aber ohne Preisgabe der sichtbaren katholischen Kirche und des Anspruchs auf sie: Kirche als «creatura Verbi»; Personengemeinschaft unter dem Haupt Christus; allgemeines Priestertum der Gläubigen gegenüber dem hierarchisch-päpstlichen Reservat der Schlüsselgewalt und der Schriftauslegung; kirchliche Ämterordnung als menschliche Einrichtung nach Römer 13 statt nach Matthäus 16; Ablehnung des päpstlichen Banns;
3. die schrittweise Entdeckung des Papsttums als «Antichrist» im Sinn des Zustands einer dämonisierten Kirche, die Wort und Gewissen vergewaltigt;
4. mit alledem das Auftauchen und die Bejahung der Frage nach der Reform der Christenheit zusammen mit dem Ausschauen nach dem Weg dazu.
Was Luther «eigentlich» gewollt hat, kann man so vielleicht in dem erkennen, was diese Entwicklung und die Hauptfragen seines theologischen Werkes innerlich zusammenhält: kritische Entfaltung und Anwendung des Kyrios-Bekenntnisses, der Aussage, daß Christus allein «mein Herr» sei, und zwar innerhalb der Frage nach der wahren Kirche und der Zugehörigkeit zu ihr. Dies soll im Folgenden entfaltet werden.
2. Christus allein der Herr
Das Evangelium ist die Krisis aller Religion: das ist die Antwort Luthers auf die Frage nach dem Wesen des Evangeliums, nach dem Verhältnis von Evangelium und Religion, nicht-christlicher wie auch christlicher Religion. Diese Antwort schließt zugleich Luthers reformatorisches Werk in sich. Von da aus treten alle Versuche, Luthers Anliegen aus einer herangebrachten eigenen theologischen Konzeption zu deuten und sachgemäß zu erfassen, zurück gegenüber dem Nachzeichnen dessen, was er selbst einmal als Summe seines Bemühens angibt : Er habe nichts gesucht,« denn daß die Heilige Schrift und göttliche Wahrheit an den Tag käme» (WA 58, 134). Das heißt für ihn zugleich als Parole: «nihil nisi Christus praedicandus».
Daß Luthers Rechtfertigungslehre formelhafter Ausdruck für sein reformatorisches Christusbekenntnis ist, diese Einsicht entspricht nicht nur der Genesis der Rechtfertigungslehre bei Luther, sondern hat auch dazu geführt, die Grundlage von Luthers Theologie geradezu in einer Weiterbildung der altkirchlichen Christologie zu sehen. In «schöpferischer Reproduktion» habe er «das altkirchliche Christusdogma zum Grunde aller Theologie gemacht» (W. Maurer), so daß man z. B. im «simul» des «iustus simul et peccator» eine Interpretation der altkirchlichen Lehre von der unio hypostatica erkennen könne. Diese These geht zwar zu weit, wenn sie die theologischen initia Luthers in ausschließlicher Gültigkeit meint bestimmen zu können, aber die Christologie in Luthers erster Psalmenvorlesung (1513/15) und ihre enge Verbundenheit mit einer Leib-Christi-Ekklesiologie spricht unverkennbar dagegen, Luthers Theologie lediglich aus einer Verknüpfung von Schrift und Gewissen abzuleiten. Der ökumenische Charakter von Luthers Denken, sein Aufgreifen altkirchlicher Traditionen, gehört zu seiner entscheidenden Frage nach der wahren Kirche bestimmend hinzu, und die Rechtfertigungslehre will gerade diesen Fragen die kritische Antwort geben. Der Glaube an den Christus praesens im Christus praedicatus, nicht die Rechtfertigungslehre ist denn auch der Scopus von Luthers Schriftauslegung. So konzentriert sich sein Anliegen auf die Wiedergewinnung und Sicherung der Erkenntnis, Jesus Christus sei mein Herr, das heißt: auf die konkrete Entfaltung des Kyrios-Bekenntnisses. Das ist auch die letzte Antwort auf die vielfach mißverstandene Frage Luthers nach dem ihm gnädigen Gott.
