Lucie Adelsberger, Auschwitz. Ein Tatsachenbericht (1946): „Wenn wir nachts aus dem Schlaf erwachten – wir, die wir das sahen, und doch aßen und schliefen wie normale Menschen – war der Block innen hell erleuch­tet, beleckt von den Reflexen der Riesenglut. Und wenn ich aufstand und mich durch die hintere Türe des Blocks schlich und auf das gegenüberliegende Krematorium, das zweite, schaute, sah ich daneben die offenen Feuer im Freien, in die man die Kinderleiber schmiss, tote und auch lebende; hörte das Schreien der Kinder, sah, wie die Feuer mit den zarten Körpern spielten, und keine Metamorphose meines Seins, gleichviel in welcher Sphäre, wird dieses Gesicht aus meiner Seele je aus­radieren.“

Lucie Adelsberger (1895-1971) hatte als jüdischstämmige Fachärztin für Kinderheilkunde sowie Innere Medizin das KZ Auschwitz überlebt. Ihr 1946 abgefasster Text „AUSCHWITZ. Ein Tatsachenbericht“ erschien 1956 auf Veranlassung ihrer Freundin und Lektorin Ursula Bohn mit einem Nachwort von Heinrich Vogel im Lettner-Verlag Berlin. Eines der eindrücklichsten Zeugnisse über die Schoah, sowohl sprachlich wie auch inhaltlich:

Lucie Adelsberger

AUSCHWITZ. Ein Tatsachenbericht

Das Vermächtnis der Opfer für uns Juden und für alle Menschen

LETTNER-VERLAG • BERLIN

Ausgegeben im Herbst 1956 Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung:

Paquita Kowalski Tannert

Satz: Vari – Typet (Lettner – Verlag) Druck: Duplikator – Druck, Berlin

VORWORT

Die Geschichte derer von Auschwitz wird hier berichtet, nicht um Sensation zu erregen, son­dern um sie als ein Vermächtnis für uns Juden und für alle Menschen weiterzugeben. Nur wenn wir, die wir uns Gottes Geschöpfe nennen, da­raus lernen, bessere Menschen zu werden, unseren Nächsten wahrhaft zu lieben und dafür zu wirken, daß die Greuel von der Erde verschwinden, kann dieses Buch seinen Zweck erfüllen.

Lucie Adelsberger

Erster Teil

In der Mausefalle

Den Anfang bilden nur ein paar sogenannte „Kleinigkeiten”, die aber so schwer wiegen, daß sie nicht unterschlagen werden dürfen.

Nummer 1: Im Juli 1938 wurde eine kurze Ver­fügung von der Gestapo herausgebracht, so unscheinbar, daß sie in dem Wust von gewich­tigen vitalen Verordnungen kaum spürbar schien. Sie besagte: Juden ist das Sitzen an öffentlichen Plätzen nur auf den für sie reser­vierten Bänken erlaubt. Auf allen anderen Bänken ist Juden das Sitzen verboten. Ein solches Verbot schien trotz der wenigen „Ju­denbänke” beinahe lächerlich für Menschen, die den Kopf voll ernsthafter Sorgen hatten, die etwa aus dem geschäftlichen und berufli­chen Leben vollkommen eliminiert und von übereifrigen Nazi–gefügigen Hauswirten von einem Tag zum anderen aus ihren Wohnungen auf die Straße gesetzt wurden, um nur zwei Beispiele herauszugreifen. Und dennoch war diese Verordnung einschneidend genug. Denn unter den Juden, die noch in Deutschland ver­blieben waren, gab es viele alte Leute, die in einem anderen Land nicht mehr aufzubauen vermochten, und die die Jugend bei ihrem Start zu einer neuen Existenz nicht gleich mit ins Rennen bringen konnte. Diese Altchen hat­te man zurückgelassen, in kleinen Wohnungen, in Pensionen, in Hinterstübchen, mit dem ewi­gen Einerlei derer, die körperlich gehemmt sind und ohne Initiative gelangweilt durch den Tag schlendern, so daß die Eintönigkeit schwer auf ihnen lastet. Das Stündchen auf der Bank im Park, wo die Kinder spielten, die Vögel sangen und farbige Blumen das Auge labten, war das Ereignis des Tages für diese Men­schen, die nicht mehr die Kraft hatten, eine Stunde durch die Straße zu wandern. Auch die­se Freude war gestrichen, denn man mißgönnte den Juden die Luft zum Atmen.

Nummer 2 spielte in der Kurfürstenstraße in Berlin fast ein Jahr später im Juni 1939. Dort thronte in einem früheren Logenhaus die Ge­stapo und stellte die Papiere aus, die für Paß und Auswanderung unerläßlich waren. Im gro­ßen und ganzen bot sich das Bild einer stark umlagerten Behörde, wo Haufen von Menschen stundenlang auf ihre Abfertigung warteten, nur daß diese Massen durchsetzt waren mit alten gebrechlichen Leuten und daß nirgends ein Stuhl oder eine Ruhegelegenheit für sie ver­fügbar war. Ich war mit meiner alten Mutter da, die ein Vorvisum für, sagen wir, Honolulu hat­te. Nach vierstündigem Warten gelangten wir in den geräumigen Saal, wo die verschiedenen Ämter der Gestapo, der Reihe nach an Tischen postiert, ihre gewichtigen Funktionen erledig­ten und automatisch und zugleich autorativ ihre Unterschriften unter die Ausweispapiere setzten. Wie wir so in der Menschenmenge eingekeilt von einem Tisch zum anderen weitergeschoben wurden und die meisten mißmutig dreinschauten, lächelte meine Mutter, diese gütige Frau, einem Beamten, der sie ab­fertigte, freundlich zu. Der schaute sie wütend an und brüllte los: „Sie wagen noch zu lächeln. Das Lachen wird Ihnen vergehen. Dafür wer­den wir sorgen.” Da wußte ich, daß diese Men­schen für Güte und Menschlichkeit unzugäng­lich waren.

Nummer 3 ereignete sich 8 Tage später beim Konsul in Honolulu. (Eigentlich sollte dieser ordentliche Staat nicht zu einer Pseudonymisierung mißbraucht werden.) Es ging um das Visum meiner Mutter. Monatelang hatte ich um dieses Visum gekämpft, gebangt, gezittert, da­mit sie aus Deutschland auswandern könne. Ich hatte mir die Finger dafür wundgeschrie­ben. Am Tage war ich von einer Behörde zur anderen gerannt und hatte sie bestürmt, nachts raste ich, weil ich nicht schlafen konnte, durch die Straßen und zählte die Pflasterstei­ne im Mondlicht, bereit, jeden einzelnen mit den bloßen Nägeln auszugraben, bis mir die Finger abfallen würden, wenn ich dafür das Visum erkaufen könnte. Und endlich waren Paß und Vorvisum in meinen Händen. Mit ge­schwellter Brust und dem Vollgefühl dessen, der es geschafft hat, eilte ich zu dem Konsul und raste die Treppe hinauf. Nach einer halben Stunde, wieder auf der Treppe, begriff ich den Ausdruck, daß einem die Knie zittern und die Beine versagen. Es hatte nicht geklappt; der Konsul hatte das Visum verweigert. Eine Klei­nigkeit, eine nebensächliche Klausel, die den Vorschriften nicht genügte, war die Ursache. Als Einzelfall wäre es ganz uninteressant und nur für uns von Bedeutung gewesen. Aber es ist ein Beispiel, eines von den vielen. Tausen­de haben gehofft, gezittert, gebebt, gewartet, sich auf den Kopf gestellt und um alle Kreise gedreht und blieben mit leeren Händen, weil – auch das mußte man zulernen – die Welt drau­ßen nicht helfen wollte.

Wohnungsnot

Frau X, Leiterin der Jüdischen Wohnungsbera­tungsstelle in Berlin, war im August 1941 zur Gestapo beordert worden. Die Fama sagt, daß sie sehr bleich und mitgenommen zurückgekehrt sei. Skeptiker lächelten darüber: Wieder einmal ein Gerücht und ein Beweis, wie schnell sich um exponierte Personen ein Mythos spinnt. Weshalb sollte Frau X durch eine Besprechung mit der Gestapo, die mindestens einmal wö­chentlich zu ihren Funktionen gehörte, derangiert sein – eine Frau mit Schiffstauen an Stel­le von Nerven und durch jahrelanges Training im Polizeidienst geübt, Überraschungseffekte und Sentiments äußerlich unbeeindruckt hinzu­nehmen? Sonst hätte sie ihr Amt als Chef der Jüdischen Wohnungsberatungsstelle nicht mei­stern können in einer Zeit, wo es zum guten Ton gehörte, Juden aus ihren Wohnungen zu werfen um die Häuser judenrein zu machen, und Ersatzwohnungen in sogenannten „ari­schen“ Häusern an Juden nicht zugewiesen werden durften. Auf der Straße nächtigen durf­ten sie auch nicht, und so waren die jüdischen Wohnungen mit zahlreichen Familien bis auf die letzte Kammer ausgenutzt. Trotzdem soll Frau X, wie auch noch verlautete, in jener Ge­heimsitzung auf die Frage der Gestapo, ob sie noch mehr Wohnungen judenfrei machen und zur Verfügung stellen und die Bewohner anders­wo unterbringen könne, ja gesagt haben – was ihr von einigen verübelt wurde.

Etwa zwei Wochen später erhielten 1000 bis 1200 Familien einen Brief folgenden Inhalts: „Ihre Wohnung ist zur Räumung bestimmt. Sie werden aufgefordert (oder hieß es ‚gebeten‘?), eine Liste Ihres gesamten Mobiliars und Ihrer beweglichen Habe der Wohnungsberatungsstel­le einzureichen.” Diese Riesenzahl von Kün­digungen auf einen Schub schien auch die Be­fürchtungen der Frau X zu übertreffen. Sie, der auch ihre Feinde Sauberkeit der Gesinnung und Hilfsbereitschaft zuerkannten, konnte nichts tun, um die tausend Familien mit ihren Ange­hörigen und allen Untermietern umzulogieren. Ungeduldig Drängenden wurde nur bedeutet, daß sie warten müßten. Man munkelte von Zelt­bauten in den Vororten von Berlin, von der Einrichtung eines Ghettos, und die Optimisten, die nie ausgestorben sind, wisperten etwas von einer leeren Drohung, um die Juden einzu­schüchtern. Das einzige, was feststand, war, daß die Wohnungsberatungssteile untätig blieb und den Empfängern eines solchen Briefes, wenn sie selber ein Domizil ausfindig gemacht hatten, die zum Umzug unerläßliche Genehmi­gung nicht erteilte und sie vertröstete. Wochen vergingen, voll der Unruhe, die ein Mensch hat, der nicht weiß, wo er morgen oder vielleicht schon heute abend sein müdes Haupt betten würde, und mit dem ganzen Nervenkribbeln, das jede Unsicherheit zeitigt. Aber schließlich gewöhnt man sich an alles, und Mitte Oktober flammte ein neues Gerücht auf. Durch Undich­tigkeit an höherer Stelle sei durchgedrungen, daß die Gestapo am 16. Oktober wieder eine Streife auf Juden unternehmen würde. Alle hat­ten den 30. Juli noch in lebhafter Erinnerung, an dem die Gestapo schon einmal eine abend­liche Exkursion inszeniert und Hunderte von Menschen in das Arbeitslager Wuhlheide ge­bracht hatte. Wer nicht pünktlich abends um 9 Uhr, zur vorgeschriebenen Zeit, in seiner Wohnung angetroffen worden war und gar noch auf der Straße „herum flaniert” hatte, wurde dorthin geschickt: 30 Tage in einem Arbeits­lager mit seinem Drill auf Zeit sind eine dra­stische Erziehungsmethode für unpünktliche Leute, und es wurden sogar alle anderen davon beeindruckt. Die zerbrochenen Glieder und die ausgedehnten Wundentzündungen, die die we­nigen, die von Wuhlheide lebend herauskamen und im Krankenhaus vegetierten, aufwiesen, waren für alle ein sehr wirksames Mittel der Erziehung zur Pünktlichkeit. Brav und folgsam waren am 16. Oktober 1940 alle Juden abends zu Hause, auch die wenigen, die sonst noch abendliche Eskapaden zu unternehmen wag­ten.

Am 17.10. morgens sprach es sich herum, daß die Gestapo wirklich gearbeitet hatte. Alle Wohnungen, für die der Räumungsbefehl ergan­gen war, waren geräumt worden. In dunkler Nacht– bescheiden, wie die Gestapo war, ver­legte sie ihre Arbeit gern in die Nacht, um nicht zu viel Publikum zu haben und um nicht in ihrem Eifer bewundert zu werden – von 9 bis 12 Uhr waren die Leute mit ihrem schnell und notdürftig zusammengerafften Gepäck aus ihren Wohnungen geholt worden, jung und alt, gesund und krank, auch wenn sie kaum trippeln konnten. Sie waren zur nächsten Polizeiwache geführt worden, um sich ordnungsgemäß abzu­melden, wie es sich in einem guten Staatswe­sen geziemt, um dann in der Synagoge in der Levetzowstraße gesammelt zu werden. Ehe man noch genaueres wußte, waren sie abgefahren. Später hörte man durch Kurzkarten, daß sie in Litzmannstadt–Lodz gelandet waren.

So wurde die Wohnungsnot behoben.

Das war der Anfang in Berlin. Vorher waren die Stettiner Juden abtransportiert worden, durch „eine Einzelaktion eines übereifrigen Gauleiters”, wie man sich tröstete. Und als die Juden aus Baden im Oktober 1940 insge­samt nach Gurs in Südfrankreich deportiert worden waren, schien es gar nicht so schlimm. Das Stück wurde unter Leitung der Gestapo in fast allen Städten Europas viele Male aufge­führt, in Warschau und Oslo, in Amsterdam, in Brüssel, in Paris, in Saloniki, und überall wa­ren die neuen Akteure erstaunt, daß sie mittun mußten.

Angst

Angst ist, was in Deinem Kämmerchen an den Wänden hängt, am Fußboden kriecht und von der Decke herunterrieselt, und wenn Du den Fuß über die Schwelle setzt, Dich an der Türe umfängt und in ein unentrinnbares Netz einkap­selt und lauernd hinter den Häusern lungert, um Dich anzufallen, sobald Du Dich auf die Straße wagst. Sie ist überall um Dich herum, in allen Aggregatzuständen, fest, flüssig, luft­förmig, sie preßt Dich von außen und sickert in Dich hinein und Du mußt sie tief innen in Dir festhalten, schweigend, um sie nicht noch auf die anderen zu übertragen. Sie dauert, in der Nacht und wischt den Schlaf von Deinen müden Lidern, und am Tag, an allen folgenden Tagen, in allen Wochen und allen Monaten, pausenlos, lückenlos. Sie hat einen Anfang und kein Ende, sie kumuliert sich und hat doch keine Gewöhnung. Ihre zermürbende Wir­kung steigert sich nicht nach algebraischen Additionen, sondern in geometrischen Poten­zen.

Könnt Ihr Euch vorstellen, was es heißt, vor jeder Post zittern, die dreimal am Tage kommt, in Erwartung einer Vorladung zur Gestapo oder des Schreibens vom Jüdischen Rat, der Dich laut seiner amtlichen Liste an dem oder dem Tage zur Evakuierung einlädt, Dich und Dei­nen Mann oder Deine Eltern oder Deinen Sohn, der Reihe nach jeden, dem Dein Herz gehört. Oder ahnt Ihr, was für ein Marterwerkzeug die Klingel sein kann, wenn man von morgens bis abends mit allen Fibern auf sie lauscht und ihre eingebildeten Schwingungen einen aus dem tiefsten Schlaf aufscheuchen, wenn die Hitlerjungens schon beim Morgengrauen daran zer­ren, um Dich auf das Erscheinen der Gestapo vorzubereiten und wenn es spät abends Sturm läutet und ein sadistischer Portier, der Deine Angstphasen kennt und frohlockend verfolgt, Dich um die Leiter bittet.

Angst war das Leben der „politisch nicht zu­verlässigen Elemente“ und der Juden überall da, wo Hitler seinen Fuß hinsetzte. Wer dieses Gehetztsein nicht mit allen überempfindlichen Rezeptoren gekostet hat, weiß nicht, was Angst ist. Angst ist der Vorraum zur Hölle.

Kinder beten um der Eltern Tod

Dem Andenken unserer guten Mutter.

Zu Zeiten, wo wir schon bei dem schüchternen Wetterleuchten des Hitlerregimes erschüttert zuckten und den heraufziehenden Vernichtungssturm noch nicht voraussahen, schien uns das Auseinandergerissenwerden von Eltern und Kindern, die in ferne Lande zogen, ungeheuer­lich. Viele junge Menschen blieben, nur weil sie diese Trennung, eine voraussichtlich end­gültige, nicht auf sich nehmen und die alten hilflosen Eltern nicht im Stich lassen wollten. Sie waren noch da, als die Menschenjagd be­gann, und die meisten haben ihre Treue mit dem Tode bezahlt, ohne helfen zu können. Das muß klar und deutlich gesagt werden für die, die gegangen waren und die aus Unkenntnis der Sachlage und falsch angebrachter Reue sich schlaflos mit Gewissensbissen auf ihrem Lager gewälzt haben und sich noch immer sinn­los mit Vorwürfen zermürben. Keiner konnte dem anderen helfen, auch nicht mit Einsatz seines Lebens. Die Kinder sahen zu, wie die Eltern abgeführt wurden, und die Eltern mußten es geschehen lassen, daß die Kinder, auf die sie angewiesen waren, von ihnen weggeholt wurden. Sie durften, wenn sie bei der plötzli­chen Abholung zufällig anwesend waren und wenn es den Gestapofunktionären gefiel, beim Packen helfen und ihnen noch einmal um den Hals fallen. Das war alles.

Ich habe meine Mutter sehr geliebt und bin ih­retwegen immer wieder nach Deutschland zu­rückgekommen. Als sie krank wurde, habe ich die letzte Chance zur Auswanderung vorbei­streichen lassen. Sie hatte einen Schlaganfall gehabt und lag gelähmt im Bett, nicht imstan­de, sich allein aufzusetzen oder sich auf die Seite zu drehen. Für jeden Bissen und jeden Schluck Wasser brauchte sie eine Hilfe. Und wenn die Schwester, die sie hingebend pflegte, abends den Dienst verließ und ich mit Sprech­stunde und Besuchen fertig war, trat ich an ih­re Stelle. Der Mutter in ihrem stillen Kämmer­chen konnte man den Abtransport der Juden verheimlichen, aber während ich an ihrem Bet­te saß und ihr von der Praxis erzählte und mit ihr alberte und schäkerte, lauschte ich ange­spannt auf jedes Geräusch an der Tür, auf je­den Schritt auf der Treppe und auf das Bremsen von Wagen vor dem Haus. Wann würden sie zu uns kommen und uns holen, uns beide zusam­men oder getrennt, mich allein und die kranke Mutter hilflos liegenlassen oder aber sie weg­nehmen und als Häftling ins Krankenhaus brin­gen, wo ich sie nie mehr besuchen durfte? Ich kannte den Fall des berühmten Bakteriologen Dr. H., der mit einer eitrigen Kniegelenkent­zündung ans Bett gefesselt war und von seiner Tochter aufopfernd betreut wurde. Eines Abends holte die Gestapo sie beide ab, zuerst die Tochter auf Nimmerwiedersehn ins Sammel­lager und zum nächsten Transport, und dann den Vater. Auf einem kleinen Tempowagen, einer offenen stuckernden Autokarre für Lasten wurde er um Mitternacht bei strömendem Regen ins Krankenhaus gefahren. Dort wurde er wie alle, die zur Evakuierung bestimmt waren, als Gefangener behandelt und wie ein Schwerver­brecher in sein Zimmer eingesperrt. Nur Arzte und Schwestern hatten Zugang, kein anderer durfte in all den Monaten bis zu seinem Tode zu ihm. Kein Brief, kein schriftlicher Freun­desgruß war gestattet.

Sollte ich meiner Mutter ein gleiches Schicksal zuteil werden lassen? Ich hatte die Mittel in der Hand, einen Schluck, eine Spritze, um sie davor zu bewahren. Manche haben ihren Eltern den erlösenden Schlaftrunk kredenzt. Erst beruhigte mich der Gedanke. Dann, als die Ab­holungen sich überstürzten und der Zeitpunkt immer näher rückte, wurde ich schwankend. Und zuletzt machte mich die bloße Vorstellung halb wahnsinnig. Ich, die ihr ganzes Leben lang um jedes einzelne Menschenleben ge­kämpft hatte, sollte meine Mutter, die mir das Liebste auf der Welt war, töten. Durfte ein Mensch, der auf eine höhere Macht vertraut, überhaupt vorsätzlich ein Leben beenden, ein anderes oder sein eigenes? Ich konnte es nicht.

Aber ich habe auf den Knien gelegen und Gott um den Tod meiner Mutter angefleht, bevor die Häscher mich von ihr wegreißen oder sie selbst mit Mörderhänden abführen würden; nicht ich allein, sondern viele Söhne und Töchter. Sie alle kannten nur ein Gebet, den Tod der Eltern. Kein menschliches Gericht kann je von den Schuldigen Rechenschaft fordern für die see­lischen Foltern, die Kinder ihrer Eltern wegen erduldet haben, und die die heiligste Liebe zum Todeswunsch wandelten.

Er oder ich

Aus langjährigen Patienten von mir hatten sich treue Freunde entwickelt, und wir fretteten uns gemeinsam durch die Jahre der Not und Angst. Im ungeeignetsten Moment, während sich die Transporte am laufenden Band einander jagten, leistete sich der Mann eine Magenblutung, eine jener schweren Blutungen, die in mehreren Schüben auftreten, und wenn überhaupt, erst nach Tagen zum Stehen kommen. Eine solche Magenblutung ist immer höchst bedrohlich, in jener kritischen Zeit, in der Schonung ein lee­res Wort blieb, war sie katastrophal. Trotzdem ging es dem Mann nach drei Wochen besser, er war aber immer noch bettlägerig. So fanden ihn die Funktionäre der Gestapo, die beauftragt waren, ihn abzuholen. Er war nicht transportfähig und nicht verwendungsfähig für ein Ar­beitslager, von dem die Rede war. Auf mein Drängen holte man den jüdischen Arzt, der über die Eignung zur Abwanderung zu befinden hat­te, einen jungen, sich sehr wichtig vorkommen­den Doktor, der nach außen vor Verantwortung strotzte. Er untersuchte gründlich, hörte sich Herz und Lungen ab, fühlte den Bauch, ging ein paar Mal mit kräftigen Schritten im Zimmer auf und ab, druckste hin und her, rückte end­lich mit der Sprache heraus und hieß den Mann mitgehen. Ich traute meinen Ohren nicht, nahm den Kollegen beiseite und fragte ihn, ob das sein Ernst sei. Er schaute mich bedrückt an, gar nicht mehr großtuerisch, und nach einer Weile stieß er heraus: „Er oder ich. Einer muß dran glauben.” Er hatte schon viel zu viele zurückgestellt und war gemaßregelt worden. Arzt sein war eine Farce, sobald man zum Handlanger der Gestapo wurde. Der Kollege ging zur Belohnung für seine Dienste erst spä­ter nach dem Osten, um schließlich das Schick­sal seiner Patienten zu teilen.

