Fortschritt. Eine Fatalität (Progress: A Fatality, 1967)
Von Karl Löwith
Das Konzept des Fortschritts wird oft mit dem der Entwicklung verwechselt. Wir sprechen von „unterentwickelten“ Ländern und meinen damit solche, die sich erst noch entwickeln müssen, indem sie die Errungenschaften der westlichen Zivilisation assimilieren. Man spricht vom Fortschritt der Wissenschaft und meint damit auch ihre Entwicklung. Hegel behauptet sogar, dass die Wahrheit selbst die Tendenz hat, sich zu „entwickeln“, d.h. sich in der Geschichte des Geistes zu entfalten. Da diese Entfaltung zu immer höheren Stufen führt, nennt Hegel das Prinzip der Geschichte, in der sich die Vernunft in der Welt entwickelt, einen „Fortschritt“ im Bewusstsein der Freiheit. Sowohl Entwicklung als auch Fortschritt haben die formale Struktur des „Werdens“, nicht des konstanten, statischen Seins. Als Formen des „Werdens“ sind Entwicklung und Fortschritt auf die Zukunft gerichtet. In einer Zeit ohne Zukunft, in einer ewigen Gegenwart, wären Entwicklung und Fortschritt von untergeordneter Bedeutung. Fortschritt ist eine Bewegung auf das Kommende hin, aber weder jeder Prozess noch jede Entwicklung ist ein Fortschritt. Das fließende Wasser eines Flusses bewegt sich auf ein Ende zu, aber der Fluss macht keinen Fortschritt. Jedes Lebewesen entwickelt sich auf ein Ziel hin, aber es macht keinen Fortschritt. Der Samen einer Pflanze entwickelt sich und wird zu einem Baum; ein befruchtetes Ei wird zu einem erwachsenen Tier; ein menschlicher Embryo entwickelt sich zu einem reifen Menschen; und die Veränderungen, die bei diesen Wachstumsprozessen auftreten, sind oft so groß, dass die ursprüngliche Form des Lebewesens im Endstadium kaum noch zu erkennen ist. Aber der natürliche Wachstums- und Veränderungsprozess setzt sich nicht in immer neuen Variationen fort, sondern hat im Gegenteil bei jedem Exemplar seiner Art sein spezifisches Ende. Ein voll entwickelter Organismus hat das natürliche Ende seines Wachstums erreicht; er ist das geworden, was er in seinem Keim schon immer potentiell war. Das endgültige Ende des Wachstums leitet und regelt die gesamte Evolution im Voraus. Wäre ein bestimmter Samen nicht dazu prädisponiert, eine Buche zu werden, würde er nicht einem bestimmten Entwicklungsmuster folgen und nicht einem anderen.
Auch die gesamte Evolutionsgeschichte vom Einzeller bis zum Menschen stellt nur dann eine Art Fortschritt dar, wenn man die zunehmende Ausdifferenzierung der biologischen Organisation und die Ausbildung eines zentralen Nervensystems mit Gehirn als Beurteilungsmaßstab nimmt. Die vermeintliche Sukzession in der biologischen Evolution wird dann teleologisch interpretiert – so als ob die gesamte Natur von Anfang an auf den Menschen ausgerichtet gewesen wäre. Ein solches Schema des evolutionären Fortschritts ignoriert jedoch die Tatsache, dass viele hochdifferenzierte Tierarten ausgestorben sind und dass auch der Mensch verschwinden wird, wenn sich die Bedingungen unserer irdischen Umwelt ändern. Auf jeden Fall kann die Entstehung des Menschen auf der Erde nicht einfach aus seiner tierischen Abstammung heraus verstanden werden, ohne einen Unterschied, der über das Maß hinausgeht, ebenso wenig wie er als Produkt einer göttlichen Schöpfung verstanden werden kann. Es gibt eine offensichtliche Verwandtschaft, aber auch einen wesentlichen Unterschied zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen. Nur der Mensch kann im Gegensatz zu den anderen Lebewesen zu seinem eigenen Leben und Sterben Stellung nehmen. Er kann die Tatsache seiner Existenz akzeptieren oder sie ablehnen. Er muss bereit sein, zu leben, weil er auch in der Lage ist, sich selbst zu vernichten. Um ein Mensch zu werden, muss sich der Mensch also nicht einfach „entwickeln“, sondern aus eigenem Willen und auf eigenem Weg voranschreiten. Die allerersten „Verfahren“, die für die Menschheit wesentlich sind, betreffen die Art und Weise, wie wir gehen und sprechen lernen, und darüber hinaus die Art und Weise, wie wir lernen, zu arbeiten und uns in der Kultivierung und Produktion anderer Dinge zu erziehen. Indem der Mensch die Natur kultiviert, kultiviert er sich selbst. Aber um die Natur zu verändern, muss der Mensch sich von ihr lösen und entfremden.
Natürlich ist auch der Mensch ein Tier, das wie alle anderen Lebewesen seine einzigartige Natur durch Evolution und Entwicklung erlangt. Er wächst von der befruchteten Eizelle bis zur Geburt und vom Säuglingsalter bis zur Pubertät heran, dem Stadium, in dem das Wachstum sein natürliches Ende findet, so dass er nun als erwachsen bezeichnet werden kann. Aber der biologisch reife Mensch ist nicht eo ipso ein perfekt entwickelter, reifer Mensch. Die meisten von uns bleiben ihr ganzes Leben lang erwachsene Kinder, unreif und infantil. Die natürliche Entwicklung reicht also für den Prozess der Menschwerdung nicht aus; wir müssen selbst einen Schritt nach vorne machen und voranschreiten. Doch der Fortschritt in der individuellen Entwicklung des Menschen und in den allgemeineren Veränderungen der Menschheitsgeschichte führt zu keiner natürlichen Erfüllung. Der Mensch erreicht sein Ziel nie mit natürlicher Endgültigkeit; er geht weiter und weiter, und ein Ende ist nicht absehbar.
Die ganze unerfüllbare Menschheitsgeschichte beruht darauf, dass der Mensch die Natur nicht so lässt, wie sie ist, sondern seine Umwelt und sich selbst umgestaltet, indem er sie bearbeitet, denaturiert und Tiere domestiziert. Jeder Fortschritt ist also ursprünglich ein Fortschritt in der Aneignung und Usurpation der Natur, indem er sich ihrer bemächtigt und sie in Besitz nimmt. Die Kultur bringt sich nicht von selbst hervor (hap‘ automaton) wie die Natur (physis); sie ist ein Ergebnis des menschlichen Fortschritts über die Natur hinaus, der Überschreitung und Abweichung von ihr. Diese Art des Fortschritts in der Kultivierung und Umwandlung der Natur wird durch menschliche Kunst oder Geschicklichkeit hervorgebracht. Die künstliche Produktion ist jedoch für den Menschen so natürlich wie die automatischen Prozesse für das organische Leben. Denn der Mensch kann nicht als Mensch leben, ohne seine Umwelt zu kultivieren und damit auch sich selbst zu kultivieren. So groß der Unterschied zwischen der elementarsten Manipulation der Natur mit primitiven Werkzeugen und der modernsten technischen Herstellung eines Apparates durch die Wissenschaft auch sein mag, im Prinzip gibt es keinen Unterschied; denn die Überschreitung der Natur und die Abweichung von ihr sind ein Fortschritt, der zum Wesen des Menschen gehört.
Die ursprüngliche Geschichte des Menschen, in der sich der Fortschritt vollzieht, beginnt nicht mit der aufgezeichneten Geschichte, sondern prähistorisch, in der fernen Antike, als der Mensch zum ersten Mal als Mensch ins Leben trat. Der Fortschritt und der ihm entsprechende Rückschritt sind auf die Menschheit beschränkt. Wenn die künstlichen Fortschritte bei der Kultivierung der Natur und des Menschen selbst, Fortschritte, die für den Menschen natürlich sind, ein relatives Ende erreichen, dann spricht man von Vollendung oder Perfektion. Diese ist jedoch niemals absolut, sondern relativ, und zwar aus zwei Gründen: erstens, weil die Maßstäbe für Vollkommenheit je nach den Grundtendenzen einer Kultur unterschiedlich sind, und zweitens, weil nur ein unvollkommenes Geschöpf wie der Mensch auch vervollkommnungsfähig ist. Ein absolut vollkommenes Wesen, wie es sich Gott vorstellt, kann sich nicht fortschreitend vervollkommnen, denn wenn es das könnte, dann wäre es nicht vollkommen. Auch die natürlichen Wesen, die einfach das werden, was sie sind und nicht anders sein können, sind auf ihre Weise vollkommen.