Es ist daher auch die Reformation für Luther nichts anderes als die permanente Rückführung der Kirche zu ihrem Verkündigungsauftrag, ökumenisch und universal gedacht als stets selbstkritische Prüfung ihrer Bindung an die Botschaft des Evangeliums. Das Revolutionäre in der Reformation Luthers – der Terminus reformatio spielt übrigens bei ihm eine ganz geringe Rolle – lebt vom Revolutionären des Evangeliums selbst, wie denn auch Luther – entsprechend seiner Selbstbeurteilung – zunächst als Prophet (wider Willen) und erst seit dem Ende des 17. Jahrhunderts ausdrücklich als Reformator gewürdigt wird.
Die wiederholt von Luther in fast formelhafter Weise getroffene Feststellung, was sein Werk Neues gebracht habe, kann dies nur bestätigen: Es werden von ihm (Schmalkaldische Artikel, BSLK 411,20; WATr 4, 4172) nicht zwei, sondern drei Errungenschaften aufgezählt: neben der Wiedergewinnung lauterer Evangeliumsverkündigung und evangeliumsgemäßer Sakramentsverwaltung (einschließlich der Reduktion der Zahl der Sakramente auf Taufe und Abendmahl) als dritte und nicht minder wichtige: die jenen beiden ersten Errungenschaften entsprechende neue Einstellung zum menschlichen Dasein im irdischen Zusammenleben der Gesellschaft, die Befreiung zum irdischen Beruf. Das Christenleben ist für Luther nicht mehr – wie das im Mittelalter weithin der Fall war und wie es dann auch zum Teil im Pietismus und im modernen Protestantismus ähnlich begegnet – eine vorwiegend «private» Angelegenheit oder eine Sache des Lebens im Raum der Kirche unter Abkehr von der «Welt» oder Zurückhaltung ihr gegenüber. Die ganze Hl. Schrift, sagt Luther, zeige, «daß es niemals einen Heiligen gegeben habe, der nicht beschäftigt gewesen wäre mit Politik oder mit Wirtschaft» (cf. WA 40 III, 207). Es gibt für den Christenmenschen kein «privates» Dasein. Diese Entdeckung in ihrer Auswirkung auf die Gesellschaft, deren Entklerikalisierung mit ihr verbunden ist, bedeutet, daß die Welt nun wieder als von Gott geschaffene Welt geglaubt wird: die Welt als der Ort der Bewährung des Glaubens in Gehorsam und Nachfolgen, als der zugewiesene Raum der Heiligung, als das Feld der Betätigung der Freiheit eines Christenmenschen; dies alles ohne daß eine «christliche Gesellschaft» proklamiert würde oder ein «christlicher Staat», so oft auch eine «christliche Obrigkeit» angeredet werden mag. Die Ordnung des Reiches Gottes und die Ordnungen in der Welt bleiben verschiedene Dinge. Die Kirche ist weder das Gesetz der Gesellschaft noch ihr Ideal, sie übt auch keine Herrschaft über die Gesellschaft aus. Welt und Gesellschaft als Raum der Heiligung, das heißt: der Glaube drängt zum Gehorsam, zum Zeugnis von Jesus Christus vor der Welt und zur Übung der Liebe in der Nächstenschaft. Luther kann das in seinem Traktat «De libertate Christiana» sehr kühn formulieren: der Glaube drängt dazu, dem anderen ein Christus zu werden; so wie mir Christus in seiner rettenden Liebe begegnet ist und begegnet (cf. WA 7, 66). Heiligung ist nun nicht mehr das Bemühen um Gewinnung eigener Gerechtigkeit und Seligkeit durch fromme Übungen und sittliche Vervollkommnung, sondern Heiligung hat das Widerfahrnis der Rechtfertigung zur ermöglichenden Voraussetzung und das irdische Leben in Solidarität mit den Nöten dieser Welt zur vorgefundenen Bedingung. So wie Gott einst Adam – Luther zeichnet dieses Bild – in den Garten Eden gesetzt hat mit dem Auftrag, ihn zu bestellen, sich die Erde «untertan» zu machen (cf. WA 7, 