Die fremde Stadt

Am 6. Mai steckte man mich in das Sammella­ger in der großen Hamburger Straße. Ich hatte zwanzig Jahre in Berlin gelebt und von der gro­ßen Hamburger Straße, zwischen Rosenthaler- und Alexanderplatz, nichts gewußt, geschwei­ge von dem Haus, in dem wir kaserniert waren. Aber das war meine Schuld, denn es war kein gewöhnliches Haus. Und wenn es in einer an­deren Stadt gewesen wäre, wo man jedem alter­tümlichen Sarkophag, jedem ehrwürdigen Häuserwrack und dem bunten Glasmosaik eines Kir­chenfensters gleich am ersten Tag nachrennt, wäre es mir nicht entgangen. Es stammte aus dem 18. Jahrhundert und hinter dem Hause war der älteste jüdische Friedhof von Berlin, in dem Moses Mendelssohn begraben liegt, ein kleiner Friedhof mit sehr alten abbröckelnden und ganz verfallenen Grabsteinen, wo der Efeu eigenwil­lig von den Grabstätten herunterkriecht und die ungepflegten Rasenflächen mit ihren dicken Grasbüscheln üppig überrankt. Das Haus sel­ber war ein altmodisches, verwahrlostes Ge­bäude, das ehemals ein Altersheim beherbergt hatte. Dort waren wohl an die 1000 bis 1200 Menschen eingekastelt. Es schien uns sehr voll, mit 25 bis 35 Personen in einem Zimmer von durchschnittlicher Größe. Später habe ich oft mit Sehnsucht an diese Zimmer zurückge­dacht, die richtig ausgebaut waren und Fenster hatten, wo es nicht von oben hereinregnete und das Wasser nicht in großen Pfützen auf dem schlammigen Boden stand, wo es nur Wanzen und keine Läuse gab, und für hundert Menschen noch einen Wasserhahn, und wo jeder einzelne noch seinen Platz hatte und sich recken und dehnen konnte, so viel er wollte. Damals kam es uns jedoch, wie gesagt, entsetzlich eng vor, mit so vielen Menschen in einem Haus und mit all dem Gepäck. Denn jeder hatte entsprechend der Weisung der Gestapo-Funktionäre bei der Abholung alles, was er brauchte, mitgenommen. Und die Einschränkung, daß jeder sein Gepäck allein zu tragen hätte, machte schwerstes Kopfzerbrechen. Der Mensch spielt nicht gern Diogenes und trennt sich im allgemeinen nicht aus freien Stücken von seinem Besitz. Erst wenn man gar nichts mehr hat, sieht man, wie überflüssig das meiste ist und daß es nur be­lastet. Und dann erst lernt man, was wirklich lebenswichtig ist und wie unentbehrlich man­che Kleinigkeiten, eine Zahnbürste, eine Näh­nadel und ein Löffel sind. Jeder Rucksack wur­de mindestens 10 mal umgepackt, jede Tasche immer wieder auf Entbehrliches gesichtet und aufs neue zurechtgestopft; und jedes einzelne Stück wurde im Geiste noch einmal auf seine Brauchbarkeit abgewogen und mit einem letzten schmerzlichen Erinnerungsblick gestreift, be­vor es endgültig ausgemerzt wurde. Wieviel Aufhebens hat man um sein bischen Habe gemacht und nachher – doch ich will nicht vor­greifen.

Es war ein aufgeregtes Leben bei diesen vie­len Menschen, die zum ersten Mal in so enger Gemeinschaft lebten, und doch ein gutes Gefühl des Zusammenhaltens. Alles wurde geteilt, vom eingeschmuggelten Marmeladenglas bis zur letzten Büchse Ölsardinen, von der jede Familie ein Fischlein erhielt. Selbst so komp­lizierte Probleme wie Öffnen und Schließen der Fenster lösten sich bei 30 verschiedenen Köpfen friedlich und in Wohlgefallen. Nachts strömte durch das weit auseinanderklaffende Fenster frische Luft in das überfüllte Zimmer und der Mond hielt mit seinem runden freund­lichen Gesicht Wacht über die Schlafenden.

Vielleicht wollte er uns trösten und liebkosen wie die Kastanienbäume, Sie standen im Hof des alten Gebäudes und ragten mit ihren Wip­feln ganz dicht an die rückwärtigen Fenster im zweiten Stock. Wenn man dort auf der Fen­sterbank saß, konnte man in das dichte Laub­werk greifen und die großen fünffach gelapp­ten Blätter wogten leise hin und her, und stri­chen sanft und beruhigend über den Arm, wie eine Mutter, die alles Leid und alle Verzweif­lung von einem wegrücken will. Und die Ker­zen in weiß und rosa waren ganz nahe und groß und strahlten üppig wie nie zuvor. Jeder einzelne Blütenkelch neigte sich freundlich und präsentierte einen gelben Fleck am Grun­de und streckte die Staubfäden, die vorwitzig herausdrangen, fröhlich den Menschen entge­gen. Ein dichter grüner Blätterwald, in dem die Kerzen leuchtend flammten, und ein tief­blauer Maihimmel, auch das gehörte zu unserem Gefängnis. Nichts davon erinnerte an Berlin, an die lebendurchpulste Stadt.

Und doch sollte ich sie noch einmal sehen und mitten durch die Stadt kommen. Eines Nachts wurde ich von irrsinnigen Zahnschmer­zen gepeinigt, und am Morgen schickte man mich zur zahnärztlichen Behandlung ins Kran­kenhaus, nicht mich allein, sondern einen gan­zen Schub von Menschen mit Schmerzen und Gebrechen aller Art, Die einen mußten zum Verbinden, die anderen sollten dem Augenarzt oder dem Ohrenarzt vorgeführt werden, manche zur Röntgenuntersuchung der Lungen und zur Tuberkulosekontrolle; wer ein Wehwehchen hatte, wurde noch einmal überholt und schnell­stens restauriert, um heil am Endziel anzu­kommen. Wir fuhren eingeschlossen, auf einem Lastauto durch die Stadt, vorne am Wagen SS und hinten SS –Bewachung. Der offene Gefan­genenwagen nahm, ich weiß nicht warum, nicht den direkten Weg zum Krankenhaus, sondern fuhr auf einem weiten Umweg durch die Lin­den, vorbei am Brandenburger Tor, durch den Tiergarten und durch Moabit mitten durch die Stadt, in der ich zwei Jahrzehnte gelebt und von der ich mich bei jedem Weggang mit Ab­schiedsweh losgerissen hatte. Es war das gleiche Städtebild, noch standen die Kunst­werke, die Siegessäule, und noch dehnten sich die Rasenflächen des Tiergartens und die Häuser reihten sich noch unzerbombt. Und den­noch war es eine andere Stadt. Ich kannte Enttäuschungen von Stätten, an denen ich hing und die ihr altvertrautes Antlitz gewandelt hatten und nur noch traumhafte Erinnerung waren und nie mehr Wirklichkeit wurden. Aber dies war etwas anderes, viel Ärgeres. Die Stadt war die gleiche, aber sie gehörte uns nicht mehr. Vom Wagen gab es kein Entrinnen, kein Aussteigen. Die Straßen existierten nicht mehr für die Gefangenen der SS. Der Park, in dem man ehemals spazieren gegangen war, war nur noch Kulisse, die sich schnell ver­schob. Das Haus, darin man einst gewohnt hatte, stand feindselig da und ließ einen un­gerührt passieren. Und die Menschen waren andere, nicht mehr Freunde, sondern Feinde. Gehässig starrten sie auf den Wagen mit den Gefangenen. Die Stadt, die ich einst geliebt hatte, war nicht mehr da. Es war eine fremde Stadt, schon vor Auschwitz.

Zweiter Teil

Der grelle Pfiff

Wir sitzen im Güterwagen. Am 17. Mai 1943 mittags, an einem Montag, waren wir auf Lastautos, wieder unter starker SS–Bewachung, vom Sammellager zum Bahnhof expediert wor­den. Nicht nach einem der Hauptbahnhöfe, sondern nach dem Bahnhof Putlitzstraße, hoch oben im Norden von Berlin in der Nähe des Virchow –Krankenhauses, wo geräumige La­gerschuppen den Kanal weitläufig umsäumten und verödete Fabriken das Terrain großzügig beanspruchten, wo nur wenige Menschen wohn­ten und die Zufahrtsstraße kaum bevölkert war, denn die Gestapo blieb, wie bekannt, mit ihrer Arbeit gern im Hintergrund. Dort waren wir, wohl an die tausend Menschen, in Güter­wagen verfrachtet worden, genauso wie die „jüdische Greuelpropaganda” verbreitet hatte. (Kurz vorher wurde zum einzigen Mal ein jüdischer Transport nach Theresienstadt in bel­gischen II. Klassewagen weggeschickt. Die Wagen wurden offiziell fotografiert und die Aufnahme wurde in der Filmwochenschau der UFA vorgeführt mit dem Titel: „So fahren die Juden”. Dann folgte ein zweites Bild, der wohlbekannte, überfüllte Güterwagen mit der Beschriftung: „Und so behaupten sie zu fah­ren”.)

Gegen Abend waren wir losgefahren und schon eine Nacht und einen Tag unterwegs. Wohin, wußten wir nicht, nur nach unserer eigenen Orientierung, daß es gen Osten ging. Wenn wir uns hochreckten oder auf das Gepäck kletter­ten, konnten wir durch die Luken gucken und die Gegend genau verfolgen. Wir hatten den Spreewald passiert, die Lausitz, Reichenbach und alle Stationen, an denen vorbei wir frü­her vergnügt ins Riesengebirge zum Winter­sport gedampft waren, und mittags Breslau in weitem Bogen umkreist.

Der Wagen ist übervoll mit Menschen, wenn­gleich nicht so vollgestopft wie die anderen, denn es ist ein Arztwagen, Die Luft in dem festverschlossenen Kasten, der seit der Ab­fahrt nicht geöffnet wurde, ist stickig und pe­stilenzartig, die Ventilation durch die dürfti­gen Luftlöcher absolut unzureichend und nicht spürbar. Die Eimer mit den Fäkalien sind am Überlaufen und rinnen an den Seiten, und bei jedem Ruck des Zuges schwappen sie über und bespritzen die Umsitzenden, die in der Enge nicht wegrutschen können. Ringsherum ist al­les mit Kinderwagen verbarrikadiert, denn es sind eine ganze Menge Säuglinge dabei. Sie bläken in den schmutzigen Windeln und las­sen sich nicht beruhigen, denn es ist nichts zum Reinigen da und nichts, was man ihnen zum Trinken anbieten könnte. Die mitgenom­mene Milch ist in den Flaschen gesäuert, und der kleine Vorrat an Wasser längst ausgegan­gen. Auch die Kranken lechzen vergebens nach einem Tropfen gegen den Durst. Ein paar Schwerkranke hatte man noch in letzter Minu­te vor der Abfahrt auf Bahren hereingescho­ben. Die eine hatte Veronal genommen, weil ihr Kind mit Scharlach im Krankenhaus lag und sie es nicht allein zurücklassen wollte. Man hatte ihr den Magen gespült, und sie er­bricht und ist noch immer verdöst und ruft hartnäckig nach ihrem Kinde. Ein Mann mit einer schmierigen Wunde am Bein, ein Straf­gefangener, stöhnt vor Schmerzen und wirft sich unruhig hin und her. Und eine ältliche Frau mit Asthma keucht und japst nach Luft und ist blaurot im Gesicht angelaufen. Sie kommt direkt aus dem Krankenhaus, wo sie wochenlang stationiert war, weil sie ihren Mann nicht allein fahren lassen will. Noch mehr Kinder sind da, ein zweijähriges Mädelchen mit seinem Vater, einem gesunden kräf­tigen Burschen. Die Mutter wurde schon vor Monaten weggeholt und das Kind ist seine ganze Freude, Er wird sich nicht von ihm tren­nen. Am Tag will er gern schwer arbeiten und das Kind vielleicht in einem Hort unterbrin­gen, und abends will er es selbst versorgen. Mit strahlenden blauen Augen guckt es in die Welt, trippelt von einem zum andern und bet­telt uni ein Stück Zucker, rennt dann noch lut­schend zum Vater und setzt sich ihm auf den Schoß. Neben mir stehen an der Luke zwei Mädels von zehn und zwölf Jahren, glückselig. Das ist die erste Reise, die sie in ihrem Le­ben machen. Sie haben die ganze Nacht Aus­schau gehalten, die mitwandernden Sternbilder beobachtet, die Sichel des abnehmenden Mondes bewundert, wie sie hinter den Berges­höhen hervorschlüpfte, am Tag die Dörfer ge­zählt und in der Ferne die Türme von Breslau begrüßt. Sie staunen über jeden Fluß und je­den Hügel und rühren sich nicht von ihrem Ausguck weg.

Es ist schon wieder Abend und wir sind schon weit von Breslau entfernt, oder es scheint uns nur so. Denn der Zug hat oft ge­halten, zwanzig, dreißig Mal, ein peinigendes quälendes Stillestehn. Man hatte etwas vom Vergasen der Züge gemunkelt. Vielleicht ist es kein Gerücht, und der Zug halt, damit man das Gas in die Wagen strömen läßt. Wenn wir nur endlich am Ziele wären, wir können es nicht erwarten. Aber noch ist es nicht so weit. Der Zug schleppt sich weiter in die Nacht hinein, langsam, unentschlossen, von Zeit zu Zeit bremsend und verpustend, als ob er seinen Weg nicht finden könnte und lieberumkeh­ren möchte. Was wir im Dunkel erspähen, sind Wiesen und Felder und verstreute Ortschaften, manchmal so nahe, daß das dumpfe Muhen ei­ner verschlafenen Kuh bis zu uns herüber­dringt. Die Stunden läppern sich hin. Immer wieder knipsen wir die Taschenlampen an. Um Mitternacht tauchen Hochöfen auf und riesige Krane und hell erleuchtete Stahlkästen und ringsherum Fesselballons, ein ungeheurer Be­trieb, der auch nachts nicht ruht. Das könnte unser neuer Arbeitsplatz sein. Aber der Zug, der sich endlich auf ein normales Tempo be­sinnt, hastet daran vorbei, immer weiter, noch eine halbe Stunde ohne Unterbrechung. Dann hält er an.

Ein greller Pfiff der Lokomotive schrillt durch die Nacht. Wir starren durch die Luke. Alles ist dunkel, nur die Sterne glitzern. Noch ein­mal gellt der Pfiff der Lokomotive, schnei­dend, durchdringend, als ob er den schlafen­den Erdball aufrütteln wollte. Und es wird Licht. Scheinwerfer springen an, mächtige Reflektoren flammen auf, der Sternhimmel ver­sinkt und vor unseren Augen liegt ein weites Feld, magisch beleuchtet. Wir versuchen die Helle, die uns blendet, zu durchdringen: Mas­sen von uniformierten Männern eilen geschäf­tig hin und her, Kommandos ertönen. Hunde bellen. Das Blut gerinnt uns in den Adern, wir erkennen auf den Uniformen das SS–Abzeichen. „In den Klauen der SS”, so sieht un­sere neue Arbeitsstätte aus. Die Wagentüren werden entrammelt. „Schnell aussteigen!” Eilig raffen wir das vielzuviele Gepäck zu­sammen (wie werden wir es tragen können?) und klettern aus den Wagen. „Bagage neben die Schienen legen!” lautet der zweite Be­fehl, und erleichtert, daß wir uns nicht sel­ber damit abschleppen müssen, werfen wir Rucksack und Koffer neben den Zug. Sofort werden Männer und Frauen auseinandergetrie­ben und voneinander getrennt mit Schlägen und Püffen in Reihen gedrängt. Dann wird sehr eingehend und sorgsam nach Kranken ge­fahndet. Man ist dabei keineswegs rigoros, schwächliche und kranke Menschen, Leute über 55 und zum Teil schon über 50, die Kin­der und sämtliche Frauen in Begleitung von Kindern, sie alle brauchen nicht länger in der Reihe zu stehen, sondern kommen auf Wagen, die in großer Anzahl für sie bereit sind. Sogar zwanzig junge Menschen, prominente Männer und Frauen, die sich durch kulturelle und so­ziale Arbeit hervorgetan hatten, werden ein­zeln mit Namen aufgerufen und dürfen bevor­rechtigt fahren. Nur ein kleiner Rest, kaum ein Drittel, bleibt übrig. Wir werden von bar­sehen, grob zugreifenden Männern mit harten metallenen Stimmen schnell in Fünferreihen aufgestellt und marschieren los.

Fast allnächtlich habe ich den Pfiff der Loko­motive gehört, diesen grellen scharfen Pfiff. Er ist in meine fernsten Träume gedrungen und hat mich aus dem tiefsten Schlaf geholt. Und immer wußte ich, daß in dem gleißenden Licht der Arena neue Menschen antraten.

Ohne Alles

Vom Bahnhof waren wir im Eilschritt etwa 3 km gegangen und langten gegen 3 Uhr mor­gens vor einem großen Tor an, das mit aufrei­zenden Bogenlampen hell flankiert war und – der zweite Schock nach dem Empfang durch die SS höchstpersönlich – in einem mit Hoch­spannung geladenen Drahtzaun eingelassen war. Überall ragten die dichtgezogenen Stacheldrähte bis über Zweimannsgröße in die Höhe und in kurzen Abständen warnten Ta­feln vor dem Starkstrom im Drahtnetz, Rechts am Tor waren zwei Karren in einen Graben geklemmt und im hellen Lampenlicht entzif­ferten wir auf der dunkelgrauen Ölfarbe drei schwarze Lettern: FKL, und an einer schma­len Planke stand klar und deutlich, ebenfalls schwarz auf grau: Konzentrationslager Ausch­witz H. Nun war kein Zweifel mehr; wir wußten, wo wir waren und die Illusion, daß wir für ein Arbeitslager bestimmt seien, wie die Gestapo uns versprochen hatte, zerrann end­gültig. (Später erkundeten wir, daß dieser Teil vom Konzentrationslager Ausch­witz Birkenau hieß und ein Hauptlager, das Frauenkonzen­trationslager FKL, mit rund 30000 Häftlingen, und fünf kleinere Lager mit je 10000 bis 20000 Häftlingen, umfaßte.)

Aus einem Blockhaus links neben dem Ein­gang wirbelten SS–Frauen in grauen Kostü­men heraus, herrschten uns an und befahlen, die Handtaschen abzuliefern, die sie gierig und hastig einsammelten, wie uns dünkte, das Letzte, das wir noch besaßen. Die paar Über­bleibsel an beweglicher Habe, die man vor­sorglich zusammengeklaubt und mühselig bis Auschwitz geschleift und beim Zug deponiert hatte, waren, wie wir dunkel begriffen, ver­loren. Jetzt waren die Handtaschen an der Reihe. Brille und Zahnbürste durften wir be­halten und beim Herausnehmen verstauten wir noch schnell und heimlich Dokumente, Briefe und Fotos in die Manteltaschen. Dahin gingen der Nähbeutel, das Waschzeug. Dahin ging auch die Bibel und die kleine Originalausga­be des Robinson Crusoe, des treuen Beglei­ters vieler Jahre. Ihm verdanke ich etwas von der Kunst, wie man durch Zähigkeit aus dem •Nichts eine Existenz schafft und, vom Schick­sal verworfen, doch noch eine positive Bilanz seines Lebens aufstellt und dankbar das Gute errechnet, das Gott uns bei allem gewährt.

Vor dem Tor wurden wir gezählt: 122 Frauen von 260 angekommenen. Das Gitter wurde ge­öffnet, gerade so lange, bis wir hindurchmar­schierten, und dann mit eisernen Stangen fest verschlossen. Wir waren im FKL, nach der Chiffrierung an den Holzbaracken und den Wa­gen zu schließen.

Der erste Gang führte ins Badehaus, die Sau­na. Dort begann die eigentliche Prozedur: Ausziehen, Haareschneiden, nein, Kahlrasie­ren bis zum letzten Stummel, Duschen, Tätowieren. Hier nahm man uns wirklich alles bis zum Letzten. Nichts blieb, nichts von unse­ren Kleidern oder Wäschestücken, keine Seife, kein Handtuch, keine Nadel und kein Eßbesteck, nicht einmal ein Löffel; kein Schrift­stück, das uns rekognoszieren konnte, kein Bild, kein Schriftzug derer, die wir liebten. Die Vergangenheit war abgeschlossen, ausgemerzt. Nichts erinnerte mehr daran als der Name. Auch der mußte schwinden mit allem, was damit verbunden war. Wir wurden ohne Un­terwäsche, nur mit einem dünnen Hemdchen versehen, in Häftlingskleider gesteckt, in bräunlich–gelbe Drillichanzüge im Gegensatz zu den Polen, die blaugrau gestreifte Kittel trugen, und kriegten Holzschuhe mit Fetzen von jüdischen Gebettüchern (Talles) als Fuß­lappen. Dann bekamen wir Nummern, einge­brannt in den linken Unterarm und angenäht an die Kleider, mit einem dreieckigen Winkel, dessen Farbe den Häftling charakterisierte. Wir waren ausgeschieden aus der Welt dort draußen, entwurzelt aus unserem Land, losge­rissen von unserer Familie, eine bloße Num­mer, einzig von Bedeutung für die Schreibstu­be. Nichts blieb übrig als das nackte Leben – für die meisten auch das nicht mehr lange – und der Gedanke in unserer Brust. Den konnte uns auch die SS nicht rauben, und das ist das einzige, was wir gerettet haben.

Ins Zigeunerlager

Aus unserem Transport wurden gleich nach der Ankunft 3 Ärztinnen ausgewählt, die fürs Zigeunerlager in Birkenau gebraucht wurden. Das enthob uns vorläufig nicht von der Arbeit des Steinetragens. Unser schüchterner Ein­wand, daß wir als Arzte notiert seien, trug uns nur ein paar schallende Ohrfeigen ein. Offiziell wurden wir erst 2 Tage später, am 21. Mai eingesetzt. Wir wurden in der Kleider­kammer neu eingekleidet mit Wäsche, Schuhen, einem netten Kleid und einem blendend wei­ßen Arbeitskittel, Zu allem Überfluß erhielt jede von uns noch eine zweite Garnitur zum Wechseln. Dann wurden wir zur „Ambulanz” gebracht, um dem Lager­arzt vorgestellt zu werden, zu einer kleinen Holzbaracke rechts am Eingang vom FKL, wohin die Patienten zur ambulanten Behandlung kamen. Als wir dort erschienen, war der morgendliche Betrieb schon beendet, und wir wurden in ein kleines Kämmerchen geführt, um auf den Lagerarzt zu warten. Das ganze Mobiliar bestand aus ei­nem Holztisch und einer Bank, die an der Wand entlangstrich, aber der Raum war hell und licht und warm,mit einem breiten Fenster, und wir genossen nach den Aufregungen und der Erschöpfung der vergangenen Tage die behagliche Ruhe/ Die Helferinnen waren freundlich – zum ersten Mal, daß uns im Kon­zentrationslager jemand höflich begegnete – unterhielten sich mit uns und fragten uns aus mit der Neugier, mit der die Alteingesessenen überall den Neuling empfangen. Eine brachte uns warme Suppe, erkundigte sich nach unse­rer Herkunft, nach der Fahrt und vor allem nach den Zuständen draußen, nach den Bom­bardements, nach der Ernährungslage und der Stimmung in Deutschland und den besetzten Gebieten, und sie ließ sich nur zu gerne von unserem Optimismus, daß es nicht mehr lange dauern könne, anstecken. Im Gespräch erkun­digten auch wir uns nach den Verhältnissen im Lager, nach dem und jenem, nach der Tä­tigkeit der Ärzte, nach dem Essen, nach dem Lagerarzt, und schließlich fragten wir, was der Aufruf der zwanzig gleich nach der An­kunft am Zug bedeutet hatte und zu welcher Arbeit man sie verwenden würde. Denn die Schwester der einen von uns, ein junger blü­hender Mensch von 30 Jahren, war mit aufgerufen worden. „Die sind bevorzugt ins Gas gegangen.” Wir saßen zu dreien auf der Bank. Die Helferin stand vor uns und sagte es ruhig, gleichmütig, so wie sie vor kurzem von ihrer Tätigkeit in der Poliklinik und vom Austei­len der Suppe gesprochen hatte. Wir erfuhren, daß die Menschen, die auf Wagen verfrachtet werden, direkt ins Krematorium kommen und dort vergast und verbrannt werden. Dann er­zählte sie weiter, wie gut die Arbeit in der Ambulanz sich anlasse, der „arischen” Am­bulanz, in der Juden nur vereinzelt und in Ausnahmefällen zugelassen wurden, wie tüch­tig die Frauenärztin sei, daß man keine Seife zum Waschen der weißen Kittel auftreiben könne und immer weiter plätscherte das Gespräch auf uns hernieder. Aber der Raum war plötz­lich eiseskalt geworden, wir fröstelten durch und durch, und unsere Hände waren kalt und feucht von Schweiß, Ich mußte mich anstren­gen, daß meine Zähne nicht hörbar aufeinan­derschlugen. Die Kollegin neben mir zitterte am ganzen Körper, während sie sich schein­bar ruhig über die Arbeit in der Ambulanz un­terhielt.