Der Mensch ist nur deshalb unvollkommen, weil er so viele Dinge durch Kunst, künstlich, zu erreichen vermag, und so sind alle seine Erzeugnisse unvollkommen. Eine von Menschenhand geschaffene Hängebrücke kann ständig verbessert und fortschreitend vervollkommnet werden; die Fäden, die Spinnen seit Jahrmillionen auf immer gleiche Weise aus ihren Körpern spinnen, um ihr Netz und sich selbst aufzuhängen, sind weder verbesserungsfähig noch verbesserungsbedürftig. Das Optimum, das ein menschliches Kunstwerk, sei es ein Bauwerk, ein Gedicht oder ein Bild, erreichen kann, ist der Anschein, als könne es nicht anders sein, als sei es ein Werk der innersten Naturnotwendigkeit, das nicht fortschreitend verbessert werden könne. Da es aber durch menschlichen Willen und menschliches Geschick künstlich geschaffen wurde, könnte es auch anders sein; es könnte ebenso gut nicht existieren wie existieren. Daher kann ein menschliches Kunstwerk niemals die natürliche Vollkommenheit der Natur erreichen, weil alle Arten menschlicher Fertigkeiten einem unendlichen Fortschritt unterworfen sind. Dieser Fortschritt betrifft bestimmte, konkrete Verbesserungen. Diese beruhen nicht auf einem Fortschrittsglauben, und sie sind keine Illusion, sondern ein unbestreitbares Phänomen der menschlichen Geschichte. Sie deuten jedoch nicht darauf hin, dass die Geschichte als solche und im Ganzen eine kontinuierliche und fortschreitende Überwindung vergangener Stadien in Richtung auf ein endgültiges Ende ist.
Lukrez, ein römischer Philosoph des ersten Jahrhunderts, beschreibt in De natura rerum, Buch 5, in seiner Naturgeschichte des Universums die Entwicklung des irdischen und schließlich des menschlichen Lebens, denn auch der Mensch wird von der Erde hervorgebracht, und die Erde ist nicht unveränderlich immer dieselbe; da sie in der Zeit entstanden ist, muss auch sie eines Tages vergehen. Zu diesem obersten Gesetz von Wachstum und Verfall gehört natürlich auch der Fortschritt der menschlichen Zivilisation. Der allmähliche Fortschritt des Menschen im Laufe der Zeit (paulatim progrediens) – in den Künsten des Ackerbaus und der Schifffahrt, im Bau von Häusern und Städten, in der Entwicklung sozialer Gesetze, in der Verfeinerung des Lebenskomforts, in den Künsten der Malerei und der Poesie – dieser Fortschritt in der Entwicklung der Menschheit bedeutet für Lukrez jedoch nicht, dass der Zustand des Menschengeschlechts immer besser und besser wird. Denn alle neuen Errungenschaften bringen neue Gefahren und Übel mit sich. Ergo hominum genus incassum frustraque laborat: und so schuftet das Menschengeschlecht ewig fruchtlos und vergeblich, „und vergeudet sein Leben in müßigen Sorgen.“ Der Mensch versteht es nicht, die Gier zu zügeln und die Grenzen zu beachten, bis zu denen das wahre Vergnügen gesteigert werden kann. Er wird hinausgetrieben auf das Meer und die mächtigen Wellen des Krieges und der Zerstörung. Diese klassische Sicht des Fortschritts wird in ihrer nüchternen Wahrheit durch die Beschreibung der athenischen Pest bestätigt, in der alle Hoffnung auf weiteren Fortschritt schwindet und die das Lehrgedicht abschließt. Der Tod ist die absolute Grenze für alle sterblichen Wesen. Auch Himmel und Erde betrachtet Lukrez als sterblich, denn auch sie sind entstanden und werden daher in ihrer jetzigen Form eines Tages verschwinden.
Eine ganze Welt, die Welt der christlichen Tradition, trennt diese klassische Fortschrittsbeschreibung von allen nachchristlichen Geschichtsphilosophien, die auf Erfüllung und Vollendung zielen. F. Schlegel hat sehr treffend auf den christlichen Ursprung unseres fortschrittlichen Denkens und Handelns hingewiesen: „Das revolutionäre Verlangen, das Reich Gottes zu verwirklichen, ist der elastische Ausgangspunkt unserer ganzen fortschrittlichen Zivilisation und des Anfangs der modernen Geschichte.“ Es ist ein „revolutionäres“ Verlangen, weil es den ursprünglichen Sinn von „Revolutionen“, nämlich die regelmäßige Umdrehung der Gestirne, umkehrt, und unsere ganze Zivilisation ist „fortschrittlich“, weil sie die Theologie der Geschichte säkularisiert hat: vom Procursus des Augustinus zum Reich Gottes bis zu Hegels „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ und Marx’ Erwartung eines irdischen Menschenreiches. Wer aber das Geschehen der Geschichte im Ausblick auf eine Zukunft sieht, die auf ein Ende zielt, wird in der Vergangenheit nur Vorstufen einer Vorgeschichte wahrnehmen, die noch nicht zu ihrem endgültigen Ende und ihrer Erfüllung gekommen ist. Wie das Alte Testament für die Kirchenväter eine praeparatio evangélica und eine Verheißung der Zukunft war, die sich im Neuen Testament erfüllt hat, so wird die Deutung der Vergangenheit zu einer retrospektiven Prophetie. Die Vergangenheit wird dann als eine sinnvolle Vorbereitung auf die Zukunft verstanden.
Zwar ist der christliche Glaube an eine endgültige Erfüllung aus der profanen Geschichtsauffassung verschwunden, doch ist der Blick auf die Zukunft als solche und auf eine unbestimmte Vollendung dennoch vorherrschend geblieben. Ein Andachtsbuch von John Bunyan aus dem siebzehnten Jahrhundert, das ein Bestseller war, schilderte The Pilgrim’s Progress, nämlich „von dieser Welt zu der, die kommen soll“. Doch noch im selben Jahrhundert begannen die Menschen, die kommende Welt nicht als das Reich Gottes, sondern als „das Reich des Menschen“ zu verstehen, als eine bessere Welt, die der Mensch in der Zukunft schaffen wird. Die transzendentale Bestimmung des Menschen wich einem weltlichen Ziel. Der Mensch transzendierte diese Welt nicht mehr zu Gott als Summum bonum, sondern zu einer fortschreitend verbesserungsfähigen Welt der Menschheit. Von dieser Zukunftsperspektive motiviert sind nicht nur die radikalen Fortschrittsphilosophien von Turgot und Condorcet, Saint-Simon und Comte, deren gemeinsames Muster der Fortschritt der Wissenschaften ist, sondern nicht minder ihre Perversion zu Theorien des fortschreitenden Verfalls, nach denen die Geschichte Europas als ein konsequenter Vorstoß in den „Nihilismus“ erscheint, der in einem „Zeitalter der Angst“ und der Absurdität endet.
Der Fortschrittsgedanke, der das gesamte historische Denken des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts leitete, wurde bereits in Rousseaus erstem „Diskurs“ (1750) grundsätzlich in Frage gestellt. Für den einfachen Menschen blieb der Fortschrittsglaube jedoch bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts der Stolz und die Hoffnung der zivilisierten Menschheit. Erst im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts geriet er in Verruf. Einige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte der französische Soziologe und Philosoph G. Sorel zwei Bücher mit den bezeichnenden Titeln Les Illusions du progrès und Réflexions sur la violence. Sie waren ein Zeichen der Zeit; sie wandten sich gegen den weit verbreiteten Glauben, die Zivilisation sei nun so weit fortgeschritten, dass sie auf Gewalt verzichten könne. Sorel teilte diesen „bürgerlichen“ Glauben an einen friedlichen Fortschritt nicht. Entsprechend seinem Unglauben an einen Fortschritt ohne Gewalt bewunderte Sorel Lenin und die Russische Revolution.