61), entsprechend wird der Christenmensch aufs neue an die Welt gewiesen. Er soll ihr das Heil Gottes bezeugen durch die Tat selbstlosen Dienens an der Überwindung der Heillosigkeit dieser durch den Abfall des Menschen von Gott in Unordnung geratenen Welt. Per hominem unum ist, sagt Luther (mit einer Formel Augustins) das peccatum originale in die Welt gekommen (WA 56, 310, 3), was dem Menschen freilich nur durch die Christusoffenbarung enthüllt und im Bekenntnis des Sünderseins vor Gott bewußt wird. So übt der Christenmensch, im Glauben dazu befreit und berufen, das dominium terrae als beauftragter Mitwirker Gottes (cf. WA 40 I, 436f.) an der Versöhnung der Welt mit Gott aus. Das geschieht im Rahmen einer Begegnung von Reich Christi und Reich der Welt, Evangelium und Gesetz, unter Gott als dem einen Herrn in beiden Regimenten.
Dieser Christusglaube Luthers hat seine Mitte darin, daß man dem in der Kirche verkündigten Zuspruch der Vergebung der Sünden vertraut. Denn nur solcher Glaube ist Anerkennung der Herrschaft Christi in ihrer absoluten und souveränen Freiheit und Ausschließlichkeit. Der Mensch aber entzieht sich dem immer wieder um seiner eigenen vermeintlichen Freiheit und Selbstbehauptung willen. In seiner Römerbriefvorlesung hat Luther das einmal festgestellt: «Wir glauben Gott, daß wir gerechtfertigt werden müssen, aber wir suchen selbst dies für uns zu erreichen, indem wir zu ihm beten, klagen und bekennen, Christus aber wollen wir nicht, denn Gott kann uns ohne Christus seine Gerechtigkeit geben.» So sagen wir. Darauf antwortet Luther mit Römer 3,22: «Gott will das nicht und kann das nicht… die Gerechtigkeit wird nicht gegeben, außer durch den Glauben an Jesus Christus … so gefällt es Gott, daran wird nichts geändert» (cf. WA 56, 255). Es ist Anmaßung und Überheblichkeit, nicht durch Christus gerechtfertigt werden zu wollen. Glaube an Christus fällt so mit Rechtfertigung und Sündenvergebung zusammen. Darin, daß er sich des Sünders annimmt, daß er um seinetwillen sich erniedrigt, daß er für ihn eintritt, sich mit ihm solidarisch macht und ihn so den Mächten der Sünde und des Todes, der Herrschaft des Teufels entreißt, so den Menschen seiner eigenen, auch seiner religiösen Selbst-Sucht entnimmt, darin erweist sich Christus als « Herr des Lebens». Alles steht auf diesem «Artikel» des Glaubens an Christus: «Und wenn dieser Artikel wankt, so sind wir verloren» (WA 47, 541). – «Darum liegt es ganz an diesem Artikel von Christo und hängt alles darin: Wer diesen hat, der hat es alles» (WA 46, 19). «Der Artikel macht nun Christen und sonst keiner» (WA 33, 160). Er ist nach den Schmalkaldischen Artikeln von 1537 der «Hauptartikel», von dem man «nichts weichen oder nachgeben (kann), es falle Himmel und Erden oder was nicht bleiben will; … Und auf diesem Artikel stehet alles, das wir wider Papst, Teufel und Welt lehren und leben …» (BSLK 415f.). Es entspricht dieser Christusverkündigung, die ihn um der Sündenvergebung willen als «meinen Herrn» verkündigt, daß bei der Durchführung der Kursächsischen Reformation die übernommenen Pfarrer in den Visitationsartikeln (1527/28) angewiesen werden, bei der Behandlung des Apostolischen Symbols auf die remissio peccatorum alle vorangehenden Artikel des Glaubens zu beziehen (cf. Corp. Reformatorum 26, 12). Lautere Evangeliums Verkündigung ist so die Verkündigung der Herrlichkeit Christi um der durch ihn mit der Vergebung der Sünden in Vollmacht auf gerichteten Erlösung willen.