Nach ein paar Stunden erschien der Lagerarzt, Er empfing uns kollegial, fast entgegenkom­mend und war, wie uns dünkte, ein sehr netter Mann. In knappen Worten instruierte er uns über die Krankheitsfälle, die im Zigeunerla­ger grassierten, umriß unsere tägliche Tätig­keit und sagte uns großzügig das notwendige Instrumentarium und die einschlägige Fachli­teratur zu. Abgesehen von einer Fleckfieber­epidemie im Zigeunerlager klang alles sehr verheißungsvoll. Er entließ uns mit guten Wei­sungen und wir machten uns auf den Weg ins Zigeunerlager. Aber wir kamen nicht weiter als bis zum Tor des FKL, durch das wir vor zwei Tagen gekommen waren; denn wir durf­ten das Lager nicht allein verlassen und mußten auf SS–Begleitung warten. Neben dem Tor, in dem Lager, stand eine Frau mit einem Schild auf der Brust: Ich habe Brot gestohlen und muß drei Tage Strafe stehen. Sie stand noch, ebenso unbeweglich, als wir nach einer guten Stunde von einer SS – Aufseherin mit 2 großen bissigen Hunden abgeholt wurden. Schnellen Schrittes ging es durch das Tor, dann um das Lager herum, wohl an die 20 Mi­nuten immer entlang am hohen Stacheldraht, der überall mit Posten bewacht und mehrfach von großen Eingangstoren ähnlich denen vom FKL durchbrochen war, zum Zigeunerlager. Dort war am Eingang wie an jedem der Tore ein Postenhaus. Unsere Nummern wurden ein­getragen, das Tor ward geöffnet, wieder nur so lange, bis wir hindurchgeschritten waren, und sofort wieder fest verschlossen. Wir waren im Zigeunerlager.

Noch immer von der Aufseherin und den Hun­den bewacht, gingen wir die Lagerstraße ent­lang, eine lehmige, holperige Straße mit vie­len tiefen Löchern, in denen fauliges Wasser mit einem graugrünlich trüben Schimmelüber­zug stand. Sie führte mitten durch das Lager, beiderseits umsäumt von den eng sich anein­anderreihenden Blocks, und war, als wir abends nach dem Appell entlangtrotteten, voll von Menschen, Männern, Frauen und vielen Kindern, die in bunten Gewändern und farbi­gen Tüchern hin- und herspazierten, lachten, schwatzten, sich laut und aufgeregt unterhiel­ten, beim Anblick der Aufseherinnen sofort stehenblieben und verstummten, uns neugie­rig beguckten und dann wieder weiterflanierten. Wenn nicht die vielen dunkelhäutigen Menschen und die schreienden Farben der wild und regellos zusammengewürfelten Ge­wänder dem Ganzen einen so exotischen An­strich gegeben hätten, hätte man glauben kön­nen, am Vorabend einer Kirmes auf einer Dorf­straße zu sein. Die Aufseherin trieb uns schnell weiter, zwischen die Menschen hin­durch, beinahe bis zum Ende der Lagerstra­ße zum Block 30, dem vorletzten der 16 Blocks auf jeder Seite. Dort lieferte sie uns ab. Lagerälteste und Blockälteste, beide pro­minente Persönlichkeiten im Lager, nahmen uns in Empfang. Die Lagerälteste begrüßte uns liebenswürdig und hieß uns herzlich will­kommen und war zu uns Neulingen augenblick­lich hilfsbereit. Sie bedauerte, daß wir kei­nen Schrank, keine Schublade, nicht einmal ein Holzbrettchen zur Verfügung hätten, um unsere Sachen unterzubringen. Mit sichtlichem Wohlwollen erbot sie sich, unsere mitgebrach­te Equipierung, alles, was wir nicht am Lei­be trugen, in Verwahrung zu nehmen. Sie tat es sofort und sehr nachhaltig.

Die Blockälteste, von Beruf Seiltänzerin, war eine schlanke Zigeunerin mit gleichmäßig oval–geschnittenem Gesicht, gebräunter Haut und tiefschwarzem seidigem Haar. Mit dem weißen Turban, der vorne diademartig zum Knoten geknüpft war, sah sie aus wie eine indische Schlangentänzerin aus dem Film. Sie empfing uns lau und uninteressiert und hatte nicht viel Zeit für uns. Ihr Gemach, fremdländisch wie ihre Erscheinung, mit schmutzig–bunten Lappen drapiert und einem breiten Lager, das abwechselnd als Ruhebett und Magazinertisch für das Brot des Blocks diente – auch später während ihrer Typhus­erkrankung – war voll von männlichem Publi­kum. Sie teilte uns widerstrebend unsere Brot­rationen zu, die noch im anderen Lager fällig waren. (Das Brot wurde dorthin geliefert, wo der Häftling beim Appell gezählt worden war, bei Verlegung also in das frühere Lager, Das bedeutete für den Häftling, der verlegt wurde, den Aus fall einer oder zweier Tagesrationen.) Dann wies sie uns unsere „Betten” an, zwei Strohsäcke für drei Menschen unten in einer der dreistöckigen Patientenkojen und gab uns dazu zwei klebrige, mit Spucke und Kot ver­dreckte Decken. Das Lager war nicht sehr einladend, nicht minder die Illustrationen der Nachbarn, daß dort vor zwei Stunden Fleck­fieberpatienten verstorben waren, rechtzeitig genug, um uns Platz zu machen. „Desinfek­tion?” „Nein, das wäre nicht üblich, Fleck­fieber kriegte man doch.” Lore, eine reichs­deutsche Pflegerin, die unsere Bestürzung sah, drückte uns zum Trost Feigen in die Hand, aus dem Nachlaß griechischer Juden, die eben angekommen waren. Dann bot sie uns netterweise ihr Lager an: Einer könne mit ihr zusammenschlafen, die beiden ande­ren nebenan. Sie hatte ein weißes Laken und ein molliges, sauber überzogenes Oberbett, und wir nahmen, trotz des Ekels vor dem Zu­sammenschlafen, dankbar an. Sie hatte außer­dem, wie wir später im Bett feststellten, ei­nen hochroten Kopf, 40,6 Fieber und Läuse. Nach drei Tagen wurde sie auf die Fleckfie­berabteilung verlegt. Aber das gehörte, wie gesagt, zum guten Ton in Birkenau.

Mulo, Mulo

Am nächsten Morgen begann unsere Tätigkeit im Krankenblock, früh um 4 Uhr, Der Kranken­block war nicht so pompös wie sein Name, sondern genau wie die anderen Baracken ein früherer Pferdestall, an dem nichts umgemo­delt war, Er war ohne Fenster, nur durch schmale Glasstreifen unter dem Dachansatz notdürftig erhellt. Durch die breiten Spalten m den Holzwänden blies der Wind mit voller Puste, Kälte und Hitze drangen ungehindert ein, und durch die Löcher und Ritzen in dem schludrig geteerten Dach plätscherte der Re­gen in Strömen und durchweichte den lehmi­gen Boden und“ die Liegestätten der Patien­ten, Die beiden Längsseiten des Blocks wa­ren bis zum letzten Winkel mit „Betten” an­gefüllt, dreistöckigen Holzkojen mit Bretterplanken, die nicht paßten und allerwärts durchrutschten und auf denen zerschlissene, armselig gefüllte Strohsäcke und dünne zer­lumpte Decken das Lager für die Kranken ab­gaben. Das übrige Inventar des Blocks be­stand aus zwei Holztischen und dem Ofen, einem breiten Backsteingesims mit zwei gro­ßen Feuerlöchern vorn und hinten, das der Länge nach durch den Block lief. Auf dem Ofen saßen Arzte und Schreiberinnen, wenn sie an den Tischen arbeiteten und fein säu­berlich Krankenblätter und Fieberkurven fa­brizierten. Auf ihm hockten die Patienten, die noch aus den Betten kriechen konnten, mit viel zu kurzen Hemden oder in Fetzen von einem Gewand gehüllt. Dort wurden die neu­en Zugänge abgeladen, die vom Lager in den Krankenbau gebracht wurden, ungewaschen, mit ihren verdreckten und verlausten Sachen und dort in Ermangelung eines Untersu­chungstisches die Kranken untersucht. Dort wurden bei der Essenverteilung die Schüsseln mit Suppe abgestellt und auf den ungewasche­nen blanken Steinen das Brot geschnitten. Alles spielte sich auf dem Ofen ab, über den man mit den schmutzigen Sachen kletterte, wenn man von der einen Seite des Blocks auf die andere wollte. Einspritzungen wurden hier gemacht und Abszesse gespalten. Auf ihm übten Zigeunerpflegerinnen in unbewachten Augenblicken zum neuesten Schlager einen Foxtrott oder einen Bauchtanz. Dort wurde gegessen, „gekocht”, gewaschen mit dem spärlichen, bräunlich–schmutzigen Wasser, das mit Krankheitskeimen verseucht war und durch seinen Eisengehalt alles gelb impräg­nierte, und auf ihm würde oft genug ge­schlafen. Denn es war immer noch besser auf den harten Steinen zu liegen als in den überfüllten Kojen. 800, 1000 und mehr Men­schen in einem einzigen Block war die Regel. Abgezehrte, fiebernde Menschen lagen eingepreßt in ihren Kojen, nebeneinander, überein­ander, untereinander, zu Zehnen auf einem Platz, der für zwei oder höchstens vier Men­schen ausgereicht hätte. Ganz oben, wo die beweglicheren Kranken, die noch klettern konnten, untergebracht waren, wäre es viel­leicht erträglicher gewesen, wenn nicht der Regen Decken und Strohsäcke so durchnäßt hätte, daß sie nie trocken wurden und das Wasser bis auf die mittleren Kojen herunter­tropfte. Unten bei den Schwerkranken, die nicht mehr die Kraft hatten, für ihre Verrich­tungen aus den Betten zu krabbeln und sich nicht aufrichten konnten, war ein Morast von kotbeschmutzten und urindurchtränkten Decken; Sterbende wälzten sich zwischen schon Toten mit einem dumpfen, langgezogenen Jaah, das wie der Schrei verendender Tiere im Ur­wald klang.

Pflegerinnen gab es die Menge. Die meisten waren Zigeunerinnen, frühere Artistinnen, gut gewachsene, schöne Frauen. An den Kranken waren sie nicht interessiert. Ihre Tätigkeit ging über die Essenverteilung, bei der sie sich selbst gründlich bedachten, nur wenig hinaus. Fiebermessen gehörte zu ihren Pflich­ten, obwohl viele nicht lesen und schreiben konnten. Sie hatten eine kindliche Freude an Putz und Tand, tauschten ihre Garderoben, die sie mit ihren Sachen hatten behalten dür­fen, immer wieder gegenseitig aus und zogen sich viele Male am Tag um. Die einstigen Schaustellkostüme waren für den neuen Beruf nicht allzu geeignet. Noch sehe ich Resi vor mir, mit ihren dunklen Locken und den blit­zenden Augen, angetan mit einem schwarzen Seidenröckchen und einem Kasack aus Silber­brokat mit weiten, bauschigen, lang herabwal­lenden Ärmeln, einem Prunkstück aus ihrer Schaubudenzeit, wie sie auf und ab tänzelte und, als die SS–Kontrolle im Block erschien, eifrig zwei überschwappende Nachttöpfe er­griff, sie nach hinten trug und wie die herun­terbaumelnden Ärmel bei jedem Schritt tief eintunkten.

Die Ärzte, gute und schlechte, anständige und unanständige, erfahrene Praktiker und blutige Laien ohne Schulung, waren machtlos. Sie hatten Hunderte von Patienten zu versorgen und für alle ausführliche Krankenblätter zu schreiben, die tadellos geführt werden mußten, alle drei Tage mit einem Nachtrag. Das allein hätte sie vollauf beschäftigt. Zudem hafteten sie bei Strafe von „Fünfundzwanzig mit dem Ochsenschwanz” für den Stand, die genaue Zahl der Patienten. Der stimmte kaum je, in den viel zu vollen, unübersichtlichen Blocks, wo 20 und 30 Kranke am Tage aufgenommen wurden und nicht weniger starben, wo Ster­bende sich in ihrer Todesangst in den Stroh­sack verkrochen oder ungesehen hinter einem Balken verreckten. Wieder und wieder wurden die Patienten gezählt und die Nummern ver­glichen, und wenn man damit durch war, fing alles von neuem an, weil inzwischen noch mehr gestorben waren. Einmal zählte ich fünf volle Male: Der Stand stimmte nicht. Eine Pa­tientin fehlte. Keine Antwort, wenn ihre Num­mer aufgerufen wurde. Vielleicht war sie ge­storben und die Leiche nicht abgeschrieben und ungezählt auf den Leichenwagen gewor­fen worden. Ich war außer mir: „Fünfundzwan­zig” – des war ich sicher – würde ich nicht überleben. Nur kräftige Männer hielten es durch. In meiner Verzweiflung schickte ich nach dem Block, wo der Mann der Patientin hauste. Vielleicht war sie heimlich zu ihm zurückgekehrt. Sie war nicht dort. Aber ihr Mann kam, gemessenen Schrittes, ein gutaus­sehender Zigeuner, mit einem langen weißen Bart und einem weißen Turban um den Kopf. Er hörte sich die Geschichte an und begann zu pfeifen, einen kurzen melodischen Pfiff. Nach wenigen Sekunden warf sich ihm eine alte häßliche Zigeunerin an den Hals. Sie hatte sich in einem Strohsack versteckt und dort nicht gemuckst. Beinahe wäre auch ich ihrem Mann um den Hals gefallen, so erleich­tert war ich.

Für die Behandlung blieb nicht viel Zeit, und es sah nicht danach aus, als ob die Lagerlei­tung das für nötig befunden hätte, Medikamen­te waren rar, zwei Kampferampullen und eine Flasche Digitalis infus waren ungefähr der Vorrat für eine Woche. Nur Bolus alba gab es in Fül­le, nicht in Büchsen oder Tüten sondern in riesigen Säcken. Bolus, ein weißes Pulver, war das Allheilmittel; bei Durchfall wurde es innerlich gegeben, bei Mundfäule auf die Schleimhaut gestreut und bei Hautentzündun­gen die kranken Stellen damit gepudert. Und Bolus, zu einem dicken Brei angerührt, wurde auf die Kojen und die Wände gestrichen, da­mit sie über allem Elend weiß glänzten.

Alles was die Arzte für die Kranken tun konnten, die zu Skeletten abgemagert oder durch Hungerödeme aufgeschwollen, sich in Fieber­delirien wälzten, war, sie zu trösten und ih­nen gut zuzureden. Davon wurde den Patien­ten nicht besser; sie starben wie die Fliegen. Unter das Stöhnen der Schwerkranken und das klagende Jaah der Sterbenden mengte sich immer wieder der Ruf der Zigeuner: Mulo, Mulo, ein Toter, ein Toter.

Die Leichen wurden aus den Kojen gerissen und so wie sie waren, verdreckt und mit Kot beschmiert, auf dem lehmigen Gang zwischen den Betten und dem Ofen nach hinten ge­schleift und in eine Ecke des Blocks gewor­fen. Dort blieben sie liegen, bis das Leichen­kommando den hochgetürmten Haufen all­abendlich abholte. Kein Bitten und kein Be­fehl vermochte die Pflegerinnen dazu zu brin­gen, die Leichen würdig hinauszutragen. Wenn das Leben nichts mehr gilt, verschwindet auch die Achtung vor dem Toten.

Mulo, Mulo, ein Toter, ein Toter, nichts als Tote. Zwanzig, dreißig an einem Tag, in einem Block, in allen Blocks.

Sonntag im Lager

Das Zigeunerlager war in Aufruhr. Zur Feier des Sonntags war eine Extra Vorstellung ange­setzt. Der große freie Platz zwischen dem Waschraum und dem Kindergarten diente als Festwiese. Wie es sich für einen Kinderspiel­platz gehört, hatte er ein Schaukelkarussel und allerhand Turngeräte, Ringe, Barren und einen Holzzaun ohne Stacheldraht. Dort be­gann um 5 Uhr die Vorstellung. Das ganze Lager, etwa 16 000 Menschen allein im Zigeu­nerlager, war versammelt. Die Zuschauer drängelten außen am Zaun im Stehparkett, die Artisten standen startbereit im Halbkreis in der Arena neben dem Block. Vor diesem, auf einem improvisierten Podium, paradierte die Musik, fünf Zigeuner mit Violinen – die Zigeuner hatten die Musikinstrumente mitsamt ihrem Gepäck behalten – und einer mit einem Holzbein bei einer Ziehharmonika, spielten sie voll Hingabe ihre schmelzenden, eroti­schen Melodien, mit dem Unterton von Sehn­sucht und Zerrissenheit; jene einschmeicheln­den Weisen, aus denen man spürt, wie das Volk liebt und lebt, frei und ungebunden und triebhaft wie die Tiere des Waldes, noch mit einer letzten dunklen Ahnung um ihre Urhei­mat Indien. Zum Takt schwangen sich dann die Manner an den Barren und Ringen, türm­ten sich zu hohen Säulen, kreisten im Wirbel und warfen sich als Bälle, nicht mehr als Häftlinge, nur noch Vollblutartisten mit ihrer Liebe zum Fach. Nicht einmal der Clown fehlte, diese echte Theaterfigur, die mit ge­schminkter Maske und mit aufgelegtem Grin­sen das wahre menschliche Gesicht verdeckt. Die Zuschauer machten noch mehr Theater; die Menge am Zaun jauchzte, johlte, sang und tanzte im Takt mit. Man muß Zigeuner als Publikum gesehen haben. Das geht mit, nicht mit Applaus, sondern mit dem ganzen Körper, mit jedem Muskel. Schon die Kinder werden auf Artistik und auf Tanz dressiert, und der erste Saitenstrich der Violine oder das Schüttern der Harmonika bringt die kleinsten Goren in Schwung. Arme, Beine, Kopf, alles wird durcheinandergeworfen und alles springt. Varieté im Lager, zu beiden Seiten des Holzzau­nes. Zigeunersonntag! Plötzlich ein Pfiff, ein Kommando, und das Spiel reißt mittendrin ab. „Blocksperre“ ist der Befehl, das heißt, alles sofort in die Blocks. Im Nu sind die Massen in ihre Baracken getrieben, nicht mit Musik, sondern mit Knüppeln und Stöcken und Hieben. Platz und Lagerstraße liegen men­schenverlassen da.

Kaum im Block angelangt, werden die Türen hinter uns verrammelt. Keiner darf in die Nähe des Tores oder gar durch den Spalt gucken. Im Block entsteht beklommenes Schweigen. Die Kranken hören auf zu stöhnen, die Gesun­den kriechen schnell auf ihr Lager, ohne noch wie üblich ihre Brotration hinunterzuschlin­gen. Neulinge, die wir sind, spüren wir doch die düstere Atmosphäre. An Schlaf ist rächt zu denken. Wir liegen zusammengekauert auf unseren Strohsäcken und rücken ganz dicht aneinander. Ab und zu wird leise getuschelt, sonst herrscht weiter unheimliche Ruhe im Block, der an anderen Tagen mit dem Gekrei­sche an einen Affenkäfig erinnert. Stunden verrinnen, bis es ganz dunkel wird. Dann fah­ren Autos an. Am Reflex der Lichtkegel an der Wand erkennen wir, daß eins neben unse­rem Block wendet. Wir hören den Motor stop­pen. Die Türen werden aufgerissen. SS er­scheint. Namen und Nummern werden aufgeru­fen und mit aufblendenden Taschenlampen werden Patienten und Pflegerinnen nach die­sen Nummern auf ihrem Arm abgesucht. Wir wagen nicht mehr zu atmen, nicht den Kopf zur Seite zu wenden. Wer ist daran? Wann wird unsere Nummer genannt? Ob es eine hal­be Stunde oder Minuten oder gar nur Sekunden dauert, bis das Tor wieder verschlossen wird und das Auto losprustet, wir wissen es nicht.

2500 tschechische Zigeuner gingen in dieser Nacht ins Gas. Das war unser zweiter Sonn­tag im Lager, der am 30. Mai 1943. Von da ab wußten wir, daß alles Lachen und alles Spiel im Lager immer nur der Auftakt war,

Hunger

Unser eigenes Fleckfieber ließ nicht lange auf sich warten. Im Juni war es fällig. Nach der Entfieberung wurde ich wie die übrigen Patienten im Quarantäneblock noch 3 Wochen isoliert, bevor ich den Dienst wieder aufneh­men durfte. In den Blocks, die die Sonne sen­gend bestrich und wo durch die Spalten und die schmalen Öffnungen unter dem Dachan­satz bei ruhigem Wetter nur wenig Luft ein­strömte, war es glühend heiß. Ich lag ganz oben in der Koje, dicht unter dem Dach in der Ecke an der Luke, und konnte ein Fitzelchen Himmel und durch die Glasstreifen gegenüber sogar ein paar Baumwipfel und ganz hinten, bei offener Tür, ein Stückchen gelbgespren­kelte Wiese erspähen. In und auf den Kojen rings um mich herum wimmelte es von nackten Zigeunerinnen, die sich die Zeit mit Tausch­geschäften und mit fantastischen Erzählungen über ihren früheren Reichtum und mit Kochre­zepten, dem unerschöpflichen Gesprächsstoff hungernder Menschen, vertrieben. Sie plapper­ten in einem Kauderwelsch von allen Sprachen mit ihrem Zigeuneridiom, das hart und schnei­dend in die Ohren biß. Mit dem fernen Grün im Hintergrund konnten die gebräunten Körper, die untätig herumlungerten und schnatterten, bei leisem Blinzeln fast die Illusion eines Strandbades vorgaukeln und manchmal, wenn ich mit dem vom Fleckfieber müden Schädel und den verwaschenen Gedanken Stunden da­hindöste, lösten sich Zeit und Raum auf und Furcht und Grauen entschwanden und mitten in dem Gekreisch lullte mich eine große Ruhe ein, als ob ich eins wäre mit dem All wie drau­ßen in der weiten Natur.