Die Verhöhnung des Fortschritts, die unter den Gebildeten der zwanziger Jahre üblich geworden war, war ebenso kurzsichtig wie die moralischen Erwartungen, die ein Jahrhundert zuvor durch die Idee des Fortschritts geweckt worden waren. Denn niemand kann leugnen, dass zumindest die wissenschaftliche Technik in ihren Zweigen Chemie, Pharmakologie, Medizin, Biologie in den letzten hundert Jahren enorme Fortschritte gemacht hat und dass sie die Erwartungen von Bacon und Descartes im siebzehnten Jahrhundert, von Turgot, Condorcet und Comte im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert nicht nur erfüllt, sondern bei weitem übertroffen hat. Die Naturwissenschaften, insbesondere die mathematische Physik und die Chemie, haben das öffentliche und private Leben der zivilisierten Menschheit geprägt und werden es auch weiterhin tun. Die Science-Fiction von Jules Verne (In 80 Tagen um die Welt, Nautilus oder die Erforschung des Meeresbodens durch Unterseeboote, Die Reise von der Erde zum Mond) ist in unserer Zeit Wirklichkeit geworden. Selbst wer nicht mehr an den Fortschritt glaubt, kann auf seine Ergebnisse nicht verzichten oder sich von ihnen befreien. Es gibt keine gesegneten Inseln des Glücks mehr, denen man entkommen könnte, die der moderne Fortschritt nicht erreichen könnte. Aber wir bemerken unsere fatale Verstrickung in ihn kaum noch, weil wir uns täglich an ihn gewöhnen.
Die Idee des Fortschritts bezog sich zunächst auf Fortschritte in den Künsten und Wissenschaften, und das Wort progrès wurde in seiner Pluralform verwendet. Während der Französischen Revolution wurde progrès zum Synonym für nouveauté, als ob die Neuheit an sich wertvoller wäre als eine unveränderliche Ordnung. Lange Zeit war Frankreich die Nation, die an der Spitze des Fortschritts marschierte. In unserem Jahrhundert hat sich die Idee der „westlichen“ fortschrittlichen Zivilisation auf Amerika verlagert, das heute als „Westen“ gilt, da es die Vorherrschaft in Europa übernommen hat. Russland ist zum Konkurrenten Amerikas geworden, da es industrialisiert und mit Hilfe wissenschaftlicher Techniken schrittweise modernisiert wurde. In der amerikanischen Fortschrittskonzeption ist der wissenschaftliche Positivismus von Auguste Comte nach wie vor vorherrschend; in Russland ist es der Marxismus als „wissenschaftlicher Sozialismus“. Beiden gemeinsam ist der Glaube, dass eine bessere Welt durch wissenschaftliche Planung herbeigeführt werden kann. Der geistige Ursprung dieses Willens zum rationalen Fortschritt liegt in den europäischen Geschichtsphilosophien. Wie wesentlich der Fortschrittsglaube für das marxistische Denken ist, zeigt sich an seiner Literaturkritik: Sie urteilt vom einfachsten Standpunkt aus; ein literarisches Werk ist entweder „fortschrittlich“ oder „reaktionär“.
Auch in Amerika ist das Wort „progressiv“ an sich schon ein positives Werturteil. Populär wurde diese Bewertung des Fortschritts ab 1830, mit dem Beginn der Industrialisierung. Seitdem ist nichts offensichtlicher als der Fortschritt, zum Beispiel in der sozialen Fürsorge und Sicherheit, im Kampf gegen Epidemien, Krankheiten und eine hohe Sterblichkeitsrate, in der Verbreitung von Information und Bildung durch die Schulpflicht. Ein Land, in dem ein großer Prozentsatz der Bevölkerung immer noch Analphabeten sind und in dem es weder sanitäre Einrichtungen noch Elektrizität, Telefon und ähnliche Annehmlichkeiten gibt, wird überall als rückständig oder „unterentwickelt“ angesehen. Die Zahl der Schulen, in denen man lesen und schreiben lernen kann, die enorme Verbreitung von Tageszeitungen und Zeitschriften, die größtmögliche Verbreitung von Radio- und Fernsehgeräten, die Massenauflagen von Taschenbüchern, all das zeigt den Fortschritt im Bemühen um die Verbreitung und Steigerung von Wissen und Bildung. Das Gleiche gilt für die Wirtschaft. Immer mehr Konsumgüter, die vor einigen Generationen noch als Luxusgüter für wenige Wohlhabende galten, sind heute für jedermann erhältlich und zu einem allgemeinen Bedürfnis und einer alltäglichen Notwendigkeit geworden. Unser Lebensstandard steigt ständig, weil unsere Ansprüche immer höher werden. In diesem sehr weiten Bereich, der sowohl die Bildung als auch die Wirtschaft umfasst, ist der Fortschritt keine Ideologie oder Illusion, sondern eine historische Tatsache von höchster Bedeutung.
In dem Maße, in dem sich wissenschaftliche Techniken und die Industrie immer weiter verbreiten, verändert sich alles rasch, am auffälligsten in Ostasien. Es ist kein Zufall, dass der gesellschaftliche Wandel in diesem Teil der Welt unter der Führung des Kommunismus stattfindet, denn in diesen Ländern hat der Kommunismus die Funktion des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts übernommen. Der Kommunismus im Orient bedeutet etwas ganz anderes als im Westen, wo die industrielle bürgerliche Gesellschaft voll entwickelt war, als Marx das Kommunistische Manifest veröffentlichte. Im Osten ist der Kommunismus die Inkarnation des Fortschritts, eine Art säkulare Religion. Jahrhundertelang wussten die Menschen in Indien, China und Afrika nichts von dem radikalen und revolutionären Wunsch nach Fortschritt. Aber wenn man den Fortschritt einmal erlebt hat, wird etwas in Bewegung gesetzt, das nicht mehr aufzuhalten ist. Die Forderung nach Fortschritt wird selbst zum Fortschritt. Dies geschah im Westen und geschieht jetzt im Osten. Nehru hat das klar verstanden. Er sagte einmal, dass die fortschreitenden sozialen Veränderungen schnell genug vonstatten gehen müssen, um die damit verbundenen Erwartungen am Leben zu erhalten; je schneller das Tempo des Fortschritts, desto besser die Aussichten auf Reformen. Es gibt also eine Art Wettlauf zwischen dem tatsächlichen Fortschritt und der fortschreitenden Nachfrage nach ihm. Der Fortschritt als solcher ist unersättlich. Je mehr Fortschritt erreicht wird, desto mehr wird verlangt und gefordert. Vor einigen Jahren brauchten wir für einen Flug von Frankfurt nach New York fünfundzwanzig Stunden, heute sind es nur noch sechs Stunden; es scheint durchaus vernünftig, diese Zeit noch weiter zu verkürzen. Und wenn die durchschnittliche Lebenserwartung von vierzig auf sechzig Jahre verlängert werden konnte, dann wird man versuchen, von sechzig auf neunzig Jahre zu kommen. So ist es mit allem, wo technische Fortschritte durch rationale Wissenschaft möglich sind.
Der Fortschritt, von dem wir sinnvollerweise sprechen können, weil er eine universelle Realität ist, ist nicht an irgendeine Art von Wissenschaft gebunden, sondern an eine ganz bestimmte, nämlich an die moderne Naturwissenschaft, wie sie im siebzehnten Jahrhundert entstanden ist. Das methodologische Paradigma des wissenschaftlichen Fortschritts war Descartes‘ Projekt einer universellen Mathematik, die die Kräfte der Natur erklären und beherrschen sollte. Ein Jahrhundert später war für Kant die mathematische Physik Newtons die einzige echte Wissenschaft oder Weltwissenschaft. Selbst die Wissenschaft der Sozialgeschichte wurde von Comte als physique sociale geplant, und Pareto folgte ihm in dieser Ausrichtung auf die Naturwissenschaft.