Daran orientieren sich bei Luther das Verständnis der Theologie, seine Anschauung von der Kirche und sein Begriff von Reformation überhaupt.
3. Die kritische Entfaltung des Christusbekenntnisses
a. Das Verständnis der Theologie
Gegenstand der Theologie ist für Luther nicht Gottes Wesen und Eigenschaften als dasjenige, worauf als auf ihr Prinzip und Ziel der Gesamtinhalt der Theologie im einzelnen herkömmlicherweise geordnet wird, sondern es heißt: «Eigentliches Subjekt (also: Gegenstand) der Theologie sei der schuldige und verlorene Mensch und der rechtfertigende Gott und Heiland. Was außerhalb dessen gesucht werde, sei schlechterdings Irrtum und Nichtigkeit in der Theologie» (cf. WA 40 II, 327). Die Theologie beginnt hier nicht mit den Urgründen des Seins, sondern genau dort, wo Adam zum «Herrn und Besitzer» sich gemacht hat, zum selbstbewußten und selbstmächtigen Menschen, und wo er dadurch in Sünde Gottes und des Menschen innerhalb der Geschichte Gottes mit seinem Menschen ist mithin Gegenstand der Theologie, sofern beide durch das Wort der Offenbarung allein in ihrem wirklichen Wesen entdeckt werden. Der Gegenstand der Theologie entspricht also dem Inhalt des Wortes Gottes, nur ihm, der als die wirksame Zusage der Vergebung der Sünden, der Auferstehung des Fleisches und des ewigen Lebens das Evangelium ist. Gegenstand der Theologie und theologisches Axiom fallen zusammen in der «Summe des Evangeliums», in der Zusage des Ersten Gebots. Das Grundthema der Rechtfertigungslehre und dasjenige der Theologie überhaupt sind identisch: Gottes Gottsein.
b. Die Anschauung von der Kirche
Auch die Kirche ist demzufolge als Offenbarungsgröße verstanden: «Abscondita est ecclesia, latent sancti» (WA 18, 652, cf. 51, 508), als «eine untertänige Sünderin vor Gott bis an den Jüngsten Tag», die «allein heilig in Christo, ihrem Heilande» ist (WA 38, 216), als «creatura Evangelii», von der gilt: «Tota vita et substantia Ecclesiae est in verbo dei» (WA 7, 721). Auch sie ist hineingestellt in das Wortgeschehen, aber nicht spiritualisiert, sondern der sie tragenden Wirklichkeit des Wortes in Person, Christi, zugeordnet. Gegenüber der traditionellen Lehre von den vier die Kirche signifizieren- den und konstituierenden notae ecclesiae (nach dem Nicaeno-Konstantinopolitanum): der Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität, heißt es bei Luther in direkter Polemik: «Unica enim perpetua et infallibilis Ecclesiae nota semper fuit Verbum» (WA 25, 97). Das ist der schärfste Ausdruck seines Kirchenverständnisses, für das die Gleichsetzung von viva vox evangelii, regnum Christi und ecclesia kennzeichnend ist. Die Kirche Christi ist in strengem Sinn Kirche Christi: Er ist ihr Haupt und bleibt ihr alleiniger Herr. Zwar wird man Luthers Kirchenbegriff nicht ausschließlich aus der Rechtfertigungslehre ableiten dürfen, aber es gibt enge Zusammenhänge zwischen beiden. Deutlich wird das bei der Frage nach dem Wesen der Einheit der Kirche. Diese Einheit ist nicht organisch-organisatorisch zu verstehen, sondern streng als geistliche Einheit. Sie ist keine bloß «voluntate» hergestellte, willentlich begründete «äußerliche Einigkeit oder legalis unitas», keine «weltliche conventio», sondern «Christus in mir und ist wahrhaftig ein Leichnam (= Leib) mit uns» (WA 33, 235), «ein Ding» (WA 46, 