Zur Pseudosommerfrische im Lager fehlte frei­lich, neben vielem anderen, das Essen. Das Fleckfieber hat wie eine Reihe von anderen Infektionskrankheiten die teuflische Eigenschaft, in der Rekonvaleszenz den Appetit zu steigern, eine höchst überflüssige Angelegen­heit bei einer Tagesration von alles in allem einem halben Liter Lagersuppe und 250g Brot mit 20 g Margarine oder Wurst oder einer Diät aus einem Viertel Weißbrot und einem halben Liter dünner Haferflockensuppe. Diese Kost, ohne Kartoffeln, ohne Zwischenmahlzeiten, ohne alle die kleinen Happen, die man sonst ganz unbewußt nebenbei in den Mund steckt, führte nachweislich in einem halben Jahr zum Hungertod. Eines Sonntags, am 25. Juli, fiel zu allem Unglück die Suppe aus. Brot hatte keiner mehr, da es in der Regel sofort abends nach der Verteilung mit atavistischen Anklän­gen an eine Boa constrictor im ganzen ver­schlungen wurde, wenn auch nicht mit dem­selben Effekt eines behaglichen Sättigungsgefühles hinterher. Keine Suppe bedeutete: Einen langen Tag ohne einen Bissen. Wer wirklich Hunger kennt, weiß, daß er nicht nur eine ve­getative animalische Sensation des Magens ist, sondern eine nervenzerrüttende Pein, ein Anschlag auf die gesamte Persönlichkeit. Hunger macht bösartig und verdirbt den Cha­rakter. Vieles bei den Häftlingen, was einem Außenseiter mit Recht ungeheuerlich scheint, wird verständlich und zum Teil entschuldbar aus den Perspektiven des Hungers. So vom Hunger zermürbt, meiner selbst nicht mehr mächtig, wartete ich sehnsüchtig auf etwas zu essen. Als gar vor meinen Augen zwei nichtjüdische polnische Pflegerinnen, denen Fahrten erlaubt waren, ihre Stiefel mit Marga­rine einschmierten, heulte ich los und weinte vor Hunger wie ein kleines Kind.

Am selben Abend besuchte mich eine Zigeu­nerin, ein frisches Mädel aus dem Rheinland. Sie war seit Marz im Lager und erzählte, wie sie damals viele, viele Stunden frierend im Schnee Appell gestanden, wieviel Lebensmit­tel sie damals von zuhause mitgebracht und wie nebenan im anderen Block die Häftlinge Hunger gelitten hatten. Brot und Suppe waren nur spärlich und unregelmäßig ausgeteilt wor­den. Und wenn die Ärmsten mit letzter Kraft über die Abfälle und die Kartoffelschalen im Schnee herfielen oder im Mülleimer kramten, wurden sie erbarmungslos niedergeschlagen und als Strafe wurde Kostentzug angeordnet. Haufen von Toten, fünfzig, sechzig in einem einzigen Block, durch Hunger, durch Schläge, umsäumten Tag für Tag die Blocks. Da schäm­te ich mich tiefinnerst. Immer gab es solche, denen es noch viel schlechter ging; nur sie können Maßstab sein. Nie wieder würde ich vor Hunger weinen. Ich habe es treulich gehal­ten, auch später, als ich am Hunger um ein Haar verreckt bin,

Am nächsten Morgen, dem 26. Juli 1943, hör­ten wir, daß die Angloamerikaner in Italien gelandet seien. Wir waren der Freiheit um ei­nen Millimeter näher.

Appell

Der Appell im Konzentrationslager war der Schrecken des Tages. Er wurde abgehalten, um den „Stand”, d.h. die Zahl der Häftlinge, genau festzustellen und fortlaufend zu kon­trollieren. Wenn man bedenkt, wie groß die einzelnen Lager in Birkenau waren, das Frau­en–Konzentrationslager mit durchschnittlich 25 000 bis 30 000 Häftlingen, die anderen Ne­benlager mit rund 10 000 bis 20 000 Häftlin­gen, und daß tägliche Verschiebungen der Häftlinge von einem Lagerabschnitt zum an­deren zum System steter Beunruhigung durch die SS gehörten; wenn man überdies noch die vielen Hunderte von Häftlingen in Rechnung stellt, die bei der Arbeit, auf dem Weg dorthin oder in einem versteckten Winkel des Blocks zusammengebrochen und tot liegengeblieben waren, wird man eine Ahnung bekommen, was dazu gehörte, daß der Appell stimmte und wie minutiös die Hauptschreibstuben, die Block­schreiber und alle, auch die Arzte, die für den Stand verantwortlich waren und bei Feh­lern schwer bestraft wurden, arbeiten mußten. Die Zahl nicht etwa nur der Lebenden, son­dern auch der Toten mußte stimmen. Nicht einer durfte fehlen. Das bedeutete, daß jeder Tote genau mit der Nummer gebucht rechtzei­tig vor dem Appell in der Schreibstube gemel­det und dort abgeschrieben werden mußte. Wer nicht tot war, mußte zum Appell antreten, noch mit 40 Grad Fieber, mit Durchfall und Herzschwäche, auch Menschen dünner als Stöcke, mit erfrorenen Händen und Füßen. Sie standen Appell, zweimal am Tag, morgens vor der Arbeit noch in stockdunkler Nacht, wenn im Sommer um 3 Uhr und im Winter um 4 Uhr aufgestanden wurde, und abends nach Beendigung der Arbeit, jedes Mal 1 – 2 Stunden, oft viel länger. Bei schlechter Laune der Vorge­setzten, bei sogenannten Strafen und bei Unstimmigkeiten des Standes war die Dauer nicht abzusehen.

Wehe, wenn einer fehlte, sei es, daß er – sel­ten genug – geflüchtet war, sei es, daß eine Verlegung in einen anderen Lagerabschnitt nicht berücksichtigt wurde, daß Häftlinge, zu einer Arbeit kommandiert oder auf Transport geschickt, nicht abgerechnet waren, oder daß ein Toter, der ohne Rücksicht auf den Appell unbemerkt in einer abseitigen Ecke seine See­le ausgehaucht hatte, übersehen war. Das ge­nügte, um einen ganzen Lagerabschnitt in Ver­wirrung zu bringen. Dann wurde immer wieder gezählt, oft mit Aufruf jeder einzelnen Nummer, und die Häftlinge mußten Stunden Überstunden stehen, Tage, Nächte. Ein Appell, der einen Tag oder eine Nacht hindurch dauerte, war nichts Außergewöhnliches, und viele Häftlin­ge haben 24 und 48 Stunden gestanden, bei brütender Hitze, bei Regen, der in Strömen floß, bei eisigem Nordwind und 20 Grad unter Null, freilich ohne Sorge, daß ihre Kleider ru­iniert wurden, in dünnen Fetzen, in Holzpan­tinen oder zerschlissenem Lederschuhwerk, die Hände in ein paar Lumpen gewickelt. So standen die Menschen, die sich nicht rühren durften, mit den nassen, klammen Sachen am Leibe, ohne einen warmen Tropfen im Magen, ohne die Erlaubnis, ihre Notdurft zu verrich­ten, auch wenn bei Diarrhöe der Kot in wässe­rigen Strömen von ihnen lief. Verstohlen und heimlich drängten sie sich aneinander, um sich zu wärmen, und stützten Kameraden, die taumelten. Wer umfiel, blieb liegen, im gün­stigsten Fall ohne Schläge. In der Regel wur­de er mit Stockschlägen, Peitschenhieben und mit dem Gewehrkolben solange traktiert, bis er wieder auf die Beine kam. Und wenn er wieder zusammensackte, setzte die Proze­dur von neuem ein, bis der also Behandelte nimmermehr aufstand. Nicht, daß sich die Miß­handlungen auf den Appell beschränkten, sie waren gleichmäßig auf Appell und Arbeit ver­teilt und blieben auch in kurzen Nachtstunden im Block nicht aus. Aber beim Appell stand man dabei und sah zu (sofern man nicht zu­fällig selbst Objekt war). Ohnmächtig dabei­stehen und mit ansehen müssen, wie ein an­derer gequält wird und leidet, ohne helfen zu können, ist eines der allerschlimmsten Dinge in der Welt. Und dabei bleibe ich auch heute noch. Beherrscht, mit zusammengebissenen Zähnen und heimlich geballter Faust alles geschehen lassen müssen und dem Kameraden in seiner Not nicht beistehen dürfen, das war das Gesetz im Konzentrationslager Auschwitz und der Appell das grell leuchtende Aushän­geschild.

Die Geschichte von dem Vater, der vor den Augen seines Sohnes totgeschlagen wurde, wiederholte sich in Auschwitz in allen Modi­fikationen. Im Januar 1945 wurde auf meine Station eine Frau aus der Weberei mit Hunger- Ödem eingeliefert, deren Körper überall blutunterlaufen war. Beim Appell hatte der ganze Block im Schnee knien müssen, weil die Häft­linge in der Weberei einige Meter zu wenig geliefert hatten. Meine Patientin hatte für ih­re kranke fiebernde Tochter um Nachlaß ge­beten. Als Antwort wurde die Tochter zu Boden gerissen, mit den Fäusten zerhämmert und mit den wuchtigen Stiefeln zerstampft und die Mutter selbst übel zugerichtet.

Viele werden solche grausigen Schilderungen angewidert beiseite schieben, um nicht in ih­rer inneren Behaglichkeit gestört zu werden, so wie ich es früher selber getan habe. Ande­re, die nicht begreifen wollen, daß die Wirk­lichkeit im Konzentrationslager Auschwitz menschliches Vorstellungsvermögen übertraf, werden den Bericht als propagandistische Er­findung auslegen. Das gerade ist es, was mich meinen Aufenthalt im Konzentrationslager be­jahen läßt. Wenn solche Dinge überhaupt in der Welt geschehen, muß man sie mit eigenen Augen sehen, weil man sie sonst nicht glaubt oder aus Bequemlichkeit davon abrückt. Und doch ist letzten Endes auch das Wissen um die tiefsten Abgründe des menschlichen Seins eine Erkenntnis, deren man nicht entraten kann, weil der Weg aus der untersten Tiefe am ehesten aufwärts klimmt.

Und man muß diese Dinge selber erleben, weil man sonst auch nicht zu ermessen vermag, was Menschen ertragen und wie sie es ertra­gen. Die Häftlinge im Konzentrationslager haben Appell gestanden, durch Tage und Näch­te, in Kälte und mit leerem Magen, und sie haben ausgehalten und sind in der Regel da­ran nicht zugrundegegangen, sofern nicht Ge­walt sie vernichtet hat. Sie haben gestanden ohne Jammern, ohne Tränen, ohne Ducken und ohne Winseln, voll Ruhe und Würde, als ob es ganz selbstverständlich wäre. Der Ap­pel war der Schrecken des Tages und er war eine Offenbarung, wie Menschen über sich hinauswachsen können.

Fleckfieber

Der Lagerarzt hatte uns seinerzeit informiert, daß wir im Zigeunerlager zwei außergewöhnliche Krankheitsgruppen vorfinden würden, eine Fülle von Noma (Wasserkrebs), eine Avitaminose, ungemein selten in Zentraleuropa, und eine riesige Fleckfieberepidemie. Die Zahl der Fleckfieberkranken in diesem klei­nen Lagerabschnitt war bei unserer Ankunft 600 und stieg im Juli/August auf rund 1000. Das Fleckfieber wird durch Läuse übertragen, durch den Biß und durch den in der Luft ver­stäubten Läusekot, und es hatte seine gute Berechtigung, wenn überall im Lager Schilder mit stolzen Lettern und eindrucksvoller Illustration warnten: Eine Laus Dein Tod! Leider nahmen die Läuse keine hinreichende Notiz davon und wimmelten in den Blocks noch dich­ter und zahlreicher als die Menschen, was nur möglich war, weil sie kleiner sind. Wie schon erwähnt, erbten auch wir drei von unseren lausigen Mitbewohnern sofort Fleckfieber.

Die eine meiner Kolleginnen bekam zu ihrem Fleckfieber als Komplikation eine Gehirnent­zündung, in ihrer Art so entsetzlich, daß ich nur mit Schaudern daran zurückdenke. In grau­enhafter Unruhe warf sie sich wie ein Perpe­tuum mobile in ständiger Bewegung hin und her. Decken und Kissen schleuderte sie von sich, ihre Nacktheit schamlos preisgebend, und schob den abgezehrten Körper in schlan­genhaften Windungen, die Arme übergelenkig kreisend, in den Betten umher, nicht Mensch mehr, sondern enthirntes Tier. Dabei schluchz­te sie, schrie mit heiserer Stimme und stam­melte in abgerissenen Worten unzusammenhän­gende Brocken eines Gebetes. Erst kurz vor dem Tode wurde sie ruhig und starb, zum Ge­rippe abgemagert, mit entstellten Zügen. Die zweite bekam zu ihrem Fleckfieber noch Bauchtyphus hinzu mit Durchfall und Venen­entzündung. Mit den bis zu den Knien ge­schwollenen Beinen konnte sie sich nicht schnell genug zur Toilette schleppen und wur­de unter dem Gespött der Zigeunerpflegerin­nen und eines polnischen nichtjüdischen Kol­legen, der sie in höhnischen Versen verulkte, halbtotgeschlagen. Zuletzt lag sie auf der Durchfallstation in ihrem eigenen Schmutz und barmte nach Kartoffeln und Vitaminen, die ihr keiner bringen konnte, bis auch sie elen­diglich zugrundeging. Der nächste war ein Kollege aus Agram. Er war kurz vorher zur Strafe von der SS auf das Leichenauto mitten unter die Haufen von Toten geworfen und bei­nahe erdrückt worden. Nur durch Zufall wurde er von einem früheren Bekannten gerettet und davor bewahrt, lebend ins Krematorium zu kom­men. Bald darauf erwischte ihn das Fleckfie­ber und eine Herzschwäche löschte seine Qualen aus.

Dann nach vielen anderen war wieder ein Arzt an der Reihe. Er war ein anerkannter Wissen­schaftler. Als die Lage in seinem Lande brenzlig wurde, wollten Freunde ihn über die Grenze bringen. Er lehnte es ab, weil jedes Heimlichtun ihm tief zuwider war. So kam er nach Ausch­witz, mit dem norwegischen Trans­port, von dem ein paar Männer ins Lager ka­men, aber alle Frauen ohne Unterschied ins Gas gingen. Er hat es sich nie verziehen, daß er seine Frau in den Tod geführt hat, und woll­te nicht begreifen, daß auch Auschwitz ein Forum war, für das die himmlische Regie Ak­teure und Statisten selber bestimmte. Septem­ber 1943 wurde er hochfieberhaft in die Iso­lierbaracke verlegt. Er lag da mit einem so­zusagen eleganten Fleckfieber, ohne Zerstö­rung der Gehirnzellen, ohne Durchfall, mit der stoischen Ruhe dessen, der seinem Tod unbe­eindruckt entgegensieht. Dabei hatte er jene Doppelung des Seins, die manchen Fleckfie­berformen eigentümlich ist: Der Patient ist über die Wirklichkeit vollkommen orientiert und lebt gleichzeitig in einer Traumatmosphä­re, die an Klarheit dem realen Sein nicht nach­steht. Ich erinnere mich, daß ich selber wäh­rend meines Fleckfiebers alle Einzelheiten im Zigeunerblock beobachtete und dabei im Engadin hinter Sils–Maria oben auf der Höhe von Maloja weilte, wo die Sonne über dem Grab von Segantini spielte und hinabsah in die bläulich–violetten Gründe des Bergell. So wandelte auch dieser Mann hin und her zwischen der Fleckfieberbaracke in Birkenau und den Ärztekongressen in Europa. Bei 40 Grad Fieber diskutierte er in seiner Mutter­sprache wissenschaftliche Tuberkulosepro­bleme, alle Einwände fein säuberlich abwä­gend und widerlegend, und wenige Minuten später begutachtete er seinen eigenen Krank­heitszustand in fließendem Deutsch. Bei all seiner geistigen Lebendigkeit war sein Fleck­fieber ein bösartiges. Das Herz arbeitete un­genügend und der Puls war schlecht. Es folg­ten schlimme Tage und noch schlimmere Näch­te. Nie werde ich diese Nachtwachen verges­sen. Es war ein trostloses Wetter. Der Sturm heulte um die Blocks und drang durch die Spalten überall hinein und bohrte sich bis ins innerste Mark. Der Regen peitschte in Strö­men und rann durch die Ritzen und Locher des Daches auf den lehmigen Boden. Die Feuchtigkeit saugte sich durch die nassen Kleider, die einzigen, die man hatte, in alle Poren und die Schuhe trieften vor Nässe und klebten an den Füßen. Und da lag jener Mann mit fliegendem Puls und nachlassender At­mung und blauen Lippen in einer Baracke, wo Tag für Tag unzählige Menschen dem Fleck­fieber erlagen. In einer solchen Nacht – es war der 29. September und jüdisches Neujahr – bäumte ich mich auf gegen Gott: Wozu das alles? Wozu ein anderes Jahr? Alle Freunde im Lager waren gestorben. Immer die besten waren gegangen. Für keinen von uns bestand eine Hoffnung. Was nützte alles Leid und al­le Verzweiflung und was die Hölle, die wir durchwanderten, wenn keiner übrigblieb, der einst das Buch aufblättern und die Geschichte derer von Auschwitz erzählen würde?

Fünf Tage später war die Krisis, Der Patient entfieberte und schlief den gesunden Schlaf der Genesung. Man konnte ihn nach Wochen endlich wieder allein lassen. Ich stand hinter dem Block und sah auf die Kamine und auf die Sonne, die wieder durchgebrochen war und als rote Kugel am Abendhimmel hing, und es über­kam mich, daß das Leben noch stärker ist als der Tod. Einst würde aus der Asche der Toten von Auschwitz phönixhaft ein neues Leben erstehen.

Dritter Teil

Bonbons für Kinder

Der Kinderkrankenblock im Zigeunerlager war eigentlich nicht viel anders als die Blocks der Erwachsenen. Aber die Not dieser jungen Würmer schnitt noch mehr ins Herz, vielleicht weil die Gesichter alles Kindliche eingebüßt hatten und mit greisenhaften Zügen aus hoh­len Augen guckten. Die ausschweifende Phan­tasie eines Holbein und eines Rethel hat nicht ausgereicht, um so ausgemergelte Gerippe und totenähnliche Masken zu zeichnen, wie Leid und Hunger sie in Birkenau geschaffen haben. Die Kinder waren wie die Erwachsenen nur noch Haut und Knochen, ohne Muskeln und ohne Fett, und die dünne pergamentartige Haut scheuerte sich über den harten Kanten des Skeletts überall durch und entzündete sich in schwärenden Wunden. Krätze bedeckte den unterernährten Körper von oben bis unten und entzog ihm die letzte Kraft, Der Mund war von Noma–Geschwüren zerfressen, die sich in die Tiefe bohrten, die Kiefer aushöhlten und krebs­artig die Wangen durchlöcherten. Und dennoch aßen diese Kinder und tranken und manche von ihnen erholten sich vorübergehend und schienen geheilt. Bei vielen schoppte der Hunger den sich zersetzenden Organismus mit Wasser voll. Sie schwollen zu unförmigen Klumpen an, die sich nicht rühren konnten. Durchfall, durch Wochen hindurch“ loste ihren widerstandslosen Körper auf, bis bei dem ste­ten Wegfließen von Substanz nichts mehr von ihm übrigblieb.

Viele von ihnen, die so lange des Essens entwöhnt waren, fragten nicht mehr nach Nahrung, aber alle verlangten zu trinken; auch die, de­ren Körper schon viel zu viel Flüssigkeit ge­speichert hatte, bettelten immer und immer um Wasser. Durst, unstillbarer Durst, war eine der großen Plagen von Birkenau. Wasser war verboten, weil es verseucht war; die drei Kü­bel mit Kaffee oder Tee, einem hellverfärbten Getränk, waren wie ein Hohn auf die tausend vertrockneten Kehlen im Block. Hunger ver­nichtet; Durst, der nie gelöscht wird, benimmt die Sinne. Durch keine Drohung und keine Bit­te waren die Kinder vom Trinken abzuhalten. Sie verkauften ihre letzte Brotration für einen Becher des gefährdenden Wassers, und wenn sie kaum mehr gehen konnten, krochen sie nachts von ihrem Lager und krabbelten heim­lich auf allen vieren unter den Betten hindurch zu den Kübeln mit Aufwaschwasser und soffen es aus.

Vor Hunger und Durst, Kälte und Schmerzen kamen die Kinder auch nachts nicht zur Ruhe. Ihr Stöhnen schwoll orkanartig an and hallte im ganzen Block wieder, bis sie erschöpft nach­ließen und nach kurzer Pause zu neuem Cres­cendo ansetzten. Nacht für Nacht flutete das Jammern der leidenden Kreatur auf und ab, wie die Wogen eines Meeres, eine nicht endende Symphonie menschlicher Qual. Wenn die, die achtlos über menschliches Leid hinweggehen, nur drei Nächte im Kinderblock erlebt hätten, wo wir unsere Lagerstatt hatten, würde wohl vieles anders werden. Oder wenn sie einmal beim morgendlichen Waschen zugegen gewesen wären, wie die Kinder mitsamt ihren schmutzi­gen Decken vom Lager gezogen wurden, her­unter von den fauligen Strohsäcken, in denen die Maden wimmelten, wie sie auf den kalten Steinen des „Ofens” oder auf dem lehmigen Boden lagen und mitsamt ihren Decken gewa­schen wurden und wie alles wieder ins Bett gezerrt wurde, die nassen, kranken Kinder und die feuchten Decken.

Und doch, das war das Wunderbare, hatten so­gar diese Kinder noch ihre Freuden und ihre glücklichen Momente. Als Zulage zur Hunger­kost wurden vom November ab rohe Haferflocken mit Zucker verteilt, ein kleines Häufchen für jedes Kind. Sobald es hieß; Haferflocken holen!, mucksten die Kinder nicht mehr, und wenn die große blaue Emailleschüssel mit den Haferflocken und der kleine weiße Porzellan­topf mit Zucker in den Saal getragen wurden, leuchteten alle Augen und sie ließen keinen Blick von den Schüsseln mit dem kostbaren Gut. Wenn es ausgeteilt wurde, jedem in die hohle Hand, futterten sie vergnügt Flöckchen für Flöckchen und leckten mit Wonne alle Fin­ger ab. Es gab für die Kinder nur eines, was noch schöner war: Wenn der Lagerarzt zur Vi­site kam. Sie wußten nichts von seinen Funk­tionen bei den Gaskammern, nichts davon, daß wir vor jeder Visite zitterten, weil bei dem geringsten Versehen unser Leben und das von vielen anderen auf dem Spiel stand, sie wußten nur von den Bonbons, die er brachte. Er hatte die Taschen voll und teilte sie einzeln aus. Spielerisch warf er sie den Kindern zu und drückte da und dort einem Schwerkranken einen in die Hand. Die Bonbons reichten nicht für alle, aber einmal kam jedes Kind an die Reihe, wenn nicht heute, dann morgen oder übermorgen. Sobald der Lagerarzt erschien, strahlten die Kinder. Ein Bonbon, und sie ver­gaßen ihr Leid.