Wenn im 19. Jahrhundert nach Hegel und Marx behauptet wurde, dass die Geschichtswissenschaft im Unterschied zur Naturwissenschaft umfassender und grundlegender sei, war es die Erfahrung der Französischen Revolution, die dieses moderne Geschichtsbewusstsein inspirierte, dass der Mensch sich „auf den Kopf stellen“ (wie Hegel sagte) und die Welt nach seinem rationalen Willen verändern kann. Im Zusammenhang mit diesem revolutionären Geschichtsbegriff ist gesagt worden, dass die Geschichte zum dringlichsten, universellsten und ernstesten Problem geworden ist. Die Vorrangstellung der Geschichte steht jedoch nicht im Widerspruch zur Vorrangstellung der Naturwissenschaft, denn die Geschichte ist nur deshalb zu einem so dringenden Problem geworden, weil die Fortschritte der Wissenschaft all diese radikalen Veränderungen in unserer historischen Welt bewirkt haben. Die neuen wissenschaftlichen Informations- und Kommunikationstechniken, insbesondere die Militärtechniken, haben die menschlichen Beziehungen in einem extrem schnellen Tempo verändert. Die moderne Naturwissenschaft ist eine Macht, die Traditionen verändert und zerstört: Sie kann die Dinge nicht so lassen, wie sie sind. Für uns ist Geschichte nicht mehr das Auftreten von wechselnden Ereignissen innerhalb einer stabilen natürlichen Ordnung; alles, was wir „Welt“ nennen, ist nun in den Prozess der Geschichte einbezogen. Und da Geschichte wesentlich Veränderung und in ihrer modernen Form fortschreitende Transformation ist, ist sie das Gegenteil von allem, was stabil, beständig und ewig ist. Aus diesem Grund ist es unmöglich, in der Geschichte einen festen Halt zu finden und eine historische Aussage zu machen, die für immer als wahr gelten wird. Aber eine vorübergehende historische Wahrheit ist ein Widerspruch in sich.
Der revolutionäre Fortschritt durch die Wissenschaft, der heute so selbstverständlich und üblich ist, war ursprünglich ein utopisches Programm. Jahrhundert schrieb der Philosoph und Staatsmann Francis Bacon seine Utopie Nova Atlantis und machte den Fortschritt der Wissenschaft (The Advancement of Learning) zum Zweck der „Befähigung“ zu einem methodischen Programm. Das Motto seines Projekts lautet: scientia et potentia in idem coincidunt – Wissen und Macht sind eins. Je mehr wir wissen, desto größer ist unsere Macht über die Natur. Mit diesem Motto gab Bacon den Grundton für die moderne Entwicklung bis in die heutige Zeit vor. Die Wissenschaft ist nur zum Teil theoretisch und spekulativ. Bacon wollte, dass sie immer praktischer und nützlicher oder „operativer“ wird, um das „Reich des Menschen“ zu errichten. Durch die Wissenschaft muss der Mensch die Natur Umgestaltungen unterziehen, um die Welt im Sinne einer fortschreitenden Verbesserung zu verändern. Bacons Ziel war es, „alles in den Griff zu bekommen“, zum Beispiel durch die Umwandlung der Elemente, die Herstellung künstlicher Materialien und schließlich die Schaffung des Lebenselixiers. Die meisten seiner Projekte sind inzwischen Wirklichkeit geworden: Wir beschleunigen die Blüte von Pflanzen, verbessern Früchte und Tiere, entwickeln neue Arten, verwandeln und kreuzen bestehende, experimentieren an Tieren durch Vivisektion und die Verwendung giftiger Substanzen; wir töten und reanimieren künstlich, erzeugen Riesen und Zwerge, befruchten und sterilisieren, züchten künstliche Missbildungen. In den wissenschaftlichen Industriebetrieben von Bacons Utopie gibt es meteorologische Stationen, Kühlhäuser, klimatisierte Räume für die Krankenpflege, Wasserkraftwerke, Wolkenkratzer, Heizmaschinen, sogar künstliche Heilmittel gegen Fettleibigkeit und Auszehrung.
Durch Descartes, Galilei und schließlich Newton wurde diese operative Wissenschaft, wie sie von Bacon skizziert wurde, zu einer autonomen Wissenschaft. Die wesentliche Tendenz dieser Epoche war die endgültige Ausarbeitung der mathematischen Physik und ihre Loslösung von allem, was nicht mechanisch und quantitativ bestimmt werden konnte. So wurde die moderne Naturwissenschaft vom Leben des Kosmos und von allen Fragen der Moral und der Religion abgekoppelt. Die natürliche Welt wurde von einem Partner zu einem Objekt, das durch Berechnung und Experiment zum Zwecke der utilitas und potentia bearbeitet werden konnte.
Der einzige, der sich gegen diese von der modernen Physik aufgestellte Dichotomie von moralischem Menschen und amoralischer Natur wandte, war Goethe. Das zentrale Thema seines Faust ist das Problem des prometheischen Willens zur technischen Beherrschung der Natur. Er sah voraus, dass mit dem neunzehnten Jahrhundert eine neue Epoche begann, deren Hauptziel der Fortschritt zu mehr Macht, zu größerem Reichtum und größerer Geschwindigkeit war, was er das Veloziferische nannte, wobei er den Begriff der Geschwindigkeit mit der satanischen Macht Luzifers, des obersten rebellischen Engels, verband. In einem Brief von 1825 schrieb Goethe an Zelter:
„Heutzutage ist alles ultra, alles transzendiert unaufhaltsam, sowohl im Denken als auch im Handeln. Niemand versteht sich mehr, niemand kann das Element, in dem er lebt und arbeitet, oder die Materialien, mit denen er umgeht, begreifen. Junge Menschen werden zu früh aufgerüttelt und dann im Strudel der Zeit mitgerissen. Reichtum und Schnelligkeit verblüffen die Welt, und danach streben alle. Eisenbahnen, Dampfschiffe, alle möglichen Kommunikationsmittel sind Dinge, die gebildete Menschen zu schätzen wissen, und so werden sie übergebildet und verharren in der Mittelmäßigkeit. Eine durchschnittliche Kultur breitet sich aus und wird alltäglich. Es ist das Jahrhundert der klugen Praktiker, die mit einer gewissen Geschicklichkeit ausgestattet sind und sich der Masse überlegen fühlen, obwohl sie selbst keine Begabung für das Höchste haben.“
An den Schluss der letzten Ausgabe seiner Werke hat Goethe das Gedicht „Pandora“ gestellt, in dem Prometheus und Epimetheus die Zwietracht der kommenden Zeit symbolisieren. Epimetheus ist ein Vorbild für Besinnung und Entsagung; er betrachtet die Welt als kosmische Ordnung, die nicht von und für den Menschen gemacht ist; und neben ihm steht Prometheus als Prototyp des Faust, des rastlos planenden, handelnden und verändernden Menschen, der sich alles zunutze macht, der homo faber unserer Zeit. Zur gleichen Zeit während der dritten Dekade des 19. Jahrhunderts reflektierte ein großer italienischer Dichter und Philosoph, G. Leopardi, mit tiefer Skepsis über den Fortschrittsglauben, insbesondere über den Glauben an die Perfektionierbarkeit des Menschen. In Übereinstimmung mit der klassischen Tradition behauptete Leopardi die unübertreffliche Vollkommenheit der Natur und aller natürlich entstandenen Dinge.