713). Das «unum» von Johannes 17 meint die ausschließlich in Christus gegebene, verborgene Einheit in jener Externität, die derjenigen der geschenkten Gerechtigkeit Gottes im Rechtfertigungswiderfahrnis entspricht. So wie der Sohn allein «imago essentiae Dei invisibilis» ist, der Christ aber «similitudo et imago Dei … externa, non interna» auf Grund der ihm zugesprochenen iustitia aliena, genau so gilt für das corpus Christi mysticum: «Ita nos in ecclesia sumus unum corpus Christi, sed externum, non natura» (WA 59 II, 298 A). Das muß alleingeglaubt werden, denn die Kirche teilt die Knechtsgestalt Christi, Das corpus Christi steht im Werden und Kommen, in Verborgenheit und Angefochtenheit. An dieser einen und wahren Kirche Christi ist Luther alles gelegen. In schärfster Weise macht er den Anspruch geltend, «in und von» der wahren Kirche Christi zu sein, in Kontinuität mit der Alten Kirche, ja in der Alten Kirche selbst.
c. Das Verständnis der Reformation
Luther ist nach seinem Urziel kein «Neuerer». Die Reformation ist für ihn nicht «Erneuerung der Kirche an Haupt und Gliedern» als Reform einer institutionellen Kirchengestalt. Sie bildet keinen «neuen Orden», sondern ist nachdrücklich an ihren alleinigen Lebensgrund, als «creatura Verbi» eben an das Verbum selbstkritisch erinnerte ecclesia apostolica catholica. Man darf nicht übersehen, daß die Reformation des 16. Jahrhunderts nicht in einer Zeit religiöser Verödung, verfallender, ermüdeter, ersterbender Frömmigkeit, sondern ausgerechnet in einer Zeit gesteigerter, geradezu übersteigerter praxis pietatis, frommer Betriebsamkeit und religiöser Erregtheit Ereignis geworden ist. Gerade dieses gesteigerte religiöse Wesen in der Kirche, die Intensivierung und Extensivierung des kultischen und seelsorgerlichen Betriebs, macht jene «Neuerung» aus, gegen die die Reformation Luthers sich wendet. Sie wird aber dann ihrerseits der «Neuerung» bezichtigt. Sie ist aber auf keinen Fall «Offensive», sondern bewußtermaßen «Defensive» im kirchlichen Geschehen ihrer Zeit. In der großen kontroverstheologischen Erörterung der Kirchenfrage als Frage nach der wahren Kirche, in Luthers Schrift «Wider Hans Worst» von 1541, wird dieselbe Linie einer Verteidigung der «alten» Kirche als der «wahren» gegenüber der «falschen», depravierten Kirche des Papsttums durchgezogen. Es geht um die Sachfrage, daß die Papisten «vorgeben, wir sind von der heiligen Kirche gefallen und haben eine andere neue Kirche eingerichtet» (WA 51, 476). Im Schema der «zweierlei Kirchen von der Welt an bis zu Ende» wird hier im Anschluß an Augustin die Beweisführung im einzelnen vor genommen, «daß wir bei der rechten alten Kirche geblieben, ja daß wir die rechte alte Kirche sind, ihr aber von uns, das ist, von der alten Kirche abtrünnig worden, eine neue Kirche eingerichtet habt wider die alte Kirche» (ib. 478). Es wird dabei gar nicht die Fülle der «neuen Stücke» aufgezählt, sondern die «Neuerei» besteht in der prinzipiellen Beseitigung dessen, wovon die Kirche als Kirche allein lebt: des Wortes Gottes, das der Kirche ihr Wesen gibt; an ihm wird über «Alt» und «Neu» entschieden. Und das «Neue» ist dementsprechend in jene Grundkategorie des «additamentum» zum Wort gefaßt, deren sich Luthers Kritik der natürlichen Religion ebenso wie der vorfindlichen Frömmigkeit und