Nicht nur die Kinder, auch die Großen taten dergleichen. Eine kalte Lagersuppe, zwei ge­koch­te Kartoffeln oder ein Becher Milch als Extraspende täuschte sie über den Hunger hin­weg und machte sie eine Weile froh. Oft ge­nügte auch schon ein Streicheln, ein tröstendes Wort, eine winzige Gabe der Liebe.

Der Zahnarzt

Warum er sich im Konzentrationslager befand, war nicht ersichtlich, auch nicht, ob er Volks­deutscher war oder einer anderen Nationalität zugehörte. Sicher ist nur, daß er kein Jude war. Wenn er nicht im spanischen Bürgerkrieg mitgekämpft hätte, für welche Partei, war nicht herauszufinden, hätte man glauben können, daß er sich das Konzentrationslager, wo er persönlich keine Waffengänge auszutragen hat­te, als friedliche Oase in der kampfdurchtob­ten Welt ausgesucht hatte, oder als Eldorado im futterarmen Europa, wo er keine Nahrungs­sorgen kannte und mit den besten Bissen ge­mästet, sich seine Dinners nach Belieben zu­sammenstellte.

Seine Hauptkunden waren die SS–Männer, de­nen er für prompte und ausgiebige Lieferungen aus den Lagermagazinen und der Küche prima neue Zähne und echte Goldkronen einsetzte. Auch mit den Häftlingen stand er gut, am be­sten mit den zahlungskräftigen Polen. An der Lagerpraxis war er nicht interessiert. Er war ein sehr geschickter Techniker. Mit vorsintflutlichem Instrumentarium bohrte er die Zäh­ne bruchstückweise aus, ohne den Kiefer zu spalten. Bei minderem Publikum wandte er ein absolut sicheres Mittel zur Ruhigstellung an: Beim ersten Laut zwei schallende Ohrfeigen, so daß dem Patienten Hören und Sehen verging und er nicht mehr mucksen konnte. Trotzdem war er nicht unbeliebt. Mit dem Instinkt eines Lebenskünstlers spürte er im Konzentrations­lager die winzige Chance auf, um lachend zwischen den offenen Gräbern hindurchzutanzen.

Seine Furchtlosigkeit – er war nie ernsthaft gefährdet – hatte etwas Wohltuendes. Er schnitt nicht auf. Er hatte vielerlei erlebt. Hoch oben im Gebirge war er auf unwegsamen Pfaden immer weiter in die Höhe geklommen und am steilen Abgrund dem riesigen Bären begegnet und hatte ihm durch die Wucht seiner Arme Halt geboten. Die Kreuzotter, die ihn an­fallen wollte, hatte er mit starrem Blick ge­bannt. Er war überhaupt für Bravour und Tap­ferkeit, in seiner warmen Klause, wenn er den Tag mit einem Frühstück aus Fleischgulasch und Wiener Knödeln eingeleitet hatte, oder abends beim Schnaps, einem undefinierbaren Gemisch aus Brennspiritus, Äther und anderen zahnärztlichen Ingredienzien. Er konnte nicht begreifen, daß die Juden aus Rücksicht auf die anderen, die als Geiseln in den Händen der SS waren, folgsam wie Schafe zum Kamin gingen, ohne sich zur Wehr zu setzen. Im Grun­de war er ein gutmütiger Mann. Er gönnte vie­len von seinem Reichtum und bewahrte manche vor dem Verhungern, auch eine ganze Serie von bildhübschen Zigeunerinnen, die sich ei­ne nach der anderen in seinem Kämmerchen einfanden. Und er verstand es Feste zu feiern. Am Weihnachtsabend lud er uns ein, in die tannengeschmückte Zahnstation, wo bunte Ker­zen brannten, zu Berliner Pfannkuchen und Wiener Apfelstrudel, uns, die wir nie genug Brot und Suppe hatten. Dazu hatte er einen Zigeunermusiker engagiert, der Weihnachtslie­der sang und sie auf der Zither begleitete. Er gehörte zu denen, die sich im Lager eingelebt hatten, dort bevorrechtet herrschten und viel­leicht noch manches Mal wehmütig, wenn nicht gar sehnsüchtig daran zurückdenken.

Vom Sterben

Das Konzentrationslager Auschwitz stand im Zeichen der Selektion. Gemeint ist damit die Auswahl zur Vergasung mit nachfolgender Ver­brennung. Sie ging fast ausschließlich Juden an und umfaßte 3 Kategorien von Menschen, „Zugänge“, die neu nach Auschwitz kamen, Häftlinge aus dem Lager und Kranke aus dem Revier. Alte, Schwache und offensichtlich Kranke und Arbeitsunfähige verfielen automa­tisch der Selektion, ebenso alle Kinder bis zu 14 Jahren zusammen mit ihren Müttern oder mit denen, die sich ihrer angenommen und zu ei­nem Kind gesellt hatten. Warum die Deutschen, die sonst fanatisch jedes Fremdwort aus ihrer Sprache ausmerzten und durch allerhand unge­lenke Wortverbildungen ersetzten, hier den la­teinischen Ausdruck beibehielten, ist nicht ganz klar. Vielleicht lag es im Rahmen der Tarnung, mit der sie dieses teuflische Spiel zu umkleiden suchten. Das ging soweit, daß sie später die Höfe der Krematorien mit grünen Buchsbaumhecken abdichteten, so daß es aus­sah, als ob dahinter einer in seinem Gärtchen, behaglich im Liegestuhl ruhend, sich den neu­gierigen Blicken der Zuschauer entziehen woll­te. Offiziell durften wir nichts von Selektion wissen, auch wenn die Flammen vor unseren Augen bis zum Himmel schlugen, und wenn wir am Brandgeruch und am Qualm fast erstick­ten. Das bloße Wort war im Umgang mit der SS Tabu. Wenn ein Unbeteiligter gehört hätte, wie wir mit den Lagerärzten um Menschenleben feilschten, mit Argumenten von einwandfreier Arbeitsfähigkeit des Häftlings oder mit Diskus­sionen über die wissenschaftliche Bedeutung eines Falles, so hätte er geglaubt, daß es sich um ein harmloses medizinisches Collo­quium handele. Ich kenne-nur eine einzige Aus­nahme von dieser Regel. Vor der Vernichtung des Theresienstädter Familienlagers in Birke­nau, bei der von 3500 Menschen nur 21 ver­schont blieben, bat eine Kollegin den Lager­arzt um das Leben ihres Vaters, eines berühm­ten Orthopäden. Er lehnte ab mit der Begrün­dung, daß für einen 70jährigen Mann, der doch nicht mehr arbeiten könne, der Gastod ein be­quemer Tod sei.

Sicher ist, daß das Versteckspiel bei einem Teil der Neuankömmlinge in Auschwitz Erfolg gehabt und sie zumindest im ersten Moment über die wahren Absichten der SS hinwegge­täuscht hat (ob bis zum letzten Augenblick, wird ewig unergründetes Geheimnis bleiben). Nicht nur wir, der Jahrgang 1943, ahnten vor­her nicht, was gespielt wurde, sondern auch noch die Ungarn, die erst im Sommer 1944 ein­trafen. Etwas, was für uns, die wir schon mit­ten drin waren, unfaßbar schien: Sie nahmen das, was sie im englischen Radio über das Konzentrationslager Auschwitz gehört hatten, für bloße Greuelpropaganda. (Darum sollte es mich nicht wundern, wenn auch heute noch mancher bei der Geschichte derer von Ausch­witz ungläubig mit den Achseln zuckt und etwas von jüdischen Greueln murmelt.) Die pol­nischen Juden waren sich, anders als wir, im allgemeinen schon bei der Ankunft im klaren über das drohende Unheil, sei es, daß sie durch das jahrhundertelange Gehetzt–Sein eine be­sondere Witterung für Gefahren hatten, sei es, weil die mörderischen Konzentrationslager Auschwitz, Majdanek, Lublin in ihrem Lande waren. Es war Lagergespräch, daß ein kleiner 12jähriger polnischer Junge dem Lagerarzt am Zuge immer wieder versicherte, daß er ar­beiten könne wie ein Mann und daß ihm nichts zu schwer sei. Er ließ nicht locker, und bis zuletzt sträubte er sich – vergebens – den Kindern zugeteilt zu werden.

Im Lager selbst und im Revier nützte keine Heimlichtuerei. Dort war der Mechanismus der Selektionen zu fest eingefahren und jeder kannte ihn bis in alle Einzelheiten. Der La­gerarzt kommandierte einen oder mehrere Blocks, ließ die Häftlinge nackt vorbeidefi­lieren und wählte die aus, die, sei es wegen Schwäche oder Unterernährung, wegen Hungerödem, sei es wegen Krätze oder Sonnenbrand, der Gründe gab es genug, ins Gas gingen. Die Nummern der Unglücklichen wurden sofort no­tiert und gleich hinterher wurden sie nach dem Selektionsblock verlegt. Dort warteten sie, oft ohne Essen, über ihr Schicksal voll orien­tiert, auf den Tod. (Manchmal wurden die Num­mern direkt von der politischen Leitung durch­gegeben.) Nach einigen Tagen oder einer Wo­che wurde die obligate „Blocksperre“ verhängt. Man hörte das Fahren der Autos, und wenn es nah genug war, das Schreien von Menschen, die noch geschlagen wurden, die wütenden Kommandos der SS, das Bellen der Hunde und nach ein bis zwei Stunden loderten die Kami­ne.

Das Problem für uns in Auschwitz war nicht, ob Selektion, sondern wann und wie. Kein jü­discher Häftling rechnete damit, Auschwitz je lebend zu verlassen. Wir lebten nicht nur räum­lich, sondern auch geistig im Schatten der Ka­mine. Der Kamin war das Alpha und Omega aller Gespräche. Er wurde schon beim Früh­stück aufs trockne Brot geschmiert und bei je­der Mahlzeit als Dessert aufgetischt.

Der Tod war uns nah und vertraut wie eine Landschaft, in der man lebt und in die man hineinwächst. Wir sahen ihn unablässig am Krematorium warten und noch in vielerlei Ge­stalten, nicht mild, mit Freundeshänden, die streicheln, sondern mit grausigen Zügen, mit Marter und Folter, die Arme voll Blut. Trotz­dem haben die Menschen, wenn auch immer noch beseelt von dem Wunsch zu leben und nicht weil sie des Kämpfens müde waren, ihm gelassen die Hand gedrückt und sind seinem Wink ohne Zaudern, fast noch mit einem Lä­cheln gefolgt. Sie haben sich ihm hingegeben, weil er immer mit uns war und zu uns gehörte, wie die Sonne und das Licht des Tags, wie der Mond und die Sterne in der Nacht, wie die Luft, die wir atmeten. Wohl barmten Mütter, daß sie ihre Kinder nicht wiedersehen würden, und da und dort flehte einer um sein Leben, wie die kleine Toes, die 19jährige Holländerin, die im Selektionsblock weinte und bettelte: „Helft mir doch, ich bin so jung und möchte noch so gerne leben.” Doch das waren nur we­nige. Viele haben eine Kraft des Sterbens be­wiesen, von der kein Hohes Lied zu singen ver­mag. Geschwister schieden voneinander nicht mit Wehklagen sondern voll Tapferkeit; Mütter, schon dem Tod geweiht, trösteten ihre zurück­bleibenden Kinder, Freunde trennten sich von den Kameraden mit einem Dank und Händedruck. Auch die Geschichte von Mala, der Bel­gierin, die noch erzählt wird, gehört hierher, und jener Freitagabend im Januar 1944. Zu dieser Zeit überstürzten sich die Selektionen in Auschwitz, und Birkenau wurde bis auf ei­nen kleinen Bruchteil von Juden „gesäubert”. Jeden Abend war Blocksperre. Es dunkelte früh und wir standen im Block eingeschlossen an der hinteren Pforte und lugten durch die Spalten gegenüber auf die Krematorien, von denen das eine knapp 50 Meter von uns ent­fernt war. Es war das übliche Bild: Wagen fuh­ren an, machten Halt, SS kommandierte, Men­schen wurden abgeladen, alles wie immer. Da, mit einem Male, erscholl in die dunkle Nacht hinein, aus vielen hundert Kehlen, doch wie aus einem Mund, rhythmisch und harmonisch: Schmah Israel, Höre Israel! Weithin klang das Glaubensbekenntnis der Menschenschar unter dem freien Himmel, die Hymne Gottes an der offenen Pforte zur Kammer des Todes.

Wir, im Lager hart geworden, erstickten mit Mühe ein Schluchzen und hielten kaum die Tränen zurück. Einer der Freunde riß sich zu­sammen und brüllte: „Scheiße. Die Suppe wird kalt.”

Warum?

Wenige Tage später standen wir am Fenster des neuerrichteten Laboratoriums, das Aus­sicht auf drei Krematorien bot. Wir sprachen über allerhand Medizinisches, über die Ab­wehrkräfte des Körpers gegen Infektionen und Stoffwechselvorgänge beim Hunger, denn der SS–Lagerarzt hatte es für gut befunden, Vor­tragskurse einzuführen und wollte zwischen seinen Selektionen etwas über Durchfälle im Konzentrationslager hören. Wir hatten diese Probleme schon vorher diskutiert, nicht nur ärztliche sondern auch andere und manche Stunde den Hunger und das Grauen des Inferno darüber vergessen. Aber heute, angesichts der unablässig züngelnden Feuer, die uns blende­ten, war es schwer, sich auf die Systematik der Ernährungsstörungen zu konzentrieren. Das Gespräch sackte ab und schlief bald wieder ein. Wir starrten auf die Kamine. „Warum?” fragte der Kamerad, der ahnte, daß dieses Mal seine Schwester dort hinten dabei war. „Warum müssen wir das aushalten? Haben wir uns so versündigt? Wir sind unseren Weg gegangen, haben uns bemüht nichts Unrechtes zu tun und anderen zu helfen. Wir haben keinen umgebracht und nichts verbrochen. Und selbst für einen Mörder wäre diese Strafe viel, viel zu grausam. Warum kommt das über uns, warum?” Wie oft hatten wir alle uns das schon gefragt, abends beim Einschlafen und morgens beim rauen Aufwachen, zu jeder Stunde des Tages und in der Wache der Nacht. „Vielleicht sind wir zu streng und hart gewesen und müssen, milder werden,” sagte ich zögernd. Er, ein gütiger Mensch, hat mir die Antwort übelgenommen. Er hat neun aus seiner Familie in Auschwitz ver­loren.

Der Kohinoor

Diese kleine Episode hat sich wohl im März 1944 ereignet. Damals waren die Baracken im Revier des Zigeunerlagers für den oberfläch­lichen Beschauer schon recht ansehnlich ge­worden. Wände und Decken strahlten in heller Tünche; unten war ein Paneel abgesetzt und in Ölfarbe gestrichen, die sonst in Deutschland kaum mehr zu haben war und in Birkenau mit dem Essen der Häftlinge bestens bezahlt wur­de. Die Betten waren weiß gestrichen, mit wei­ßen Laken über den nackten, aus gemergelten Leibern auf ihren verfaulten Strohsäcken. Und da, wo die Brotration eines Tages für eine Handvoll Wasser geboten wurde, protzten ein­zelne Baracken mit Vorrichtungen für fließendes Wasser und Spülklosett, für die die zuge­hörige Kanalisation und Abwässerung nie angelegt wurden. Auf den Tischen prangten Vasen mit Blumen und die Wände der Kinderblocks schmückten Bilder mit bekannten Märchenge­stalten, Rotkäppchen, Schneewittchen mit den sieben Zwergen, damit, wenn schon der Magen, zumindest die Phantasie nicht hungerte, und die Leute merken sollten, daß man auch im Konzentrationslager Auschwitz etwas von Mär­chen verstände, (etwas, was nicht einmal die Kinder im Lager glaubten.) Vor den Blocks waren Rasenflächen mit Stiefmütterchenbeeten, die sie umsäumten. Wacholderbüsche und japanische Quitten faßten die Wege ein und in einer Ecke waren Vergißmeinnicht gepflanzt, in wohlwollender Vorsorge, daß wir Auschwitz nicht vergessen sollten. Dazu war strahlendes Wetter. Die Sonnenstrahlen wiegten sich auf dem frischen Grün der Sträucher, und im Süden grüßten die gewaltigen Höhen der Beskiden.

Die aufgeputzte Fassade und die Frühlings­stimmung müssen mich wohl irgendwie benom­men haben, daß ich plötzlich anfing wieder Hoffnung zu schöpfen (vielleicht weil ich, al­len logischen Ganglienzellen zum Trotz, doch noch daran glaubte zu überleben.) Auf jeden Fall tat es dem Ohr und der Seele wohl, ein­mal nicht vom Kamin zu reden. Voll Zuversicht sprach ich zu einem französischen Kollegen, während wir die Lagerstraße entlanggingen, und machte Pläne für die Zukunft, was wir al­les draußen in der Welt tun würden, wie wir später unser Leben genießen würden, und daß wir einen Fonds für die Opfer von Auschwitz schaffen müßten. Er sah mich erstaunt an, als ob er mich nicht verstanden hätte, antwortete nicht und ließ eine ganze Weile verstreichen, bis wir an das Ende der Straße gekommen wa­ren. Dann begann er: „Ich will Ihnen eine klei­ne Geschichte erzählen, aber in französisch, da hört sie sich besser an.“ Er stammte aus der Provence, verband französische Kultur und Liebenswürdigkeit mit südlichem Tempe­rament und sprach ein sehr elegantes Franzö­sisch.

„Ein Mann war gestorben und wartete vor dem Himmelstor auf Einlaß. Während er dort stand, tat sich die Erde vor ihm auf und er sah tief hinab in das Reich der Hölle. Da saßen die Geister der Verstorbenen und labten sich beim herrlichen Mahle an der üppig gedeckten Tafel. Sie war mit Leckerbissen reich beladen, mit auserlesenen Früchten und phantastischen Blumen geschmückt und edler Wein perlte in den Pokalen. Schöne Frauen in prächtigen Ge­wändern tanzten lockend um sie herum; eine wohlklingende Musik tonte durch den Raum und hallte von den Wänden. Überall ausgelas­sene Fröhlichkeit. Erstaunt sah es der Mann vor der Himmelstür, hörte, wie die Gäste da unten ihn riefen und ihm das Reich der Hölle priesen. Und als sich nun die Türe zum Him­mel öffnete, einfach und schlicht, da bat der Gast, daß man ihn ziehen lasse, zum Reich des Teufels. Petrus zögerte und malte ihm die schwarzen Gründe der Tiefe mit abschrecken­den Worten, aber der Neuankömmling bat so­lange, bis ihm der Zugang zur Hölle gewährt war. Dort angekommen, ward er in ein finsteres Loch gesperrt, auf einen glühenden Amboß ge­bunden und mit Eisenstangen geschlagen und spitzen Zangen gezwickt. Flehentlich begehr­te er nach jenem Teil der Hölle, den er vorher gesehen hatte, hin zu den Gästen beim glän­zenden Fest. Da belehrte man ihn: Das war nur die Propaganda.”

„So ist es auch hier”, fuhr der Kollege fort. „Alles ist Propaganda, um uns zu täuschen. Man pflanzt Rasen und Blumen, malt die Blocks, alles für das Auge und doch wird man uns ver­nichten, Ich könnte Ihnen tausend Pfund für einen Auschwitz–Fond zusagen. Das ist kein Kunststück, denn ich habe immer gearbeitet und gespart und das Geld liegt auf einer Bank in London. Aber ich verspreche Ihnen weit mehr. Ich verspreche Ihnen schriftlich den Kohinoor, Sie wissen, den größten Diamanten der Welt, wenn wir überleben; denn ich bin sicher, daß ich diesen Wechsel nie einzulösen brauche.”

Er hat recht behalten. Ich werde den Kohinoor nie bekommen.

Quarkknödel

Man kriegt eher von dem, der nur zwei Stück Brot hat, eines und von dem, der nur ein einzi­ges besitzt, ein halbes als von einem, der zwei große Brote sein eigen nennt, eine Scheibe. Und es ist leichter, das dritte Hemd herauszu­geben, sofern man selber noch eins zum Wech­seln hat, als das schöne runde Dutzend anzu­reißen. So war es auch im Lager. Immer waren es die Armen, die halfen. Von den Wohlhaben­den war nicht viel zu holen außer den Abfäl­len, die sie nicht verwerteten, dem Strunk und den welken Blättern von ihrem Kohl, der Schüs­sel Lagersuppe, die sie selber verschmähten. Später, als der Weißkäse in mächtigen Tonnen anrollte und die hohen Herren im Zigeunerla­ger seiner überdrüssig waren, spendeten sie ihn großmütig uns Ärzten, die mit Durchfall und Hungerödem unsicher auf der Lebenskante balancierten. Durch Monate war Quark unser Belag zum Brot und immer waren wir gierig darauf. Bei kühlem Wetter war er erfrischend mit dem leckeren Aroma gesäuerter Milch, an heißen Tagen stank die gegorene Masse faulig aus den Fässern und ein krabbelndes Würmertum tobte sich in ihr aus. Eiweißhaltige Nah­rung blieb es trotzdem, und außerdem taugte der Quark zu Klößen, der allabendlichen Mahl­zeit.

Kochen war im Konzentrationslager verboten. Das tat nichts. Auch zu leben war nicht er­laubt und wir versuchten es trotzdem. Kochen war auch schwierig. Im Winter, an den Tagen, an denen der große Ofen im Block geheizt wur­de, ging es noch, in den riesigen Feuerlöchern zu beiden Enden, wo das Wasser schnell sie­dete und eine Kartoffel, so man sie hatte, in fünf Minuten gar war. Sonst wurde auf kleinen Öfchen gekocht; mühselig wurden die einzel­nen Kohlen und die Holzscheite zusammenge­sucht, Bretter von zerfallenen Kojen, ein Stück von der Wand des Magazins. Dann wurde, da Streichhölzer fehlten, das Feuer mit Papier­fahnen von irgendwoher geholt. Und wenn es endlich lustig flackerte und alles zum Kocher bereit war, hieß es: „Der Lagerarzt! ” Er kam zu ganz verschiedenen Zeiten, morgens, in al­ler Herrgottsfrühe, oft noch am späten Nach­mittags und abends. (Der Meldedienst unter den Häftlingen, der ihn ankündigte, funktio­nierte prompt, weil daran alle gleich interessiert waren.) Schnell wurde das Feuer gelöscht, al­les weggeräumt, unter die Strohsäcke in den Kojen oder in nicht sehr appetitliche Ecken des Laboratoriums. Nach seinem Verschwin­den begann es von neuem. Die Auswahl der Zutaten war nicht groß, Quark, Brot an Stelle von Mehl, manchmal noch gekochte Kartoffeln, Salz und ein Spürchen zusammengesparte Mar­garine. Ein Arzt aus der Tschechei, ein gebo­renes Hausfaktotum, der auch sonst allerlei konnte, Ofenrohre einsetzte, elektrische Lei­tungen anlegte, hin und wieder Eßbares auf­trieb, war Koch. Die andern halfen, holten Was­ser, schälten Kartoffeln und zerstampften sie, zerbröckelten das Brot und wälzten es mit ei­ner Flasche zu Bröseln. Den Teig knetete er selber; sorgfältig formte er daraus die Klöße, ganz gleichmäßig, warf sie in das siedende Wasser und ließ sie nicht aus den Augen bis sie, einer nach dem anderen, in die Höhe stie­gen. Vorsichtig holte er sie heraus, hielt sie auf der Ofenplatte warm, bis alle fertig waren und überstreute sie dann mit Brotbröseln, die er in der Margarine bräunte. Zwei, drei Stunden stand er da mit hochrotem Gesicht und der Schweiß rann ihm aus allen Poren, Dann ser­vierte er die Knödel für die ganze Gesellschaft, für jeden genau abgezählt. Wir aßen sie eben­so andächtig, wie er sie gekocht hatte, und fanden sie herrlich. Zur Abwechslung waren sie einmal rund, ein anderes Mal länglich oder in Scheiben gepreßt; jedes Mal schmeckten sie uns noch besser und wir waren des Lobes voll für den Koch.