„Wer das Universum in seinen kleinsten und größten Erscheinungsformen betrachtet, in einem kaum sichtbaren Tierchen oder in der regelmäßigen Bewegung der Sterne, wird überall ein Meisterwerk der Weisheit finden, bei dem nichts durch Addition oder Subtraktion vervollkommnet werden kann. Selbst wenn wir die gleiche Schöpfungskraft hätten wie die Natur, wäre kein Mensch in der Lage, ein so meisterhaftes, bis ins kleinste Detail durchdachtes und in allen Teilen genau passendes Design zu erfinden – ganz zu schweigen davon, es so auszuführen, wie es die Natur tut. Aber es ist unbestreitbar, dass die Absicht, uns zur Natur zurückzuführen, heutzutage absurd erscheint. Selbst die intelligentesten und tiefsinnigsten Denker versuchen, uns so weit wie möglich von der Natur zu entfernen, obwohl sie manchmal das Gegenteil glauben und die Vernunft mit der Natur verwechseln. Aber der Mensch kann nicht durch die Vernunft allein vervollkommnet werden. Er kann durch sie nur ruiniert werden. Es ist lächerlich, wenn auch natürlich, dass unsere Fähigkeit, zu degenerieren und zu verfallen, von den feinsinnigsten und scharfsinnigsten Denkern als eine Fähigkeit der Vervollkommnung angesehen wird … Ich frage mich, ob man mit Recht das als Vollkommenheit bezeichnen darf, was man heute unter diesem Begriff versteht, ob eine Zunahme der Zivilisation menschliche Vollkommenheit bedeutet, und ob es richtig ist, dass der Mensch insofern vollkommener wird, als er zivilisierter wird.“
Über die Relativität all unserer fortschrittlichen Erfindungen sagt Leopardi:
„Wenn zum Beispiel im Laufe der Zeit die Techniken des Fliegens, der Navigation, der drahtlosen Übertragung hoch entwickelt, vervollkommnet und nützlich gemacht werden, so dass sich unsere ganze Lebensweise ändert, dann werden die Menschen [in tausend Jahren] urteilen, dass unsere heutige Zeit [1825] kaum zivilisiert war. Sie werden sich wundern, wie der Mensch in vergangenen Zeiten ohne Flugzeuge, Telefon, Telegraf und ähnliche Einrichtungen überhaupt leben, auf dem Meer fahren und Handelsbeziehungen mit weit entfernten Ländern unterhalten konnte. Sie werden erstaunt sein über die Langsamkeit und Primitivität unserer heutigen Reise-, Informations- und Kommunikationsmittel usw. Aber glauben Sie mir: Auch die Menschen, die vor der Erfindung unserer Maschinen lebten, dachten wie wir; sie lebten recht komfortabel und sozial, während wir sie als elende Wesen betrachten, die ständig den Gefahren der Natur und den Unannehmlichkeiten ausgesetzt sind, in ständiger Angst. Wenn wir jedoch unseren heutigen Stand der technischen Perfektion mit dem in einigen hundert Jahren zu erwartenden vergleichen, können wir dieses selbstgemachte lächerliche Problem leicht lösen: wie konnten die Menschen überhaupt in der fernen Vergangenheit leben, lange bevor diese oder jene wissenschaftliche Erfindung gemacht wurde.“
Dreißig Jahre später, inmitten des rasanten Fortschritts durch neue Erfindungen, wirft eine Stimmung der Ziellosigkeit und Verzweiflung ihren ersten Schatten auf die fortschrittlichsten Köpfe Europas, denn eben dieser Fortschritt scheint ins Nichts zu führen. In Frankreich fand dieser Nihilismus seinen ausgefeiltesten Ausdruck in den Schriften von Flaubert und Baudelaire. Nachdem Flaubert in der „Versuchung des heiligen Antonius“ allerlei gängige Glaubensvorstellungen und Aberglauben entlarvt hatte, machte er sich daran, das Chaos unserer modernen wissenschaftlichen Kultur zu entwirren und zu analysieren. Er erstellte eine Liste menschlicher Torheiten, die als ironische Verherrlichung all dessen gedacht war, was als Wahrheit galt. Das Ergebnis dieser absurden Studien war der Roman Bouvard et Pécuchet – die Geschichte zweier Philister, die sich aufrichtig um ihre höhere Bildung bemühten; gutmütige Männer von Verstand, die Büroangestellte gewesen waren. In ihrem glücklich erworbenen Landsitz durchstreifen sie das gesamte Labyrinth des angehäuften Wissens, von Gartenbau, Chemie und Medizin bis hin zu Geschichte, Archäologie, Politik, Pädagogik und Philosophie – nur um dann wieder zum Kopieren zurückzukehren und nun Auszüge aus den Büchern zu machen, die sie vergeblich studiert haben. Das ganze Werk führt zu dem Schluss, dass unsere gesamte wissenschaftliche Ausbildung unsinnig ist. In wenigen Zeilen werden uralte Lehren dargelegt und entwickelt, dann werden sie durch andere Lehren, die gegen sie angeführt werden, beseitigt und dann wiederum mit gleicher Präzision und Leidenschaft zerstört. Seite für Seite, Zeile für Zeile taucht eine neue Erkenntnis auf, aber sogleich scheint eine andere die erste umzustoßen, und dann kippt auch sie um, getroffen von einer dritten. Am Ende der unvollendeten Skizze zeichnet Pécuchet ein düsteres, Bouvard ein rosiges Bild von der Zukunft der europäischen Menschheit. Dem einen zufolge nähert sich das Ende der entarteten, in allgemeiner Verderbtheit versunkenen menschlichen Rasse. Es gibt drei Möglichkeiten: (1) der Radikalismus reißt jede Verbindung mit der Vergangenheit ab, was einen unmenschlichen Despotismus nach sich zieht; (2) wenn der theistische Absolutismus siegt, wird der Liberalismus, von dem die Menschheit seit der Französischen Revolution durchdrungen ist, untergehen, und es wird eine revolutionäre Veränderung stattfinden; (3) wenn die Erschütterungen von 1789 anhalten, werden ihre Wellen uns mitreißen, und es wird weder Ideale noch Religion oder Moral mehr geben. Nach dem zweiten Bild wird sich Europa mit Hilfe Asiens verjüngen, und es werden sich ungeahnte Kommunikationstechniken, U- Boote und Ballons entwickeln; neue Wissenschaften werden entstehen, die es dem Menschen ermöglichen, die Kräfte des Universums in den Dienst der Zivilisation zu stellen und, wenn die Erde erschöpft ist, zu anderen Sternen auszuwandern. Zusammen mit den menschlichen Bedürfnissen wird das Böse aufhören, und die Philosophie wird zur Religion.
Baudelaires Absicht, „Das Ende der Welt“ zu komponieren, stammt aus der gleichen Zeit. Einige Fragmente davon erschienen 1851 unter dem Titel „Fusées“:
„Die Welt neigt sich dem Ende zu. Sie kann nur aus einem Grund weitergehen: weil sie zufällig existiert. Aber wie schwach ist dieser Grund im Vergleich zu allem, was das Gegenteil ahnen lässt, vor allem zu der Frage: Was bleibt der Welt des Menschen in der Zukunft? Angenommen, sie würde materiell fortbestehen, wäre das eine Existenz, die ihres Namens und des historischen Wörterbuchs würdig wäre? Ich sage nicht, dass die Welt in einen gespenstischen Zustand und die seltsame Unordnung südamerikanischer Republiken zurückfallen würde; ich sage auch nicht, dass wir zu primitiver Wildheit zurückkehren und mit dem Gewehr in der Hand durch die grasbedeckten Ruinen unserer Zivilisation auf Nahrungssuche gehen würden. Nein, solche Abenteuer würden immer noch eine gewisse Lebenskraft erfordern, ein Echo aus der Urzeit. Wir werden ein neues Beispiel für die Unerbittlichkeit der geistigen und moralischen Gesetze liefern und ihre neuen Opfer sein: Wir werden an dem zugrunde gehen, wovon wir zu leben glauben. Die Technokratie wird uns amerikanisieren, der Fortschritt wird unsere Spiritualität so weit aushungern, dass nichts von den blutdürstigen, frivolen oder unnatürlichen Träumen der Utopisten mit diesen positiven Tatsachen vergleichbar sein wird. Ich lade jeden denkenden Menschen ein, mir zu zeigen, was vom Leben übrig geblieben ist. Die Religion! Es ist sinnlos, darüber zu reden oder nach ihren Resten zu suchen; es ist ein Skandal, dass man sich die Mühe macht, sogar Gott zu leugnen. Das Privateigentum! Es wurde – genau genommen – mit der Abschaffung des Erstgeburtsrechts abgeschafft. Der allgemeine Ruin wird sich nicht nur oder vor allem in den politischen Institutionen oder dem allgemeinen Fortschritt oder was auch immer ein passender Name dafür sein mag, manifestieren; er wird sich vor allem in der Niedertracht der Herzen zeigen. Soll ich noch hinzufügen, dass das bisschen, was von der Geselligkeit übrig geblieben ist, der um sich greifenden Brutalität kaum Widerstand leisten wird und dass die Herrscher, um sich zu behaupten und eine Scheinordnung herzustellen, rücksichtslos zu Maßnahmen greifen werden, die uns, die wir schon gefühllos sind, erschaudern lassen?“
Wiederum einige Jahrzehnte später prophezeiten Burckhardt in der Schweiz, Nietzsche in Deutschland, Dostojewski und Tolstoi in Russland statt des künftigen Fortschritts den Untergang der westlichen Zivilisation. In seinem Tagebuch eines Schriftstellers wendet sich Dostojewski gegen die russische Begeisterung für die Errungenschaften des Westens und sagt, es sei absurd, den Russen zu raten, den westlichen Fortschritt einzuholen, da der Zusammenbruch der westlichen Zivilisation unmittelbar bevorstehe und schrecklich sei. „Der europäische Ameisenhaufen, der ohne das Christentum aufgebaut wurde – denn überall in Europa hat die Kirche ihr Ideal verloren -, dieser Ameisenhaufen, der auf einem morschen Fundament steht, dem es an allem Universellen und Absoluten fehlt, ist völlig unterminiert.“ Was nützt es, aus Europa Institutionen zu übernehmen, die dort morgen zusammenbrechen, Institutionen, an die selbst die intelligentesten Europäer nicht mehr glauben, während sie von den Russen sklavisch kopiert werden, als sei die Komödie der bürgerlichen Ordnung die Normalform der menschlichen Gesellschaft?