des Wesens des Papsttums selbst bedient, und die er satanologisch interpretiert. So wie der Mensch dem Heilswirken Gottes entgegentritt, indem er zu allem das additamentum «Ich» hinzufügt, so das Papsttum dem Worte Gottes durch Hinzufügung seiner Satzungen und Gesetze. Dieses Zusetzen ist hier wie dort das Werk des «Zusetzers». Das ist der eigentliche Name des Teufels und heißt «auf hebräisch Leviathan, das ist ein Zusetzer, der aus einem Ding mehr macht, denn es sein soll. Darum alle, die da Menschengesetz zu Gottes Gesetzen tun, die sind gewiß Gottes Feinde und des Leviathan Apostel, und wer sie aufnimmt und hält, des Leviathan Schüler» (WA 8, 141). Im Unterschied hiezu gilt dann von der Reformation, daß wir «nichts Neues drinnen machen, noch zusetzen» (WA 51, 482). Sofern aber die Rechtfertigungslehre die formelhafte Mitte und Zusammenfassung der neuen, vom «Zusatz» gereinigte Christusverkündigung ist, mit der die Reformation die Antwort auf ihre Zentralfrage nach der wahren Kirche gibt, wurzelt reformatorische «Erneuerung» der Kirche in der theologisch legitimen Erfassung der Metanoia, der Buße. Nur von daher würde die Formel «ecclesia semper reformanda» von Luther aufgegriffen werden können, keinesfalls im Sinn einer reformerischen Programmatik.
Im Blick auf den ungeheuren Umfang der Lutherliteratur (in gedrängter Auswahl bei den Artikeln «Luther» und «Lutherforschung» [E. Wolf] im Evangelischen Kirchenlexikon II, Göttingen 1958, und «Luther» [H. Bornkamm] sowie « Luther II» [G. Ebeling] in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart IV, Tübingen 1960, können hier nur die zitierten Arbeiten genannt werden, dazu einige die Darlegungen ausführlicher begründende eigene Arbeiten.
Sigla: WA = D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Weimar, seit 1883, z.Z. 99 Bände; BSLK: Die Bekenntnisschrift der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Kritische Ausgabe 1930, 51964. Zum Stand der Forschung: Lutherforschung heute. Referate und Berichte des 1. Internationalen Lutherforschungskongresses Aarhus 1956, ed. V. Vajta, Berlin 1958. K. Aland, Der Weg zur Reformation (Theol. Existenz heute, NF 123), München, 1965 (p. 109).
ERNST WOLF
Geboren am 2.August 1902 in Prag, Mitglied der Evangelischen Kirche Deutschlands. Er studierte an den Universitäten Wien, Rostock, Leipzig und Göttingen Theologie und erwarb sich darin 1925 das Lizentiat, 1930 wurde ihm in Rostock der Dr. theol. h.c. verliehen, 1964 derselbe von der Freien Fakultät für Protestantische Theologie Paris, 1965 von der Universität Wien. Wolf ist Professor für Systematische Theologie und Kirchengeschichte in Göttingen, er ist Präsident der Gesellschaft für Evangelische Theologie und leitet die Kommission für die Geschichte der Kirchenspaltung. Er veröffentlichte: Staupitz und Luther (seine Dissertation) 1927, Peregrinatio I, 21962 und II, 1965. Er ist Herausgeber der Zeitschriften: Evangelische Theologie, seit 1934, Zeitschrift für Evang. Kirchenrecht, seit 1951, Zeitschrift für Kirchengeschichte, seit 1949, Verkündigung und Forschung, seit 1941, Beiträge zur Evangelischen Theologie, seit 1938, Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus, seit 1942, Theologische Bücherei, seit 1953, und Die Kirche in ihrer Geschichte, seit 1961.
Quelle: Concilium 2 (1966), S. 236-240.