Alles, was wir im Lager bekamen, mundete, sogar die eintönige Lagersuppe aus Kohlrüben und Graupen ohne Fett und ohne Gewürze. Und wie an Eßbarem, freuten wir uns an anderem.

Jedes Stück zum Anziehen war ein Ereignis, der abgetragene Wintermantel, den mir ein un­bekannter polnischer Jude im Januar nach der großen Kälte schenkte, die Söckchen, die Irene, die noch in Auschwitz Franz von Assisi las, für mich strickte. Das Messer, der Spiegel, der nicht mehr blank war, alles wurde zum kostba­ren Besitz. Ob Fiek sich je mit ihrem Schrank voll Kleidern so freuen wird wie mit dem hell­blauen Nachthemd mit dem buntgestickten Kra­gen, ihrem Geburtstagsgeschenk im Lager?

Das Sonderkommando

Im Konzentrationslager Auschwitz waren ver­schiedene Arbeitskommandos, gute und schlech­te. Am beliebtesten war die Arbeit in der Kü­che und in den Magazinen, weil es an Hunger­stätten angenehm ist, wenn man neben seinem eigenen Futternapf noch den der anderen in Händen hält und ihn nach Belieben füllen und leeren kann. Sehr gesucht war auch die Tätig­keit in den Schreibstuben und in der Sauna, im Badehaus. Es waren angesehene Positionen ohne große körperliche Anstrengung, die in der Schreibstube hinter den Kulissen gelegentlich von Einfluß auf die Verlegung der Häftlinge, die in der Sauna sehr einträglich. Denn die Saunamädchen konnten sich dort, wo die neuen Zugänge ausgezogen wurden und ihre Kleider abgeben mußten, so nebenbei wie in einem Mo­desalon das Schönste und Beste aussuchen. Noch besser für Organisation war „Canada”, das Männer- und Frauenkommando. Ihnen oblag die Aufräumung und Sortierung aller Gepäck­stücke, die die Neuankömmlinge mitgebracht und auf Befehl der SS sofortnach Ankunft beim Zuge abgelegt hatten. Dort gab es nicht nur Kleider sondern alles, was ein gut für die Eva­kuierung ausgestatteter Mensch angeschleppt hatte, Lebensmittel bis zu den ausgesuchtesten Leckerbissen, Ölsardinen, Schokolade, Kuchen, Jam, Zigaretten, Seife, hie und da auch Schnaps und last not least Bücher. Auch Geld wurde des Öfteren gefunden. Der Schneider im Zigeu­nerlager, der dicht an der Rampe beim Zug wohnte und Gönner unter der SS und den Häft­lingen hatte, zeigte mir einmal 6000 Mark in Devisen, Pengös, Kronen und Francs, die er in einer Woche ergattert hatte.

Daß Häftlinge von dem nahmen, was andere blutenden Herzens abliefern mußten und sel­ber so nötig zum Leben gebraucht hätten, scheint gemein. Aber diese Sachen waren ohne­dies von der SS beschlagnahmt und für die Häftlinge auf jeden Fall verloren. Was die Canadaleute davon erwischten, kam nicht nur ih­nen selber zugute, sondern auf Umwegen, durch Tausch oder Geschenk, dem Lager. Der Erwerb des Canadakommandos war, wenn auch für den einzelnen nicht direkt spürbar, ein wertvoller Zuschuß. Alle unsere wenigen Habseligkeiten, jeder Kamm und jede Zahnbürste, stammten aus dieser Quelle. Wirksame Medikamente wa­ren nur von dort zu erhalten. Der Gewinn der Canadaleute war keineswegs einfach und wur­de oft teuer von ihnen bezahlt. Sie durften sich zwar den Mund während der Arbeit voll­stopfen, nicht aber die Taschen. Auf dem Rück­weg von der Arbeit ins Lager wurden sie wie­derholt gründlich untersucht, „gefilzt”, am Lagereingang, beim Baden und noch einmal vor ihrem Block, und, wenn man etwas fand, schwer bestraft. Trotzdem war das Kommando erwünscht.

Ein anderes ausgezeichnetes Kommando war die Musikkapelle im Konzentrationslager, wo man auch das kannte. Die „Musik” war so etwas wie das Schoßhündchen der Lagerleitung und die Mitwirkenden wurden sichtlich prote­giert, Ihr Block war noch gepflegter als der von Schreibstube oder Küche, das Essen reich­lich und die Mädels von der Frauenkapelle waren adrett angezogen mit blauen Tuchklei­dern und Kappen. Die Musiker hatten viel zu tun. Sie spielten beim Appell auf und die Frau­en, die erschöpft von der Arbeit heimkehrten, mußten im Takt zur Musik marschieren und die Männer, die sich mit den übermüdeten Gliedern kaum noch weiterschleppten, mußten im Stech­schritt die Beine werfen. Zu allen offiziellen Anlässen wurde die Musik bestellt, zu den Ansprachen der Lagerführer, zu Transporten und wenn einer gehängt wurde. Dazwischen diente sie der Unterhaltung der SS und der Häftlinge im Krankenbau, Im Frauenkonzentrationslager spielte jeden Dienstag- und Freitagnachmittag die Kapelle im Revier, unbeirrt von allen Ereignissen und Selektionen ringsum. Und die Mu­siker aus dem benachbarten Männerlager kamen zum Musizieren zu den kranken Zigeunern, de­nen man vor ihrem Tode noch etwas bieten wollte. Die Spieler waren holländische und französische Juden, zwei davon berühmte Vio­linisten. Sie brachten leichte Lieder und Ope­rettenmusik, denn sie hatten kurz zuvor Strafe bekommen, Essensentzug und Strafestehen, weil sie der SS am Sonntagmorgen beim obli­gaten Ständchen Brahms und Bach geboten hat­ten, was nicht unterhaltend genug war. Trotz der lustigen Melodien zitterte aus den Saiten der Violine das ganze Herzeleid und ich weiß nicht, was schwerer war im Lager, Musik zu hören oder zu geben.

Das waren die sogenannten guten Kommandos, in denen nur ganz wenige Häftlinge, besondere Glückspilze, unterkamen. Sie sind nur der Ku­riosität halber genannt. Die eigentlichen Kom­mandos waren ganz anderer Art und samt und sonders grauenhaft. Überall war es schwere, körperlich vernichtende, pausenlos hastende Fronarbeit, zu denen die Capos Häftlinge mit der Zuchtrute in der Hand unbarmherzig antrie­ben. In den Munitionsbetrieben und in der We­berei wäre die Arbeit vielleicht erträglich ge­wesen, aber dazu kam noch der stundenlange Appell und eine rigorose Bestrafung, wenn das vorgeschriebene Arbeitsmaß nicht bewältigt war. Die Außenkommandos gar stellten an den ausgemergelten Organismus Anforderungen, denen keiner auf die Dauer gewachsen war, wie Rollwagenschieben, Arbeit im Kartoffelbunker. Ausstichen von Gräben aus dem tiefen Schlamm, Sanierungen am Weichselfluß mit ei­nem An- und Abmarsch von je 10 bis 15 km. Alle Kommandos wurden unter SS –Bewachung zur Arbeit geführt und ebenso von dort ins La­ger zurückgebracht, weil die Postenkette rings um das Lager nicht ohne SS – Begleitung durchschritten werden durfte. Nicht selten schickte man quasi zum Scherz Neulinge, die das nicht wußten, unter einem Vorwand über die Postenkette hinaus. Jenseits der Posten­kette angelangt, wurden sie „auf der Flucht erschossen”.

Dann war da noch ein Kommando, das besonde­re Aufgaben zu erfüllen hatte, daher der Name Sonderkommando. Dafür wurden junge kräftige, ausschließlich jüdische Männer gewählt, präch­tige energische Burschen. Sie erfuhren die Art ihrer Arbeit erst, wenn sie nach dem andern Block verlegt wurden. Das Sonderkommando hatte wie viele Kommandos einen gesonderten Block für sich, nur mit dem Unterschied, daß er vollkommen gegen das übrige Lager abge­riegelt und keinerlei Verbindung möglich war. Er hatte den schaurigen Auftrag, im Kremato­rium zu arbeiten. Soweit man erfuhr, mußten sie das, was jene Unglücklichen, die sofort zur Vergasung kamen, mit zu ihrer Totenkam­mer gebracht hatten, die Kleider und die letz­ten Habseligkeiten, aufräumen. Sie mußten die Leichen der Vergasten mit dem Holz für die großen Feuer schichten. Trotz aller Absper­rung drang durch, daß viele dabei ihre Famili­en wiedergefunden haben, Eltern, Geschwister, oft beide zusammen.

Manchmal kamen sie, scharf von der SS mit geladenem Revolver bewacht, von den großen bissigen Hunden umringt, in unser Lager zum Baden. Das waren keine menschlichen Antlit­ze mehr, sondern verzerrte, irre Gesichter, daß man vor Entsetzen hätte brüllen mögen. Sie wurden übrigens für ihre Arbeit gut be­zahlt. Sie durften sich aus den Sachen alles nehmen, was sie wollten, auch Zigaretten und Schnaps. Überdies hatten sie ihr Todesurteil in der Tasche. Nach ein, zwei oder drei Mo­naten wurden sie aus Gründen ewigen Schwei­gens regelmäßig selber vergast. Bei der Ar­beit schlossen sich, man wußte nicht wann, die Klappen der Gaskammer, das Gas wurde zugelassen und – ein neues Sonderkommando trat seine Dienste an.

Einmal, gegen Ende des Jahres 1944, brachte das Sonderkommando ein Krematorium zur Ex­plosion, nur unvollständig. Von den 302 Mann, die entflohen, wurden 300 gefaßt und starben eines grausigen Todes, ebenso die drei Mä­dels aus der Munitionsfabrik, die den Spreng­stoff besorgt hatten.

Menschen so zu entstellen und sie in die tief­ste Verdammnis ihrer Seelen zu treiben, ist ein Machwerk des Teufels. Wenn die SS nichts geschaffen hätte als das Sonderkommando in Auschwitz, war sie des Untergangs wert.

Menschen wallfahrten zum Tod

Am 17, Mai 1944 kamen die ersten ungarischen Juden nach Auschwitz, und von da ab rollten bis Anfang Juli fahrplanmäßig Tag für Tag 6 – 7 Güterzüge an, je nachdem mit 1200 – 2000 Passagieren. Vielleicht ist dieser Ausdruck übertrieben für Menschen, die mehr als eine Woche aufs dichteste zusammengedrängt in einen Güterwagen gestopft waren, daß sie kaum atmen konnten. Anfangs ging es noch. Aber später, bei der großen Hitze, waren ein­mal vierzig Tote in einem einzigen Wagen, und die Überlebenden warfen sich nach dem Entladen, vom Durst überwältigt, wie unreines Getier auf das Schlammwasser der Pfützen neben den Schienen. Die Lebensmittel der Ankömmlinge, auf die sich sonst die Häftlin­ge vom Canada–Kommando stürzten, blieben liegen und wurden nicht mehr gegessen, weil sie in den Waggons in Seen von Exkrementen zwischen den Toten und Kranken umher­schwammen.

Wir konnten alle Einzelheiten beobachten, denn damals war die Endstation der Bahn nicht mehr wie bei unserer Ankunft Auschwitz sondern Birkenau oder richtiger Endstation „Krematorium”, denn sie war kaum 100 m von den beiden ersten Krematorien entfernt. (Der des öfteren besprochene Plan, die Bahn bis dicht an die Krematorien heranzuführen und eine Rolltreppe direkt zu den Vergasungsräumen zu bauen, kam nicht mehr zur Ausführung.) Wir sahen, wie die Menschen mitten auf der Straße durch Birkenau standen, wo die Bahn­linie endete, neben ihrem abgelegten Sack und Pack, vom Regen durchweicht, oder häufiger in der Sonne dörrend, mit ihren Kindern, die ungeduldig hin und her hüpften oder am Ra­senabhang hinunter kletterten, mit den Kinder­wagen, die wir zählten; ein langer Zug von Menschen aller Altersstufen, in allen Trach­ten, in ländlich ungelenken Moden oder städ­tisch zurechtgemacht, Männer und noch mehr Frauen mit Kindern. Und wenn sich dieser Zug nach Stunden des Wartens auf scharfes Kommando der SS in Bewegung setzte, die Menschen in Reihen hintereinander, in ge­mäßigtem Tempo, die Frauen jetzt ihre Kinder fest an der Hand haltend, so ver­schwand er für einige Augenblicke hinter den Baumwipfeln, die die Wegbiegung hinter Bir­kenau umsäumten, und tauchte dann an der Seite wieder, auf. Einzelne Trupps bogen ab zu den ersten Krematorien, machten dort halt und standen an wie die Menschen in Hunger­ländern vor einem Lebensmittelgeschäft oder wie bei einer Theaterpremiere und warteten auf Einlaß. Die übrigen zogen weiter auf der Straße nach Brescinke (die neben dem Zigeu­nerlager entlangführte), zwischen saftig grü­nen Wiesen und gelbem Raps, mit den trippeln­den Kindern und den Kinderwagen, nur wenig Staub aufwirbelnd im Gegensatz zu den vorbei­sausenden Autos der SS, ein endloser Zug von Menschen.

Tag für Tag sahen wir sie. Die Menschen wa­ren andere, das Bild immer das gleiche der vielen Wallfahrer zu ihrem Ziel. Bei dem Wald von Brescinke entglitten sie unseren Blicken und – nach einer knappen Stunde stiegen Flammen empor hinter dem Wald von Brescinke. An zwei Stellen kletterten sie hoch zum Himmel. Und vor den Krematorien, wo die Menschen angestanden, auf Einlaß in ihre To­tenkammer gewartet hatten, war Leere und auch dort flammte die Glut, pünktlich eine Stunde nach dem Einlaß, durchscheinend durch die seitlichen Fenster, die sonst so harmlos und unverdächtig blinkten, und turmhoch zün­gelnd durch den Kamin. Fünf Riesenflammen loderten Tag und Nacht, und wenn sie am Ver­löschen waren, wanderten neue Menschen, um ihnen frischen Brennstoff zu geben, jenen gelbroten Feuern aus Holz und menschlicher Substanz. Der Himmel war rot von der Glut und die Sterne verblaßten dahinter. Die Luft war verpestet von dem süßlichen Hauch der Leichen und dem Geruch der brennenden Men­schenleiber und der sengenden Haare und drückte mit Schwaden von Asche schwer und rauchig auf das Lager. Baal, der Feuergott der Assyrer, war ein Waisenknabe gegen Hit­ler, den Gott der Nazi. Und die Scheiterhaufen des Mittelalters waren armselige Stümperver­suche gegen die Riesenfeuer, die in Ausch­witz nach fabrikmäßiger (und nicht immer voll­ständiger) Vergasung am laufenden Band ent­facht wurden. Wenn wir nachts aus dem Schlaf erwachten – wir, die wir das sahen, und doch aßen und schliefen wie normale Menschen – war der Block innen hell erleuch­tet, beleckt von den Reflexen der Riesenglut. Und wenn ich aufstand und mich durch die hintere Türe des Blocks schlich und auf das gegenüberliegende Krematorium, das zweite, schaute, sah ich daneben die offenen Feuer im Freien, in die man die Kinderleiber schmiß, tote und auch lebende; hörte das Schreien der Kinder, sah, wie die Feuer mit den zarten Körpern spielten, und keine Metamorphose meines Seins, gleichviel in welcher Sphäre, wird dieses Gesicht aus meiner Seele je aus­radieren.

Es gab Tage, wo wir die Flammen nicht mehr sehen, den schweren Brandgeruch nicht mehr schmecken konnten. Und doch war kein Ent­rinnen aus diesem Fegefeuer der untersten Hölle, die uns mit elektrischem Stacheldraht bannte. Einmal, am 3. Juni, als das Schau­spiel schon sechzehn volle Tage währte, lief ich Amok, Da haderte ich, zum zweiten Male im Lager, mit meinem Gott. Mit meinem eige­nen Leben hatte ich längst abgeschlossen, aber warum mußten solche Dinge geschehen und so viele unschuldige Menschen verqual­men? Erst sehr allmählich begriff ich, daß keiner vergebens stirbt und keiner sinnlos untergeht, sondern ins Ganze hineinwächst; und daß das Leben einer Gemeinschaft wie das des einzelnen einem inneren, nicht immer grob sichtbaren Ziele zustrebt. Wir, die wir nur episodische Gäste im historischen Welt­geschehen sind, erleben den versöhnenden Schlußakt nicht immer und können nur ahnen, daß auch diese Wallfahrer auf der Straße des Todes, 500 000 an der Zahl binnen 6 Wochen, einen Weg Gottes wandelten.

In der Sauna

Nur zehn Minuten, flüchtig und schnell vorüberhuschend in dem langen, nicht endenden Film des Konzentrationslagers mit seinen viel wuchtigeren und grausigeren Eindrücken, und doch haftet der kleine Zwischenfall in der Sauna, im Bade, und macht noch immer ein Würgen in der Kehle. An welchem Tage des Juli 1944 es war, ist mir nicht mehr erinner­lich, nur daß sich Lagerführer und Mitglieder der Lagerleitung ungebührlich lange im Zigeu­nerlager herumtrieben und daß es nachmittags um ½ 6 Uhr geschah. Von 5 – 6 Uhr war „Pfle­gerinnenbaden” dreimal wöchentlich, mit hei­ßen Duschen, dank eines wohlwollenden Ca­pos, eines politisch verfemten Deutschen, die Feststunde für uns im Lager, weil er für ein paar gute Worte noch freundlichere fand und das warme Wasser nicht wie in andern Lagern spärlich und mit Schlägen, sondern in üppi­gen Strömen auf den nackten Körper brausen ließ.

Um 5 Uhr war Auskleiden und dann öffneten sich die Duschen. Lachend und planschend, von oben und unten triefend, mit dem wohli­gen Gefühl dessen, der seinen Körper verwöh­nen kann, standen unsrer 22 unter den Du­schen. So fand uns Herr Schwarzhuber von der Lagerleitung bei der Besichtigung. Und er besichtigte, der SS–Chef, herablassend, kurz angebunden und doch gnädig, als Mann, abschätzend, schmunzelnd und geil. Jede der nackten Frauen kontrollierte er nach Herkunft und Nummer, nach Arbeit im Lager, nach den Linien ihres Wuchses oben und unten, nach ih­ren Brüsten und Hüften. Und wir hatten dem girrenden Mann in der SS–Uniform Rede und Antwort zu stehen, mit der Rede des Mundes und dem zur Schau gebotenen Körper, denn auch das gehörte zum Berufe der Häftlinge in Birkenau.

Zigeunernacht

Im Juli 1944 wurde die Stimmung im Zigeuner­lager noch gespannter als sonst. Das Lager war nicht mehr groß. Von den 20 000 Zigeu­nern, die zumeist im März 1943 und zu einem geringen Bruchteil später inhaftiert wurden, waren nur noch 6000 übrig. Unter diesen wur­den nun die Arbeitsfähigen vom Lagerarzt ausgesucht und für den Transport bestimmt und, soweit man hörte, nach dem Hauptlager in Auschwitz überstellt, um von dort aus in Arbeitslager oder Fabriken verteilt zu werden. Das Herausziehen der Arbeitskräfte aus ei­nem Lager war immer ein böses Omen, zumal wenn, wie hier, die Frauen mit den Kindern zurückblieben. Zudem befahl der Lagerarzt, der sich für Zwillings Forschung und anthropo­logische Messungen begeisterte, daß die Un­tersuchungen eiligst zum Abschluß zu bringen seien. Ende Juli wurde es ganz mulmig. Die Zigeunermischlinge und die Angehörigen von Frontkämpfern wurden beschleunigt aus dem Lager herausgeholt. Ein Teil des polnischen Pflegepersonals wurde abgelöst und versetzt. Und der Lagerführer, der sonst nur sporadisch erschien, besichtigte unser Lager unheimlich oft und lange. Etwas lag in der Luft, und doch konnte es nichts Akutes sein, denn der La­gerarzt kümmerte sich angelegentlicher denn je um die Patienten. Er stellte uns sogar ein Ultimatum für die Heilung der Augenentzün­dungen, an denen viele Kinder litten. Außer­dem wurden für den Waisenblock ab 28. Juli noch zwei große Kessel mit Kindersuppe als tägliche Zulage genehmigt.

Der 31. Juli 1944, ein Montag, brachte nach­mittagsneue Überraschungen. Der Zug mit den Zigeunern, die bereits nach Auschwitz ge­schickt worden waren, fuhr vor der Weiterfahrt von Auschwitz noch einmal zurück nach Bir­kenau, an das Zigeunerlager heran, an sich schon ungewöhnlich genug, und die SS erlaub­te, daß die Zigeuner sich trotz Blocksperre an der Rampe versammelten und sich mit den Häftlingen im Zug unterhielten. Das war et­was nie Dagewesenes in der Geschichte des Konzentrationslagers. Im Beisein der SS rie­fen die Menschen laut über den Draht und die 30m Entfernung hinüber, warfen Pakete und Zigaretten und winkten sich zu wie bei ei­nem Abschied auf dem Bahnsteig. Der Lager­arzt, der dabeistand, ließ alles ruhig gesche­hen und grüßte lachend zwei Zigeunerjungen, die mit von der Fahrt waren. Sie hatten vorher bei ihm Adjutantendienste getan, waren immer um ihn gewesen, durften oft ein Stück im Au­to mit ihm fahren und hatten ihm kindlich ver­trauensvoll alles, was im Lager vorkam, haar­klein erzählt. Erst als der Zug abfuhr, wur­den die Häftlinge in ihre Blocks getrieben.

Um 4 Uhr sichtete der Lagerarzt den Kinder­block noch einmal nach Arbeitsfähigen, die mit den Zwillingen nach Auschwitz verladen wurden. Dann folgten die Ereignisse Schlag auf Schlag. Um 5 Uhr mußten die polnischen, nicht die jüdischen, Arzte und Pfleger antre­ten und wurden in das anstoßende Männerla­ger überführt, danach die Pflegerinnen in das Frauenkonzentrationslager, Ich als einzige jüdische Ärztin blieb zurück. Kaum hatte das Personal mit Ausnahme der Juden das Lager verlassen, wurde sofort strengste Blocksper­re angeordnet. Ehe ich zu meinen Kindern in den Waisenblock eilen konnte, war die Lager­straße schon von schußbereiter SS abgesperrt, die in enggliedrigen Ketten zu beiden Seiten aufgepflanzt war. Schnell flüchtete ich mich zu den Kollegen in den Infektionsblock in dem Gefühl, wenn schon, dann mit ihnen zusammen den letzten Gang anzutreten.