Anstatt zu glauben, dass die westlichen Nationen die außereuropäischen Völker erlösen würden, war Tolstoi der Meinung, dass Europa nicht nur sich selbst zerstören, sondern auch Indien, Afrika, China und Japan korrumpieren würde, indem es seine fortschrittliche Zivilisation verbreiten und durchsetzen würde.
„Die mittelalterliche Theologie oder die römische Sittenverderbnis vergifteten nur ihr eigenes Volk, einen kleinen Teil der Menschheit; heute verderben Elektrizität, Eisenbahnen und Telegrafen die ganze Welt. Jeder macht sich diese Dinge zu eigen. Er kann gar nicht anders, als sie sich zu eigen zu machen. Maschinen – um was zu produzieren? Der Telegraf – um was zu versenden? Bücher, Zeitungen – um welche Art von Nachrichten zu verbreiten? Eisenbahnen – um zu wem und an welchen Ort zu gelangen? Millionen von Menschen, zusammengetrieben und einer obersten Macht unterworfen – um was zu erreichen? Krankenhäuser, Ärzte, Apotheken, um das Leben zu verlängern – wozu? Und was die Nationen betrifft: so viele Eisenbahnen wie möglich, Akademien, Industrieanlagen, Kriegsschiffe, Festungen, Zeitungen, Bücher, Parteien, Parlamente. So ist die zivilisierteste Nation vollständig. Viele Individuen und auch Nationen können also an Zivilisation interessiert sein, aber nicht an wahrer Aufklärung. Die erstere ist leicht, die letztere erfordert rigorose Anstrengungen und stößt daher nur auf Verachtung und Hass, denn sie entlarvt die Lüge der Zivilisation.“
Anstelle der Irreligion des Fortschritts wollte Tolstoi die ursprüngliche Religion Christi wiederherstellen, die in ihren Anfängen nicht weniger als heute mit geistigem Zerfall und materiellem Fortschritt konfrontiert war. Die Kluft, die diese Schriftsteller von dem rationalen Optimismus oder zumindest Meliorismus von Comte und Condorcet trennt, könnte kaum tiefer sein.
Doch dieses Misstrauen einiger anspruchsvoller Schriftsteller in die Segnungen des modernen Fortschritts wurde vom Durchschnittsbürger, der öffentlichen Meinung und den Erfindern selbst nicht geteilt. Im selben Jahr, in dem Baudelaire die oben zitierte Passage schrieb, wurde in London die erste Internationale Weltausstellung eröffnet, die größte Schau des industriellen Fortschritts, die es je gegeben hatte.
Zwei berühmte Dichter, beide Vertreter ihrer Länder, zögerten nicht, die Errungenschaften des neunzehnten Jahrhunderts zu verherrlichen. Alfred Lord Tennyson schrieb eine „Ode zur Eröffnung der Weltausstellung“, in der die „Goldene Stadt“ von Jerusalem, die das Ziel der Pilgerreise war, in den neuen Bau des Kristallpalastes der Ausstellung verwandelt wird. In Frankreich kündigte Victor Hugo in seinem kolossalen Epos La Légende des siècles (1859) eine neue Ära der Welt an, in der der Mensch, der triumphierende Rebell, von seiner Vergangenheit befreit sein und sich frei in eine bessere Zukunft bewegen würde. Im Vorwort sagt er: „Du reste, ces poèmes n’ont entre eux d’autre nœud qu’un fil: le grand fil mystérieux du labyrinthe humain, le progrès … Contentons-nous du mot: meilleur! écrit partout.“ Nach sechstausend Jahren ist die Morgendämmerung angebrochen, und der Mensch hat sich, befreit von den Ketten der Vergangenheit, zu neuen Ufern aufgemacht:
„Où va-t-il ce navire? Il va, de jour vêtu,
A l’avenir divin et pur, à la vertu,
A la science qu’on voit luire,
A la mort des fléaux, à l’oubli généreux,
A l’abondance, au calme, au rire, à l’homme heureux,
Il va, ce glorieux navire.“
[Wohin fährt das Schiff? Es fährt, am Tag gekleidet,
Zur göttlichen und reinen Zukunft, zur Tugend,
Zur Wissenschaft, die man leuchten sieht,
Zum Tod der Plagen, zum großzügigen Vergessen,
Zum Überfluss, zur Ruhe, zum Lachen, zum glückelichn Menschen.
Es fährt, das glorreiche Schiff]
In dem Abschnitt seines Epos mit dem Titel „Plein ciel“ stellt man sich den Menschen vor, wie er einen Himmelswagen durch die Lüfte fährt, an dem die Winde befestigt sind, die über die Wolken steigen:
„Superbe, il plane, avec un hymne en ses agrès;
Et l’on voit voire passer la strophe du progrès.“
[Herrlich schwebt er, mit einer Hymne in seinen Geräten;
Und man sieht sogar die Strophe des Fortschritts vorbeiziehen.]
Nur wenige nüchterne Köpfe sahen voraus, dass der Mensch durch den Fortschritt nicht glücklicher wird und dass all die wunderbaren Kommunikations- und Informationsmittel die Menschen nicht nur für den Frieden vereinen und gleichmachen, sondern auch mächtigere Waffen zur Kriegsführung entwickeln. Denn alle Erfindungen sind für das Böse ebenso brauchbar wie für das Gute. Es ist ein Symptom dieser Zweideutigkeit, dass ein berühmter englischer Schriftsteller, H. G. Wells, mit der optimistischsten Sicht auf „Menschen wie Götter“ begann und in völliger Hoffnungslosigkeit mit dem Buch „The Mind at the End of the Tether“ endete.
Nach dem Ersten Weltkrieg analysierte Paul Valéry in einer Rede von 1922 „la crise de 1’esprit“ in einer Zeit des ebenso raschen wie unwiderstehlichen Wandels aller Bedingungen des menschlichen Lebens. Seine Studie der gegenwärtigen Welt steht weit über den Gemeinplätzen der Verherrlichung oder der Verteufelung des Fortschritts. Er fasst seine Sicht des modernen Fortschritts in zwei Punkten zusammen: Zunahme der Macht und der Präzision.
