Es ist Björn Mensing zu verdanken, dass der Widerstand und die Inhaftierung des Pfarrers Wolfgang Niederstraßer (1907-1981) im KZ Dachau gegen das NS-Regime doch noch bekannt geworden ist:
Auszüge aus einer Predigt zu Psalm 10 im Trauergottesdienst für Gefallene am Sonntag, 28. Juni 1942 in Warmensteinach
Von Wolfgang Niederstraßer
HERR, warum trittst du so ferne, verbirgst dich zur Zeit der Not?
Weil der Gottlose Übermut treibt, muß der Elende leiden; sie hängen sich aneinander und erdenken böse Tücke. Denn der Gottlose rühmt sich seines Mutwillens, und der Geizige sagt dem HERRN ab und lästert ihn. Der Gottlose meint in seinem Stolz, er frage nicht darnach; in allen seinen Tücken hält er Gott für nichts. Er fährt fort mit seinem Tun immerdar; deine Gerichte sind ferne von ihm; er handelt trotzig mit allen seinen Feinden. Er spricht in seinem Herzen: Ich werde nimmermehr darniederliegen; es wird für und für keine Not haben.
Sein Mund ist voll Fluchens, Falschheit und Trugs; seine Zunge richtet Mühe und Arbeit an. Er sitzt und lauert in den Dörfern; er erwürgt die Unschuldigen heimlich; seine Augen spähen nach den Armen. Er lauert im Verborgenen wie ein Löwe in der Höhle; er lauert, daß er den Elenden erhasche, und er hascht ihn, wenn er ihn in sein Netz zieht. Er zerschlägt und drückt nieder und stößt zu Boden den Armen mit Gewalt. Er spricht in seinem Herzen: Gott hat’s vergessen; er hat sein Antlitz verborgen, er wird’s nimmermehr sehen.
Stehe auf, HERR; Gott, erhebe deine Hand; vergiß der Elenden nicht! Warum soll der Gottlose Gott lästern und in seinem Herzen sprechen: Du fragest nicht darnach? Du siehest ja, denn du schauest das Elend und den Jammer; es steht in deinen Händen. Die Armen befehlen’s dir; du bist der Waisen Helfer. Zerbrich den Arm des Gottlosen und suche heim das Böse, so wird man sein gottlos Wesen nimmer finden.
Der HERR ist König immer und ewiglich; die Heiden müssen aus seinem Land umkommen.
Das Verlangen der Elenden hörst du, HERR; ihr Herz ist gewiß, daß dein Ohr darauf merket, daß du Recht schaffest dem Waisen und Armen, daß der Mensch nicht mehr trotze auf Erden. (Psalm 10, Luther 1912)
„Wo steht unsere Welt in dieser Stunde? Wir müssen unsere Augen hinlenken in die neu eroberten Gebiete, um das zu erkennen. Man hat in politischen Kreisen den Warthegau im Osten den kirchlichen Exerzierplatz Deutschlands genannt. Was dort heute geübt wird, soll morgen auch im Reich in Übung treten. Dort im Warthegau gelten folgende 13 Punkte: [Text der 13 Punkte, Ziffern 7 und 12 im Konzept der Predigt ausgelassen]. Das sind 13 Punkte, nein 13 Todesurteile gegen die christliche Kirche. Inzwischen schreitet die Auflösung des Glaubens auch im Reiche Schritt für Schritt fort. Wo soll ich beginnen, wo aufhören? Man drängt die Kirche zurück aus dem öffentlichen Leben, zunächst in ihre Mauern, doch auch dort läßt man sie nicht. Anstelle der Taufe tritt die Namensgebung. Anstelle der Konfirmation tritt die Jugendreife, die politische Verpflichtung der Jugend. Anstelle der Trauung die Eheweihe. Anstelle der christlichen Beerdigung die Totenehrung. Es ist die Absicht vorhanden, daß auf christlichen Friedhöfen auch nicht christliche Bestattungen stattfinden müssen, daß selbst die Gotteshäuser zu solchen Feiern geöffnet werden müssen. [. . .] Genug. Warum bist Du so ferne, verbirgst Dich zur Zeil der Not? Warum?! Weil der Gottlose Übermut treibt, muß der Elende leiden!“
Quelle: Björn Mensing, „… nicht nur ein priesterliches, sondern auch ein prophetisches Amt“. Von der fränkischen Kanzel ins KZ Dachau – Das „vergessene“ Zeugnis von Pfarrer Wolfgang Niederstrasser. In: Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European church history. Festschrift für Berndt Hamm zum 60. Geburtstag. Hg. von Gudrun Litz, Heidrun Munzert und Roland Liebenberg (Studies in the history of Christian traditions. 124). Leiden 2005, S. 763–778.768.