Der Block, der letzte im Lager neben der Sauna, wurde fest verriegelt. Ich übernahm an Stelle der weggegangenen Pflegerinnen die Nachtwache bei den Patienten. Zwei Kollegen, die Dienst in der verwaisten Schreibstube ta­ten, zählten die Kartothekkarten der Blockin­sassen, um den Stand des Blocks festzustel­len. Scheinbar ganz ruhig, blätterten sie mit zuckenden Fingern nervös die roten Pappkar­ten, eine nach der anderen, immer wieder, wohl an die zehnmal, ohne zu einem Resultat zu kommen. Wir werden nie erfahren, ob es 129 oder 130 waren. Die Patienten wußten auch, worum es ging. Außer den kranken wa­ren 25 gesunde Frauen im Block, die mit ih­ren masern- und scharlachkranken Kindern dort isoliert waren. Ihre Ruhe war bewunderns­wert. Einige weinten leise vor sich hin, ande­re beteten. In der Ferne fuhren Autos an und verschwanden wieder in der Stille. Dann wur­de das An- und Abfahren und das Bremsen immer deutlicher. Gegen ½ 11 Uhr hielten sie vor unserem Block. War es soweit? Unser Tor blieb verschlossen. Es galt nicht uns, sondern dem Waisenblock gegenüber. Wir hören die kurzen Befehle der SS, das Kreischen der Kinder. Ich erkenne die einzelnen Stimmen: Die älteren wehren sich hörbar, rufen um Hil­fe, brüllen Verrat, Schufte, Mörder! Ein paar Minuten nur und die Autos surren davon, das Geschrei verhallt in der Nacht.

Nach einer knappen halben Stunde kehren die Wagen zurück, zu unserm Block, fahren daran vorbei, wenden nebenan bei der Sauna und – halten bei uns. Wir sind an der Reihe. Wen werden sie zuerst nehmen, die Zigeuner oder die jüdischen Arzte? Die Türen werden aufge­rissen, SS stürmt herein, begleitet von vier Häftlingen. Einen von ihnen, einen Polen namens Tomac­zik, kenne ich. Einmal hatte er, sinnlos betrunken, nachts die Pflegerinnen­stube unsicher gemacht, ein anderes Mal als Capo seine Jungens mit dem Stock unmensch­lich geschlagen. Der Anführer der SS recher­chiert nach dem Dienstpersonal – sollen wir den Reigen eröffnen? – sieht uns der Reihe nach an und erkundigt sich nach der Beleg­stärke des Blocks. Die Räumung beginnt. Die Menschen werden aus den Betten gezerrt, wie Bündel gepackt und hinaustransportiert. SS und die vier Häftlinge helfen zusammen, jeder seine Leute überzählend. Wir stehen dabei und müssen ohnmächtig zusehen. In wenigen Mi­nuten ist der Block leer. Jedes einzelne Bett wird noch einmal kontrolliert, unter den Ma­tratzen mit Stöcken herumgestochert, jede Ecke des Blocks abgeleuchtet. Der Block wird wieder verriegelt und die SS zieht mit ihren Opfern ab.

Wir bleiben unangetastet zurück. In jener Nacht haben wir nicht geschlafen und nicht gegessen, obwohl die Magaziner uns vor ih­rem Abgang reichlich mit Fleisch bedacht hat­ten, Fleisch, das wir über ein Jahr nicht ge­habt hatten.

Am nächsten Morgen, dem 1. August, war das Zigeunerlager, das tags zuvor 3500 – 4000 Köpfe gezählt hatte, leer und im Gegensatz zu dem sonst schwirrenden Gepappel lautlos. Eine Frau, die sich versteckt hatte und nach­träglich auftauchte, wurde dem Lagerführer vorgeführt. Zwei Kinder von 3 und 5 Jahren, die in ihre Decken eingemummelt alles überschlafen hatten, kamen, sich an der Hand füh­rend, weinend ob der Verlassenheit aus dem Waisenblock. Sie wurden nachgeliefert.

Wenn man fragt: „Wodurch unterscheidet sich diese Nacht von allen anderen Nächten?”, so gibt es nur eine Antwort: „Es war eine wie viele.” Ich wurde am nächsten Tage in das Frauenkonzentrationslager zurückversetzt, nur deshalb einen Tag später als die anderen, weil die Unterschrift des Lagerarztes, dem die Ärzte unterstanden, für meine Verlegung ge­fehlt hatte. Die anderen jüdischen Ärzte, die Männer, blieben im Zigeunerlager, das mit Russen und ungarischen Juden neu belegt wurde.

Vierter Teil

Die Mutter und die Großmutter

Nach dem traurigen Ende meiner Zigeunerkin­der wurde mir die Überwachung der kranken Kinder im Frauenkonzentrationslager übertra­gen. Viel waren es nicht, ein paar jüdische Zwillinge, weil der Lagerarzt Zwillingsfor­schung betrieb, Mischlinge und sonst russi­sche und polnische Kinder.

Neben meinen kleinen Patienten hatte ich noch eine Reihe von „Lagerkindern”, die den Kinderschuhen längst entwachsen waren. Das jüngste war 18 Jahre alt. Zuerst waren es vier Holländerinnen. Zwei davon, Ilse und Ruth, waren mir von einer holländischen Ärz­tin zur Obhut übergeben worden. Zu ihnen ge­sellten sich noch Fiek und Truus, die tod­krank aus dem Lager kamen. Ilse, eine hüb­sche Frau von 32 Jahren, war mit ihrem Mann nach Auschwitz gekom­men. An der Rampe, am Zug, hatte sie ihn zum letzten Mal gesehen. Arbeit und Hunger, Hitze und Schläge hatten sie körperlich und seelisch vernichtet. Trotz­dem erholte sie sich im August, in einer Zeit, in der im FKL keine Vergasungen waren, ganz ordentlich. Als im September die Selektionen wieder in Sicht kamen, war sie, immer noch spindeldürr, schwer bedroht. Wenn der Lager­arzt sie zu fassen kriegte, war sie verloren.

Alles hing für sie davon ab, wo die Selektionen begannen, ob zuerst im Lager bei den ar­beitenden Häftlingen oder im Krankenbau oder in beiden gleichzeitig, je nachdem die Will­kür traf. Nach dem, was sich in den überfüll­ten Lagern tat, schien dieses Mal das Revier, der Krankenbau, zuerst gefährdet. Ilse mußte schleunigst von dort verschwinden. Mit Mühe und Not und allerhand Verbindungen wurde sie in der Weberei untergebracht, wo die Ar­beit leichter war als in den Außenkommandos, aber das Essen noch dürftiger. Drei Tage ver­suchte sie zu arbeiten, konnte jedoch den Weg von der Fabrik mit ihren schwachen Bei­nen nicht meistern. Immer wieder stolperte sie, wurde geschlagen und ins Lager zurück­gezerrt. Nach fünf Tagen wurde sie erneut im Revier aufgenommen, gerade als dort die Selektionen vorüber waren und im Lager wü­teten, Dieses Mal hatte sie es geschafft. Nach zwei Wochen wiederholte sich dasselbe Manöver und glückte wieder, aber es hatte ihre letzten Reserven gekostet. Kurz danach ging sie an Erschöpfung und Rippenfellentzündung zugrunde.

Truus, die 18 jährige, die so gern leben woll­te, ging gleich in die Selektion, weil die Tu­berkulose, die ihr das Lager angehängt hatte, sich nicht verheimlichen ließ.

Blieben noch Fiek und Ruth, eigentlich keine Menschen mehr, nur noch Gerippe aus Haut und Knochen, kaum 60 Pfund schwer, nach dem SS –Reglement gerade das geeignete Heizmaterial für die Kamine. Fiek hatte zu­dem noch eine Lungenentzündung und Ruth einen Gehgips, weil ihre verödeten Beinmus­keln sie nicht mehr stützten, und alle beide besaßen eine Energie, die nicht klein zu krie­gen war und einen gottvollen Optimismus. Die mußten durchkommen. Sie wurden in eine Ver­suchsserie für wissenschaftliche Untersuchun­gen über Blutbeschaffenheit beim Hunger hin­eingemogelt. Häftlinge im Versuch waren vor Selektionen geschützt und bekamen eine Zu­lage von Milch, nicht genug um davon dick zu werden, aber ausreichend zur Existenz. Fiek und Ruth erholten sich dabei ein wenig und haben später, als die Familie sich vergrö­ßerte, tapfer mitgeholfen. Fünf neue Lager­kinder wurden adoptiert, zwei deutsche Jüdin­nen, dick aufgedunsen mit Hungerödem, eine Polin, eine ausgehungerte Ungarin mit dun­kelbrauner, pergamentartiger Pellagrahaut und eine hauchdünne zarte Griechin. Nur sie und Fiek haben überlebt. Die andern, die dem Gastod entschlüpft waren und durch Monate gehegt und gepflegt wurden, gingen nach der Befreiung ein, weil ihr zerstörter Organismus sich nicht mehr erholen konnte.

Die beiden deutschen Jüdinnen mit Hunger­ödem, die, vielleicht aus einer Vorahnung her“ aus, immer mutlos waren und nicht an eine Rettung glauben wollten, starben; auch Ruth, die gläubige, die so viel Gewalt über ihren Körper hatte und noch am letzten Tage einen Dank an ihre Eltern schrieb und ihr Totenge­bet selber sagte, und Mermelstein, die kleine Polin. Wochenlang war sie mit ihrer Pellagra, einer Vitaminmangelkrankheit, wie ein Kind gefüttert worden, weil sie, vom Essen ent­wöhnt, nichts mehr zu sich nehmen wollte. Danach war sie wunderbar gefräßig geworden, daß sie eine Lagersuppe nach der andern hin­unterschlang. Stolz und fröhlich war sie im Block herummarschiert, glücklich, daß sie wieder laufen konnte; aber nach der Befreiung sackte sie zusammen und starb noch nachträg­lich den Hungertod.

Außer diesen Sorgenkindern hatte ich noch zwei Lagerkinder ganz anderer Art, zwei Mä­dels aus der Slowakei, nicht vom Revier. Sie gehörten mit zu den ältesten Häftlingen und waren geladen mit Stärke und Mut und Lebens­willen und gespeichert mit Güte und Hilfsbe­reitschaft. Sie versagten nie. Einmal war nachts in ihrem Block Feuer ausgebrochen. Heimlich holten sie Wasser, schleppten die Kübel mit Sand heran und schütteten mit ein paar Kameradinnen die Brandstelle zu und verdeckten noch die Wand bis über die ange­sengten Planken und bewahrten dadurch, ab­gesehen von der Gefahr durch einen Brand, die Häftlinge vor der Strafe durch die SS. Sie machten mich zu ihrer Mutter im Lager, sorg­ten wie Kinder für mich und haben mir mit Kleidung und Essen wacker geholfen. Abend für Abend, wenn die Blocksperre es nicht ver­bot, saßen wir zusammen in der Blockältesten­stube und taten so, als ob wir lebend von Auschwitz herauskämen (was keiner von uns glaubte), schmiedeten Zukunftspläne und dis­kutierten über das eine große Problem: Wie wird ein zweites Auschwitz verhütet? Ob ich sie wiedertreffe oder nicht, die beiden werden daran mitarbeiten.

Nur so verworrene Verhältnisse im Lager be­rechtigen dazu, von den Kindern zu sprechen, wenn man von der Mutter und der Großmutter erzählen will. Die Mutter war 14 ½ Jahre alt. Bei den regelmäßigen Transporten von There­sienstadt nach Auschwitz war sie durch ein nie enträtseltes Wunder den Augen des Lager­arztes und der Gaskammer entschlüpft und mit den zur Arbeit ausgesuchten Frauen ins FKL geschickt worden. Als diese Frauen, auch ihre Mutter und ihre Schwester, weiter nach einem anderen Arbeitslager verladen wurden, blieb sie allein zurück. Da man nicht recht wußte wohin mit ihr, wurde sie ins Re­vier gesteckt, gerade als der Lagerarzt zur Selektion angesagt war. Etwas anderes war von dem Befehl, daß alle neuen Patienten für seine Visite auf dem Ofen (der als Bank dien­te) placiert werden mußten, nicht zu erwarten. Ausgerechnet in diesem Moment erschien die­ses schmächtige, blasse Kind, durchgefroren und am ganzen Leibe zitternd. Da die Aufnah­menummer in der Schreibstube festgelegt war, konnte man sie nicht unterschlagen. Mit einer heißen Wärmflasche auf dem Bauch, einem warmen Schluck Kaffee und 2 klatschenden Ohrfeigen (von mir) auf die Wangen, daß sie knallig rot strotzten, passierte sie den Lager­arzt anstandslos. Nach dem Gesetz der Dupli­zität fand sich drei Tage später ein gleich­altriges Kind ein, das auch nur durch eine Laune des Schicksals der Gaskammer vorenthalten war. Sie kam in dasselbe Bett; die bei­den gewöhnten sich aneinander und glichen sich wie Zwillinge an. Mich verwöhnten sie mit allerhand Liebesdiensten, Stiefelputzen, Knöpfeannähen. Bei einem solchen Anlaß ent­schlüpfte es mir: „Ihr sorgt wie eine Mutter für mich”, und siehe da, von jenem Moment ab erklärte sich die eine als meine Mutter und die andere als meine Großmutter. Und dabei blieb es. Im Dezember 1944, nachdem die Se­lektionen in Auschwitz aufgehört hatten, wur­den die Mutter und die Großmutter nach dem Kinderblock verlegt. Dort feierte die Großmut­ter ihren 15. Geburtstag. Von ihrem Brot und Spürchen Belag sparten sie sich beide eine ganze Woche lang so viel ab, daß sie mich einladen und mir einen bunten Teller mit ei­nem Wurstbrötchen und Käse servieren konn­ten, wohl die kostbarste Aufwartung, die mir je in meinem Leben geboten wurde.

Manch einer mag verächtlich über solche „Kin­dereien” lächeln und fragen, ob das unsere Sorgen im Konzentrationslager waren. Viel­leicht waren sie es. Es gab viele solcher Fa­milien und jeder hatte die seine. Dahinter steckte nicht eine oberflächliche Spielerei sondern ein ernsthafter Zusammenhalt von Menschen, die ihr grausiges Schicksal anein­anderkoppelten und sich füreinander verant­wortlich fühlten. Daß sich Menschen fanden, die füreinander eintraten, unter eigener Le­bensgefahr, schon durch das Stückchen Brot, das sie sich selber entzogen, und eine Fami­lie bildeten,die fester zusammenhielt als man­che natürliche, war etwas Köstliches; nicht nur für die, die überlebt haben, sondern auch für die vielen, die elendiglich zugrundegegangen sind und denen die Freundschaft und die Liebe ihrer Kameraaen das Sterben leichter gemacht hat.

Mutterschaft

Nach den Richtlinien der SS brachte jedes jüdische Kind automatisch seiner Mutter den Tod.

Das Lager nahm, abgesehen von einzelnen Zufällen, keine Judenkinder an. Sie gingen sofort nach der Ankunft lebend oder gegast ins Feuer und nicht die Kinder allein, son­dern mit ihnen die Mutter. Jede Frau, die ein Kind bei sich hatte, auch wenn es nicht ihr eigenes war, sondern ein fremdes, das sie zu­fällig führte, war dem Tode geweiht. Alte ge­wiegte Häftlinge versuchten an der Rampe beim Zug oft, die Kinder von den Müttern zu den Großmüttern hinüberzuschieben, die durch ihr Alter ohnedies dem Gastod verfallen wa­ren. Es war herzzerreißend, wenn die Mütter, die sich von den Kindern nicht trennen woll­ten, sie wieder an sich rissen, unwissend und oft auch wissend um ihren gemeinsamen Tod oder wenn die Männer in den ersten Tagen nach der Ankunft verfänglich nach Frau und Kindern fragten: Sollte man ihnen, den Neu­lingen, ins Gesicht schreien, daß der Spiel­platz ihrer Kinder nicht mehr auf dieser Erde war?

Schwangere Frauen kamen des öfteren ins La­ger, Frauen aus Mischehen, die im allgemei­nen von der Gaskammer verschont blieben, und Volljüdinnen, die keine Kinder hatten und deren Schwangerschaft bei der Ankunft übersehen worden war. Bei einem Teil von ihnen wurde der künstliche Abort eingeleitet, noch im 4. und 5. Monat ohne Rücksicht da­rauf, daß der Eingriff zu diesem Zeitpunkt ei­nen ärztlichen Kunstfehler darstellt, und daß die künstliche Schwangerschaftsunterbrechung bei gesunden Frauen in der ganzen Welt ver­pönt ist.

Die jüdischen Schwangeren, die dem Gastod bei der Ankunft entgangen waren und bei denen keine Abtreibung durchgeführt wurde, kamen zur Entbindung. Sie wurden genau wie die an­deren Häftlingsfrauen, die Russinnen, Polin­nen, Slowakinnen, in den letzten Wochen auf den Schwangerenblock verlegt (bekamen je­doch keine Essenzulage) und bei Beginn der Geburt auf die Gebärabteilung gebracht. Dort wurden sie, soweit das im Konzentrationsla­germöglich war, „ärztlich und pflegerisch” be­treut und die Entbindung ging wie üblich von- statten. Sobald jedoch das junge Wesen das Licht der Welt erblickt hatte, geschah das Unglaubliche: Das jüdische Kind war dem Tod verfallen und mit ihm die Mutter. Binnen einer Woche gingen beide ins Gas.

Das ärztliche Reglement schreibt vor, daß bei einer Geburt, wenn Mutter und Kind in Gefahr sind, das Leben der Mutter an erster Stelle zu retten ist. So haben wir Häftlingsärzte es auch in diesen Fällen heimlich gehandhabt. Das Kind mußte sterben, damit das Leben der Mutter erhalten bliebe. (Manche Frauen sind über den Schock durch den Tod ihres neuge­borenen Kindes nie hinweggekommen und ha­ben es sich und uns nicht verziehen.) Alles Gift im Lager wurde von uns für diesen Zweck gespeichert und reichte nicht aus. Es war er­staunlich, was diese Neugeborenen aushiel­ten. Große Mengen von Gift überschliefen sie zuweilen ohne sichtliche Schädigung. Man brauchte immer mehr für sie.

Einmal war kein Gift vorhanden. Da drossel­te die eigene Mutter ihr neugeborenes Kind. Es war nicht tot. Sie war eine Polin, eine gu­te Mutter, die ihre Kinder über alles liebte. Sie hatte zu Hause drei kleine Kinder ver­steckt, für die sie leben wollte.

Zwischen den Sphären

Ich hatte bis zum späten Abend gearbeitet und saß vor dem Block. Es war ein klarer Sternenhimmel, edel wie oft in September­nächten, mit ungezählten glitzernden Pünkt­chen am Firmament und vielen eilig dahinsau­senden Sternschnuppen. Der Horizont rundete sich in unübersehbarer Weite. Vor mir brannte der Kamin, die gelbrote Riesenflamme aus Menschenleibern. Hinter mir zeichneten sich weit in der Ferne schattenhaft die Konturen von Häusern und eine Kirchturmspitze. Rings­herum war Schweigen und Ruhe, nur die wo­genden und hüpfenden Feuerzangen und die Sternschnuppen, die im All umhersprangen und wieder entschwanden. Ich bebte. Was war wirklich? Die umdrahtete Hölle hier, wo die Menschen im Feuer brodeln, mit den schlafen­den Blocks daneben, das Firmament da oben, wo die Sterne tanzen, vielleicht jene Welt da­hinten außerhalb des Drahtes, wo freie Men­schen wohnen und der Alltag seinen geregel­ten Gang geht? Gibt es überhaupt noch jene andere Welt, wo man sich in das köstliche Bett schmiegt, friedlich am gedeckten Tisch sitzt mit Menschen, die man liebt, wo man auf der Wiese liegt, wo Vögel singen und wo Mozart ertönt? Oder war das alles nur ein Mär­chen, der beseligende Traum einer Nacht, der nie wiederkehrt? Wo ist das wahre Sein? Nicht da draußen, denn diese Welt besteht nicht mehr für uns und unsere Menschen sind gegan­gen. Nicht im Lager, beim Bratofen der Hölle, denn auch diese Feuer werden verlöschen. Nichts bleibt. Nur die Sterne wandeln die glei­che Bahn und zeichnen die Spur der Ewigkeit. Und wir sind, im Bodenlosen schwebend und doch mit dem großen starken Glauben an das ewige Sein im Herzen,

Mala, die Belgierin

Mala, eine bildhübsche belgische Jüdin von 20 Jahren, war mit einem Polen geflüchtet und entkommen. Wochen später wurden sie beim Übergang über die slowakische Grenze erkannt, gefaßt und nach Auschwitz zurück­gebracht. Beide wurden sie zum Tod durch den Strang verurteilt. Der Pole wurde an ei­nem Oktobertag im Männerlager öffentlich ge­hängt. Mala wurde zu der Prozedur ins Frauen­konzentrationslager gebracht. Alle kannten sie. Sie war erst seit Anfang 1943 in Ausch­witz und hatte in der „Politischen” gearbei­tet, der höchsten Position, die ein Häftling erreichen konnte. Alle mochten sie gern, sogar die SS –Leute hatten Gefallen an ihr ge­funden. Sie wurde unter SS –Bewachung ins Lager geführt, die Arme auf dem Rücken ge­bunden. Acht Tage war sie im Strafbunker in Auschwitz gewesen und sah müde und ange­griffen aus. Trotzdem schien sie heiter. SS-Männer geleiteten sie auf den Appellplatz, wo Tausende von Häftlingen als Zuschauer zur Hinrichtung befohlen waren. Der Komman­dant hielt eine wohlgesetzte Rede und sagte etwas von dem guten Schutz der Häftlinge, die sich in Gehorsam fügten, und der Strafe der Aufständigen. Währenddessen nestelte Mala ihre Hände los, zog blitzschnell aus ei­nem kleinen kaum sichtbaren Taschenschlitz eine Rasierklinge heraus, und bevor die her­umstehenden SS-Männer sie hindern konnten, schnitt sie sich beide Pulsadern auf. Mit der blutenden Rechten schlug sie dem Komman­danten ins Gesicht und rief ihm zu, so daß es alle hören konnten: „Ich werde sterben und ich sterbe gern. Aber mein Volk wird leben und ihr werdet untergehen.“

Ihre Wunden wurden nicht verbunden. Während das Blut von ihr strömte, wurde sie nach dem Krematorium geführt. Auf dem Wege brach sie ohnmächtig zusammen.

Andere sind still und leise gegangen und doch sind auch sie lebendig in uns. Von je­dem ist eine Geste geblieben, ein Gruß und eine Verheißung.

Ein Beinbruch

Den Reigen der Frauen in Auschwitz hatten tausend politisch verfemte Deutsche und ein Transport von Jüdinnen aus der Slowakei er­öffnet, von kräftigen Frauen, die dem Lande entstammten, mit der robusten Statur und der urwüchsigen Kraft derer, die gewohnt waren, dem Boden seine Früchte in harter Arbeit ab­zuringen. Mit Nerven aus Stahl, brettharten Muskeln und einer unerschöpflichen Vitalität hauten sie sich durch das Konzentrationsla­ger hindurch, zwischen Kugeln und Peitschen­hieben, durch Fieberschauer und sklavische Fron, durch nie gestillten Hunger und Durst, hinweg über Blut und Verwesung ihrer Lieben. Einige blieben am Leben und waren noch stark, im Mai 1943, als ich ihnen zum ersten Male begegnete, und noch im Herbst 1944 nach mehr als zwei Jahren im Konzentrations­lager. Eine von ihnen war Ilonka. Sie trug ei­ne Nummer 1100 auf ihrem linken Unterarm noch ohne das Dreieck, das Juden- und Ver­nichtungszeichen, das erst später eingeführt wurde.