„Vor einiger Zeit habe ich versucht, eine positive Vorstellung von dem zu formulieren, was man Fortschritt nennt. Ohne Rücksicht auf moralische, politische oder ästhetische Gesichtspunkte schien es mir, dass sich der Fortschritt auf die sehr rasche und sehr sinnvolle Zunahme der [mechanischen] Kraft, die der Mensch zu nutzen vermag, und auf den Grad der Genauigkeit, den er bei seinen Voraussagen erreicht, reduziert. Eine bestimmte Anzahl von Pferdestärken, eine überprüfbare Anzahl von Dezimalzahlen, das sind Merkmale, deren große Zunahme innerhalb eines Jahrhunderts nicht bezweifelt werden kann. Man denke nur an die Menge an Motoren aller Art, die jeden Tag benutzt werden, man denke an die Zerstörung der natürlichen Ressourcen, die in der Welt stattfindet! Eine Straße in Paris arbeitet und zittert wie eine Fabrik. Bei Einbruch der Dunkelheit ein Fest der Feuer, Schatzkammern des Lichts, Ausdruck für unsere geblendeten Augen eine Kraft der außergewöhnlichen Verschwendung, eine fast schuldige Großzügigkeit. Sollte die Verschwendung zu einer öffentlichen und ständigen Notwendigkeit geworden sein? … Könnte nicht ein Beobachter, der unsere Zivilisationsstufe aus einiger Entfernung betrachtet, denken, dass der Große Krieg nur eine sehr unheilvolle, wenn auch direkte und unvermeidliche Folge der Entwicklung unserer Mittel war? Die Ausdehnung, die Dauer, die Intensität, ja sogar die Grausamkeit dieses Krieges entsprachen den Dimensionen unserer Kräfte. Unsere Mittel und unsere Industrien in Friedenszeiten gaben ihm sein Ausmaß, und seine Proportionen unterschieden sich so sehr von denen früherer Kriege, wie es unsere Aktionsmittel, unsere materiellen Ressourcen, unser Reichtum erforderten. Aber der Unterschied bestand nicht nur in den quantitativen Proportionen. Denn wenn ein materielles Objekt quantitativ vergrößert wird, ändert sich bald auch seine Qualität. Der letzte Krieg kann nicht als eine einfache Vergrößerung der Konflikte früherer Zeiten betrachtet werden. Die Kriege der Vergangenheit gingen zu Ende, lange bevor die wirkliche Erschöpfung der an ihnen beteiligten Nationen eingetreten war: so wie ein guter Schachspieler nach dem Verlust nur einer Schachfigur das Spiel aufgeben kann. Hier findet die Geschichte ihr Ende durch eine Art Konvention: Das Ereignis, das über die Ungleichheit der Kräfte entschied, war eher symbolisch als die eigentliche Ursache. Aber jetzt, vor wenigen Jahren, haben wir im Gegenteil gesehen, wie der moderne Krieg bis zur äußersten Erschöpfung der Gegner geführt wurde, deren Ressourcen, auch die entferntesten, einer nach dem anderen in der Schusslinie verbraucht wurden.“
Valéry unterstreicht zu Recht die „unwiderstehliche“ Tendenz und die „unausweichlichen“ Folgen der modernen Fortschritte in der technischen Wissenschaft. Der Fortschritt ist uns zum Verhängnis geworden.
Die Fatalität dieser fortschreitenden Entwicklung wird durch ihren enormen Erfolg verdeckt. Von der Kinetik zur Dampfmaschine und von dort zur Elektrodynamik, von der Quantentheorie zur Kernspaltung – der Weg dieser wissenschaftlichen Revolution hat zu unserer heutigen Welt geführt, die die Erde mit einer technischen Superwelt der Industrie und des Verkehrs überzieht, die die Bevölkerung immer weiter vervielfacht und die es ermöglicht, in einem Augenblick zu hören, zu sprechen, zu sehen und um die Welt zu rasen. Es ist der übermenschliche Erfolg des wissenschaftlichen Fortschritts, der den Physiker an die Stelle des Theologen setzt: Die rationale Planung des Fortschritts durch den Menschen hat die Funktion der göttlichen Vorsehung abgelöst.
Doch innerhalb einer Generation haben zwei Weltkriege das Selbstbewusstsein des Fortschrittsglaubens des neunzehnten Jahrhunderts erschüttert und uns das Bewusstsein für die zwingenden Kräfte geweckt, die inmitten all unserer rationalen Planung und Voraussicht am Werk sind. Der Entdecker der Kernspaltung, Otto Hahn, hat die Analogie der Atomphysik zur primitiven Magie erkannt und in einem Buch niedergeschrieben, dem er den bezeichnenden Titel „Moderne Alchemie“ gab. „Wenn wir unter Alchemie immer noch die künstliche Verwandlung eines Elements in ein anderes verstehen, dann können wir die Wissenschaftler unseres Jahrhunderts vielleicht als die wahren Alchemisten bezeichnen.“ Tatsächlich wandelt die moderne Physik nicht nur einige Elemente in andere um, sondern schafft auch die synthetische Herstellung von Elementen, die der Natur unbekannt sind.
Verbunden mit dieser Entdeckung, die noch vor einer Generation als unvorstellbar gegolten hätte, sind die Angriffe auf das Reich des unermesslich Kleinen und Großen. Diese gehen weit über das alte Fortschrittsprogramm hinaus, denn sie machen nicht nur eine von Natur aus vorhandene Natur nutzbar, sondern schaffen eine neue künstliche Welt. Parallel zu diesem wissenschaftlichen Fortschritt vollzieht sich die fortschreitende Veränderung und Auflösung der alten europäischen Traditionen in Bezug auf Religion, Ethik, soziales Leben und Politik; selbst die „Liebe“ muss notwendigerweise ihre Bedeutung ändern, wenn die sexuellen Beziehungen durch Chemie und Medizin kontrolliert werden können. Die beiden Weltkriege haben neue Erfindungen hervorgebracht, die ihrerseits auf die Politik zurückwirken. Was einst Utopien waren, ist Wirklichkeit geworden, und „das einzige“ Problem scheint nun zu sein, wie man den Menschen umgestalten und konditionieren kann, damit er seinen eigenen Erfindungen gerecht werden kann. Die von Nietzsche erhobene Klage, der Mensch sei „heimatlos“ geworden, ist bereits obsolet. Denn wir sind nirgends zu Hause, gerade weil wir überall sein können. Der Mensch ist heute in der Lage, sich in eine Metallkapsel zu versetzen, die sich innerhalb einer Stunde um die Erde dreht und nach seinem berechnenden Willen zu ihr zurückkehrt.
Der prometheische Mensch – Sigmund Freud nannte ihn einen „Prothesengott“ – ist sich nun bewusst, dass er radikale Anstrengungen unternehmen muss, wenn er nicht von den Kräften, die seine eigene Phantasie hervorgebracht und freigesetzt hat, zerstört werden will. Vor über einem Jahrhundert hatte Marx dieses Problem unter dem Begriff der „Selbstentfremdung“ gefasst. Im Gegensatz zu seinem klaren Verständnis des antireligiösen Charakters des modernen wissenschaftlichen Fortschritts bemühen sich katholische wie protestantische Theologen, sich und ihre Schäfchen davon zu überzeugen, dass diese fortschrittlichen Entwicklungen der Wille Gottes sind, der uns mit Freiheit und Vernunft ausgestattet hat.
Die Phase der Nutzung der Naturkräfte durch die technische Wissenschaft ist der Beginn des Atomzeitalters, und seit dem Abwurf der ersten Atombombe ist das Dilemma des Fortschritts unausweichlich geworden. Im Hinblick auf die atomare Bewaffnung führt der wissenschaftliche Fortschritt dazu, dass jeder jeden als potenziellen Feind fürchtet, der schneller vorankommen könnte, und diese Angst erzwingt einen gegenseitigen Wettbewerb um weitere Fortschritte bei den Verteidigungs- und Angriffsmitteln. Die Geschichte der Herstellung von Atomwaffen, die Robert Jungk in seinem Buch „Heller als tausend Sonnen“ beschreibt, gibt eine aufschlussreiche Beschreibung einer Art Schizophrenie unter den verantwortlichen Wissenschaftlern und Politikern. Die Physiker, die diese Wunderwaffe erfunden hatten, schoben nach dem ersten Einsatz der Atombombe die Verantwortung für ihren Einsatz auf die Politiker, während die Techniker und Militärs, die den Einsatz durchführten, die Physiker für die Erfindung verantwortlich machten. Nach vorübergehenden Gewissensbissen kehrten die meisten amerikanischen Atomphysiker in ihre nationalen Forschungsinstitute zurück und experimentierten weiter mit den Milliarden von Dollar, die sie von Regierung, Armee und Marine erhielten.
Aber auch diese Situation ist nicht so neu, wie sie zu sein scheint. Als Alfred Nobel das verheerendste Zerstörungsmittel seiner Zeit erfand, wollte er mit der Herstellung von Dynamit verhindern, dass in Zukunft jemand Krieg führt. Nachdem seine Hoffnung gescheitert war, ging er ins selbstgewählte Exil und stiftete kurz vor seinem Tod den Nobelpreis, der zum einen für Bemühungen um den Weltfrieden und zum anderen für wissenschaftliche Entdeckungen vergeben wird, die die radikalste Zerstörung ermöglichen.
In dem Dilemma zwischen Fortschritt und Zerstörung bekennen sich 1955 achtzehn Nobelpreisträger aus aller Welt zu ihrer „Treue zur Wissenschaft“, gestehen aber andererseits ihre Ratlosigkeit angesichts der Folgen des unbegrenzten wissenschaftlichen Fortschritts. So wie im Drama des Aischylos die Promethiden keine Voraussicht auf das Kommende hatten, sondern stattdessen die trügerische Gabe der blinden Hoffnung, so war der Appell der Atomphysiker von der Hoffnung beseelt, dass alle Völker freiwillig auf Gewalt verzichten könnten. Doch die Angst vor dem Ende wird durch die Aussicht auf „friedliche“ Fortschritte und Vorteile der Kernkraft überdeckt. Ein unheilvolles Zusammentreffen von Fatalismus und Fortschrittswille prägt heute das gesamte Denken über den Lauf der Geschichte. Der Fortschritt wird uns aufgezwungen, er ist zur Fatalität geworden.
Die Frage, die sich nun stellt, lautet: Gibt es eine Instanz, die dem an sich grenzenlosen Fortschritt Grenzen setzen könnte, oder ist es unvermeidlich, dass der Mensch alles tut, was er tun kann? Gibt es ein Maß für die Freiheit, alles und nichts zu tun? An diesem entscheidenden Punkt trennt sich das moderne Denken vom griechischen Denken, wie es im Mythos von Prometheus zum Ausdruck kommt. In diesem Mythos erhält der Mensch die Gaben des Prometheus – es sind die Gaben des Menschen an sich, die ihn von Göttern und Tieren unterscheiden – zusammen mit ihren Gefahren. Im antiken Griechenland gab es nie eine rücksichtslose Verherrlichung der technischen menschlichen Fähigkeiten. Prometheus befreit zwar die Menschen durch seine Gabe, das vom Himmel gestohlene Feuer, aber er erlöst den Menschen nicht. Im Gegenteil, er selbst wird in eiserne Ketten gelegt und von Jupiter bestraft. Und wir selbst, die wir am Ende dieser ursprünglichen Rebellion stehen, ein Ende, das wir den Beginn des atomaren Zeitalters nennen, sind sowohl befreit als auch von unseren eigenen Fähigkeiten gefesselt. Die optimistische Haltung des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts gegenüber dem Fortschritt sah nicht voraus, dass Emanzipation und Befreiung auch versklaven können. Und wenn Comte vor hundert Jahren prophezeite, dass wissenschaftlicher und industrieller Fortschritt verheerende Kriege abschaffen würde, so sind wir heute von diesem Optimismus zum Fatalismus übergegangen, was die Aussichten des Fortschritts angeht. Der Fortschritt selbst schreitet weiter voran; wir können ihn nicht aufhalten oder seinen Verlauf ändern. Dies wirft ein kritisches Licht auf Hegels These, dass die Geschichte ein Fortschritt in der Verwirklichung der Freiheit sein sollte.
Im Prometheuskult sühnen die Griechen den Diebstahl des himmlischen Feuers im Mythos des angeketteten Prometheus, denn sie haben das starke Gefühl, dass dieser Diebstahl des Feuers dem Menschen eine Macht verliehen hat, die in strengsten Grenzen gehalten werden muss, wenn sie ihn nicht zerstören soll. Dieser Mythos offenbart eine heilige Ehrfurcht vor Eingriffen in die Naturgewalten. Die Griechen betrachteten den physischen Kosmos als etwas Göttliches, das im Gegensatz zu allen Errungenschaften des Menschen steht. Heute, da wir die Erde vom Mond aus fotografieren können, scheint jede Ehrfurcht verschwunden zu sein. Wir leben in einer Mischung aus Bewunderung für den technischen Fortschritt und Angst vor seinem Erfolg. Wir experimentieren ständig; in der Genetik zum Beispiel berechnen wir alles, was sich berechnen lässt, und wir machen alles, was sich machen lässt. Von der mythischen Vorzeit bis zum Ende des Mittelalters wurde jeder erfinderische Eingriff in die Natur mit religiösen Opfern gesühnt, um die beschworenen Kräfte zu bannen. Dies geschah bei jeder Gründung einer griechischen Stadt – eine Verletzung der heiligen Erde – und bei jedem Auslaufen eines Schiffes in See. Ein Relikt dieser religiösen Praxis, das heute kaum noch verstanden wird, ist die Flasche, die bei der Taufe eines Schiffes zerschlagen wird, oder die Bänder, die auf dem Dach eines neu gebauten Hauses angebracht werden. Dennoch kann man nicht einmal sagen, dass die Haltung der modernen Wissenschaft gegenüber der Natur ein Sakrileg ist. Ein Sakrileg würde voraussetzen, dass die Welt der Natur, der physikalische Kosmos, etwas Übermenschliches, Heiliges und Göttliches ist, und nicht nur ein relationales System von Energiequanten, das sich in mathematischen Gleichungen darstellen lässt. Solange wir unser ganzes Verhältnis zur Welt und zur Zeit nicht grundlegend revidieren, sondern immer noch davon ausgehen – wie die biblische Tradition und die christlichen Begründer der modernen Wissenschaft –, dass die Welt zum Zweck des Menschen gemacht oder geschaffen ist und das menschliche Wissen um der Macht willen, ist es schwer, sich eine mögliche Lösung des Dilemmas vorzustellen, zu dem der Fortschritt für uns geworden ist.
Wie ich bereits sagte, ist Fortschritt nur in einer zeitlichen Struktur möglich, die im Wesentlichen auf die Zukunft ausgerichtet ist. In einer immerwährenden Gegenwart ist weder Entwicklung noch Fortschritt vorherrschend. Im Gegensatz zum klassischen und wörtlichen Sinn des Wortes „Geschichte“, d.h. der Aufzeichnung vergangener Ereignisse, ist es jedoch charakteristisch für das christliche und moderne Geschichtsbewusstsein, dass es durch und durch vom Sinn für eine eschatologische Zukunft durchdrungen ist und folglich in Angst und Hoffnung lebt. Die Erwartung der Zukunft ist das Medium, in dem der Wille zum Fortschritt lebendig gehalten wird. Die entscheidende Frage im Hinblick auf unsere Besessenheit von der Zukunft ist daher, ob die Zeit des Universums eine ewige und unvergängliche ist, im Gegensatz zur endlichen Zeit des sterblichen Menschen. Aber wir können nicht einmal über die endliche Zeit richtig nachdenken, wenn wir die Möglichkeit einer ewigen Zeit ausschließen. Nur wenn es so etwas wie eine immerwährende kosmische Zeit gäbe, in der einige Dinge entstehen, während andere vergehen, würde die Idee des Fortschritts und der Wille dazu ihre unverhältnismäßige Schwere verlieren, die Schwere, die sie für uns hat, weil wir nichts kennen, was ewig währt, da wir den alten Sinn für die Ewigkeit und damit den Sinn für Proportionen in Bezug auf die menschlichen Angelegenheiten verloren haben – la terre des hommes, die jedoch nicht das Universum ist. Die Welt als Universum ist nicht für den Menschen und vom Menschen gemacht. Sie ist da – auch ohne uns, für und durch sich selbst existierend.
Quelle: Man and His World//Terres des hommes: The Noranda Lectures, Expo 67/Les Conferences Noranda/L’Expo 67 mit einer Einführung von Helen S. Hogg, Toronto: University of Toronto Press, 1968, S. 81-94.