Angefangen hatte Ilonka mit Außenarbeiten im Sumpf, in dem sie mit eitrigen Beulen am Bein bis zu den Knien watete, den Schmerz wie ein Fakir überwindend, die schmierigen Wunden nur notdürftig mit Lumpen umwickelt, ohne Verband, der Aufseherinnen und Lager­arzt die Wunden verraten und sie sofort zum Kamin gebracht hätte. Im zweiten Jahr war sie endlich zum „Stubendienst” aufgerückt, zur Gehilfin der Blockältesten, Sie hatte wie die paar andern Erstlingshäftlinge ein eigenes Lager und ausreichendes Essen und wurde von manchen beneidet. Neuankömmlinge, die das größere Stück Brot erspähten, übersahen leicht, was die andern schon auf dem Buckel hatten, und wetterten gegen die alteingeses­senen Häftlinge in der bevorzugten Position, Einige waren wirklich unter der Wucht der emp­fangenen Schläge versteinert; die leckenden Feuer hatten ihre Seele versengt, bis nichts blieb als das Tier, das leben und fressen woll­te, und Haß gegen Gott und die Menschen, auch gegen die im Lager. Bei vielen jedoch erwuchs aus dem eigenen Unglück das Mitleid für andere. Ilonka gehörte zu denen, die hal­fen, wo sie nur konnten. Vom Stubendienst wechselte sie bald zu anderer Arbeit, denn nichts war im Konzentrationslager, wo die Häftlinge durch stete Unruhe aufgewühlt wur­den, von Dauer. Sie wurde als Capo zur Auf­sicht der Jauchengrube bestellt. Die Arbeit brachte doppelte Essenration und war körper­lich leicht: Dort stehen und zusehen, wie müde, überhungerte Frauen aus allen Blocks die schweren stinkenden Kübel anschleppten, wie die Grube ausgeschöpft und in den Dung- wagen gefüllt wurde, den menschliche Gerippe mühsam über den holprigen Boden zogen. Frei­lich, der Boden um die Grube war durchtränkt mit den überfließenden und überschütteten Exkreten und verströmte einen ekelerregenden Geruch und die Luft war weithin verpestet von dem Gestank der Fäkalien. Ilonka stand mittendrin und tat ihren Dienst, den Vorzugsdienst.

Ende August hatte es viel geregnet und um das Jauchenloch starrte eine schlammig–urinige Fläche. Ilonka glitt in dem Matsch aus, gerade vor dem Rollwagen, der über ihren Un­terschenkel ging und den Knochen zersplitter­te. Auch das nahm sie ohne Klage auf sich; an Schmerzen war sie gewöhnt und der Gips saß gut. Aber dieses Mal mußte sie ins Re­vier. Die slowakischen Kameradinnen sorgten für sie, brachten ihr alles was zur Pflege ge­hörte, und kochten ihr jeden Tag ein beson­deres Gericht, Das Bein heilte gut und am 10. Oktober humpelte sie mit ihrem Gehgips schon wieder vor dem Krankenblock auf und ab. Am 11. Oktober untersuchte sie der Lager­arzt. Er fand, daß sie nicht arbeitsfähig war und ließ ihre Nummer notieren. Sie wußte Be­scheid. Am 14. Oktober 1944 ging sie ins Gas, nach mehr als zwei Jahren in Auschwitz, bei der letzten Selektion.

Und mit ihr starben neben vielen hundert die fünf Frauen aus Hindenburg. Sie waren eine Woche vorher aus dem Arbeitslager Hindenburg wegen Fleckfieberverdacht gekommen, fünf große, kräftige Frauen. Wer den unglückseli­gen Verdacht an sie gehängt hatte, wurde nie festgestellt. Sie lagen auf meiner Abteilung, vom ersten Tag an fieberfrei und kerngesund. Als ihre Nummern auf der Liste erschienen, bestürmte ich den Lagerarzt, die gesunden, starken Frauen zu entlassen. Er hat es nicht genehmigt.

Zwei Ungarinnen

Sie sind nicht erdacht, sondern haben leibhaf­tig im November 1944 auf dem Block 22 des FKL gelebt.

Gabbi war nach einer Furunkeloperation, einer unwesentlichen Angelegenheit, die man ein paar Monate vorher im Konzentrationslager nicht beachtet hätte, von der chirurgischen Abteilung auf die innere verlegt worden, weil sie sich nicht erholen wollte und im ganzen so ablehnend war. Ernstliche Krankheitssymp­tome fehlten, aber sie blieb unzugänglich für Pflege und Behandlung, kroch teilnahmslos unter die Decke und verweigerte das Essen. Bildhübsch, wohlgebaut, mit 27 Jahren Dr. phil. und Dr. jur., hatte sie in Budapest beruflich und ge­sellschaftlich ihren Triumphwagen ge­steuert und war von Eltern und Freunden ver­hätschelt worden. Sie lehnte es ab, in Ausch­witz Dreckerle zu spielen. Nach wenigen Ta­gen ging sie ein, nicht an Hunger oder Infekti­on, nicht durch Schläge oder Schikanen, son­dern an ihrer eigenen Willenlosigkeit und ih­rer Unfähigkeit sich anzupassen.

Das „Bett“ über ihr war Mirjam zugeteilt. Ei­ne flüchtige Magenkolik hatte sie ins Revier hereingebracht und hätte sie ebensoschnell wieder hinausbefördert, wenn sie sich nicht als – sit venia verbo – Scheißcapo etabliert hätte. Was dieses Amt auf sich hatte, läßt sich mit den Worten einer zivilisierten Sprache nicht veranschaulichen. Durchfall, die Lagerkrank­heit, hinterließ ihre Spuren überall, in den Betten, in den Gängen und erst recht, wo die Patienten bei den Kübeln anstanden und nicht warten konnten, und wo der Boden eine wo­gende Kloake war. In dieser Umgebung arbei­tete Mirjam freiwillig. Sie legte ihre Energie ins Zeug, schuftete von früh um 4 Uhr bis abends um 9 Uhr, schleppte das Wasser aus dem weit entfernten Waschraum an, taute es mit einem brennenden Holzscheit auf, wenn es ihr unter den Händen gefror, und mistete den Augiasstall unermüdlich aus. Dabei war sie immer ruhig und ausgeglichen und in den 6 Sprachen, die sie beherrschte, zu allen aus­gesucht höflich. Was keine Gewalt und keine Drohung erreicht hatte, gelang ihrer Freund­lichkeit und Anpassungsfähigkeit: Das Ört­chen kam einigermaßen in Ordnung. Als offizielle Bezahlung erhielt sie eine zweite La­gersuppe und eine doppelte Brotration, die sie vor dem Verhungern bewahrt und ihr das Leben gerettet haben.

Hinterm Draht

Die elektrischen Drähte umzingelten Birkenau nicht nur von außen, sondern dichteten auch die einzelnen Teillager, in die es gegliedert war, gegeneinander ab. Ganz Birkenau war ein kunstvolles, engverzweigtes Drahtge­spinst, in das die Häftlinge hineingestopft waren. An vieles im Lager hat man sich ge­wöhnt, nie an den elektrischen Draht.

Die Abschließung im Kerker, wo feste, undurchsichtige Wände den Häftling umfangen, scheint massiver als durch den Draht, aber sie wird hie und da durchbrochen, durch gele­gentliche Besuchsmöglichkeit und durch die Schreiberlaubnis. Auch in Birkenau durften die „Reichsdeutschen” und die nicht-jüdischen Häftlinge ein bis zweimal im Monat schreiben (und Pakete empfangen), und wenn auch diese Briefe, streng zensiert, nur stereotype Phra­sen über ein und dasselbe Thema waren, wie gut es dem Häftling in Auschwitz erging, so bedeuteten sie doch ein Lebenszeichen für die Lieben draußen. Für Juden gab es keine Verbindung mit der übrigen Welt. Ob einer krank oder gesund war, ob noch fest auf den Beinen stehend oder der Vernichtung nahe oder ob er schon gegangen: Keine Kunde durch­schlüpfte den Draht. Wir waren für die Welt draußen tot und verschollen. Daran änderten auch die paar Karten nichts, die von einzel­nen Juden auf Anordnung der „Politischen” mit vorgeschriebenem Text abgeschickt wur­den. Am 13. Juli 1943 sandte ich auf Befehl eine solche Karte nach Berlin, Noch mitten im Fleckfieber, benommen, konnte ich kaum die Feder dirigieren. So kritzelte ich den an­gesagten Text zusammen und berichtete von meinem Wohlergehen und von den Schönheiten in Birkenau im Kreis Neurin, wie die offiziel­le Absenderadresse lautete. Daß Birkenau zu Auschwitz gehörte und ein Konzentrationsla­ger war, wurde unterschlagen. Später, als Bir­kenau hinreichend berüchtigt war, mußten die ungarischen Juden dort ihre Post von Walsee in Bayern datieren. Wir haben nie erfahren, was mit den Karten geschehen ist und sind den Verdacht nicht losgeworden, daß sie als Testimonium vitae und Täuschungsmanöver für die nachfolgenden Transporte dienten.

Wenn man so hermetisch von der Welt abge­schlossen ist, spürt man erst, wie sehr unser ganzes Leben und unser Lebensinhalt auf die­se Welt abgestimmt ist. Unser Sein gewinnt erst Ziel und Sinn in Beziehung zu ihr. Oft habe ich mit einer Anwandlung von Neid an jenen Bischof im Käfig während der französi­schen Revolution gedacht. Zum Tode verur­teilt, wurde er in einem geräumigen Käfig hoch oben an der Decke des Gerichtssaales aufge­hängt. Was er zum Essen und Trinken brauchte, wurde ihm hochgeseilt, so reichlich, daß er bei der erzwungenen Unbeweglichkeit unför­mig dick wurde. Er benutzte die Zeit in sei­nem Gefängnis, um ein historisch-philoso­phisches Werk zu schreiben und hinterließ es seinen Freunden als sein geistiges Erbe. Von uns drang durch das Drahtnetz kein Gruß mehr nach außen, kein Abschiedswort und kein Ver­mächtnis von dem, was angesichts des Todes in uns erstand.

So unbedingt und unweigerlich wir von der Welt abgeschlossen waren, so gegenwärtig war sie uns dauernd durch den Draht hindurch. Durch die elektrischen Drähte, die, in Ab­ständen von 20 cm gespannt, mehr als drei Meter in die Höhe reichten, zeigte sich bei jedem Atemzug die Freiheit. Dort grünten die Wiesen, dort lockte der Wald, hundert Schritte entfernt und doch unerreichbar wie der Himmel. Im Süden winkten die Berge; ein oder zwei Tagemärsche würden auf ihre Gipfel führen, Vogel konnten sich zu ihnen schwingen – kein Vogel, kein Schmetterling, keine Ameise, kein Regenwurm ward je in Birkenau gesehen – die Flugzeuge flogen ihnen entgegen, aber für die Häftlinge in Birkenau führt kein Pfad zu ih­nen. Sie leben auf einem anderen Planeten. Alle Sehnsucht prallt ab am unerbittlichen Draht. Er zerschneidet jedes Bild mit harten, horizontalen Linien. Jeder Baum, den wir se­hen, trägt die eisernen Kerben um seinen Stamm, und selbst der Sonnenball, der unten am Horizont verschwindet, ist zerfetzt von den Stacheln des Drahtes.

Auch die Menschen nebenan im anderen La­ger sind Figuren hinter dem Draht. Sie sind nahe und doch auf einer isolierten Insel wie wir. Die engsten Familienbande durchsägt der Draht. Geschwister, Eheleute hausen in an­stoßenden Baracken und dürfen sich nicht sprechen; junge, lebensgierige Menschen, die ihren Pakt mit dem Tode Schon unterzeichnet haben, sind nebeneinander geschachtelt und dürfen sich nicht lieben, Alles trennt der mit Hochspannung geladene Draht. Starkstromver­letzungen mit kleinen Wunden und leichten Schocks, Zerreißungen und ausgedehnte Ver­brennungen waren an der Tagesordnung. Zu­dem war der Draht gespickt mit Wachttürmen, wo die SS mit scharfen Augen jede Bewegung der Häftlinge kontrollierte, und in Abständen von wenigen Metern standen die Posten, die über seine Unberührtheit wachten. Sobald ei­ner einen verdächtigen Schritt machte oder dem Draht zu nahe kam, wurde auf ihn ge­schossen, auch auf Kinder, die sich in der Nähe des Drahtes tummelten. Einmal spielten zwei dumme Zigeunerbuben am Draht. Der ei­ne, ein fünfjähriges Bübchen, erhielt einen Bauchschuß, an dem er starb, dem anderen, einem achtjährigen Jungen, mußte die rechte Hand amputiert werden.

Trotz aller Gefahren konnten die Häftlinge nicht vom Draht lassen. Männer und ihre Frau­en verhandelten über den Draht, Bruder und Schwester, Freunde und Freundinnen. Über den Draht flogen im unbewachten Bruchteil einer Sekunde die Gewinnste der Leute vom Canadakommando am Zug, die sie nicht mit ins Lager bringen konnten, eine wollene Decke, ein Paar Schuhe, ein Stück Speck. Dort wurden Weißbrot und Medikamente aus dem Krankenbau an die Arbeitskommandos verscha­chert gegen das, was sie von ihrem Arbeits­platz zurückgebracht hatten, ein Fetzen Stoff, ein unreifer Apfel vom Feld. Durch den Draht wurden Liebesbriefe hindurchgeschmuggelt, stammelnde Brocken verhaltener Glut, die den Tod für den bedeuteten, der dabei erwischt wurde und durch den Draht, mitunter über drei Lager hinweg, sandten Familienangehörige einander unter Lebensgefahr ihr Stückchen Brot, das sie selber nicht entbehren konnten. Als Zuschauer hinterm Draht sahen wir die Weihnachtsfeier im Männerkrankenbau. Im De­zember 1944, als man die Russen in der Nähe wußte, war man im Kommando erstaunlich locker geworden. Ärzte und Pfleger durften mit einer Jazzkapelle zum Tanz aufspielen. Die Vorführung war im Freien, auf einem Rasen­platz neben dem Draht. Auf der anderen Seite des Drahtes drängelten sich die Frauen, schrien Bravo und klatschten Beifall. Das Programm war gut, nichts war verwehrt, kein Posten schoß dazwischen; aber viel­leicht ha­ben wir, eingegittert wie wilde Tiere, nie stärker empfunden, was es heißt: Hinterm Draht.

Nur ein Versöhnendes hatte der Draht. Wenn es nicht weiterging, er würde erlösen. Das geflügelte Wort im Lager: „Ich gehe an den Draht”, war keine bloße Redensart.

Fünfter Teil

Das Vordringen der russischen Front gegen die oberschlesischen Industriezentren blieb uns auch im Konzentrationslager Birkenau nicht verborgen. Wir hörten, daß die Russen auf Kattowitz und Tarnow zustürmten, Städte, die kei­ne 100 km von Auschwitz entfernt waren. Wir beobachteten die zahlreichen russischen Flie­gerstaffeln, die über unseren Häuptern nach Deutschland zogen, und mit einem Gefühl von Glückseligkeit verfolgten wir in den ersten Januartagen 1945 die einzelnen Phasen einer Luftschlacht in Richtung Tarnow, in der die Russen Sieger blieben. Wir sahen, wie die Bom­ben auf Auschwitz niedersausten, wie Feuer­kegel und Rauchschwaden dort in die Höhe stiegen. Die Bomben hatten, wie wir am Abend erfuhren, die Häftlingsbaracken in dem ganzen gebiet verschont und mit haargenauer Treffsi­cherheit die SS –Lazarette getroffen und in Grund und Boden zerschmettert. Damals ge­schah eines jener kleinen Wunder: Alle SS-Leute in dem Gebäude wurden getötet, die Häftlinge jedoch, die dort arbeiteten, waren, bis auf einen kleinen Teil, gerettet, weil man ihnen den Zugang zu den Luftschutzkellern ver­wehrt und sie aufs freie Feld hinausgejagt hat­te. Von Anfang Januar ab genossen wir – auch mit Freude – das allabendliche Lichtverbot im Lager, das uns bestätigte, daß wir in Gefahrenzone I gerückt waren. Das einzige, was wir nicht wußten, war, wie das Abenteuer für uns im Konzentrationslager ausgehen würde. Oft war davon gemunkelt worden, daß das Lager im letzten Moment von den Deutschen mit Bom­ben belegt würde, um alle Spuren zu verwischen und alle Zeugen zu vernichten; dieses Gerücht hatte viel Wahrscheinlichkeit für sich. Kein Wunder, daß wir alle mit ungeheurer Spannung geladen waren.

Am 17. Januar schien die Welt völlig aus den Angeln zu gehen. Die Lagerleitung lud die Häftlinge von Birkenau zum Kabarett nach Breszinke ein. Wir trauten unseren Ohren nicht. In den letzten Wochen hatte man wohl etwas von Kinovorstellungen für die Häftlinge im Männer­lager in Auschwitz gehört, aber Kabarett in Breszinke war doch noch etwas anderes. Dort, wo noch zwei Monate vorher das grausigste Schauspiel der Welt mit einem Feuerwerk von Menschenleibern aufgeführt worden war, wurde jetzt Tanz, Musik und Modenschau geboten. Wer von den Häftlingen wollte, durfte gehen, in geschlossenem Zug unter Aufsicht der SS. (Seltsamerweise kamen wir nicht auf die Idee, daß man uns dort vergasen könnte.)

Die nächste Überraschung blieb nicht lange aus. Wir im Krankenbau wurden nachts um 1 Uhr durch einen Eilkurier geweckt, der mit der größ­ten Hast die Karteikarten und Krankenbretter aller Patienten anforderte. An sich war das nichts Auffälliges, denn bei jedem Transport der Kranken in ein anderes Lager (bisher nie jüdischer) waren die Krankenblätter wohlge­ordnet mitgeschickt worden und die Lagerärzte haben uns weidlich zugesetzt, daß wir sie dem nächsten Revier ausführlich und tadellos ab­lieferten. Dieses Mal wurden die Krankenblät­ter jedoch im Gegensatz zu sonst nicht gesichtet sondern zerknüllt und zerknittert auf einen Haufen geworfen und eiligst in einen Sack ge­stopft, sichtlich mit der Absicht, alle Belege über die Häftlinge und Kranken von Birkenau schleunigst zu vernichten. (Acht Wochen vor­her waren die Bücher der Schreibstube abge­holt worden, wie man sagte, aus Papiermangel zum Einstampfen.) Dieser kleine Zwischenfall, der uns in der Vermutung bestärkte, daß Birke­nau vom Erdboden verschwinden würde, hat vielen das Leben gekostet.

An den 18. Januar 1945, einen Donnerstag, werde ich denken, auch wenn ich tausend Jahre alt werden würde. Nie werde ich jene Nacht vergessen, in der wir hin- und hergebeutelt wurden zwischen der Aussicht, jetzt am Schluß, nachdem wir all die Jahre im Konzentrations­lager überstanden hatten, noch ausgelöscht zu werden und zwischen der Hoffnung, auf Trans“ zu gehen und lebend aus Auschwitz herauszukommen, Wir improvisierten aus alten Fetzen Rucksäcke und Umhängetaschen, suchten un­sere Habseligkeiten zusammen und packten sinnlos ein und aus. Dazwischen mußten wir die Patienten beruhigen, die ans Bett gefesselt und von Panik ergriffen waren, wir, die wir sel­ber mit unserm Leben Fangball spielten. Und dann lag da ein Mensch, an dem ich hing, schwerkrank in seiner Baracke. Er konnte bei einem Abmarsch nicht mit uns wandern. Sollte ich gehen oder bleiben, wenn die andern zie­hen würden? Ihn in der sicheren Gefahr zu wis­sen und im Stich zu lassen, schien Verrat. Aber hatte ein Mensch, der fast 2 Jahre Auschwitz durchlebt hatte, das Recht, sein Leben aus Zuneigung zu riskieren, wenn er doch nicht helfen konnte? Hatte ich nicht die Pflicht, al­les Persönliche hintanzustellen und zu gehen? Das alles wirbelte in jener Nacht durcheinan­der.

Die offizielle Weisung am Morgen lautete: „Transport.” Alle kranken Häftlinge sollten mitgenommen werden, soweit sie fähig waren, bis Auschwitz, einen Weg von 3 km, zu laufen. So hieß es zuerst. Später war die Rede von ei­nem Marsch von 15 km. Keine Selektion in all den Jahren war aufregender gewesen als die Auswahl der Patienten für den Marsch, die dieses Mal in unsern Händen lag. Jetzt, wo der Weg offenlag, sollten wir Menschen zurücklas­sen, die wir liebten, Kranke, die wir seit Mo­naten betreut und mit größter Mühe am Leben erhalten hatten. Noch standen wir unter dem Eindruck des nächtlichen Intermezzos, und durch die dünne Laboratoriumswand hatten Po­linnen zufällig erlauscht, wie der Lagerarzt sich mit seinem Gefolge darüber unterhielt, ob für Tausende von Toten vorgesorgt sei. Für uns war das Schicksal der Letzten in Birkenau besiegelt.

Immer wieder wurden die Patienten geprüft, ob sie gehen konnten, in die Betten zurückge­schickt, wieder herausgeholt und ein neuer Versuch gemacht. Wer nicht umfiel und mitzie­hen wollte, wurde notdürftig mit Kleidung und Schuhen, oft nur mit Holzschuhen ausgestattet. Viele kehrten nach den ersten Schritten auf der Lagerstraße enttäuscht, verzweifelt, in den Block zurück. Eine Kollegin, die-noch an den Folgen des Bauchtyphus litt, wollten wir auf der Bahre mitnehmen. Der Lagerarzt verbot es und sie mußte zurückgebracht werden. Noch lange hinterher peinigte mich der Abschied, wie sie uns in Erwartung des sicheren Todes traurig nachgeblickt hatte.

Viele, viele Male wurde zum Appell angetreten und zum Abmarsch geblasen, viele Male um­sonst. Wir kamen an jenem Tag nicht zum Sit­zen und nicht dazu, einen Bissen zu essen. Endlich abends um 5 Uhr – die Sterne blinkten schon – startete unsere Gruppe. Es war kein Traum. Wir, die wir es nie für möglich gehalten hatten, aus dem Konzentrationslager Ausch­witz herauszukommen, verließen Birkenau le­bend,

Viele Monate später erfuhren wir, daß Ausch­witz und Birkenau von den abziehenden Deut­schen geräumt und beinahe unbeschädigt ge­blieben war, Die Häftlinge, die wir blutenden Herzens zurückgelassen hatten, wurden schon am 27. Januar 1945 von den Russen befreit, viel früher als alle anderen.

Wanderung durch den Schnee

Eine kluge Frau sagte einmal: „Alle Wünsche erfüllen sich, aber nicht zur rechten Zeit.“ Ich hatte mir immer eine Mondscheinpartie durch die Schneelandschaft gewünscht, aber ich hatte sie gern unter anderen Umständen gemacht, und sie war nicht so, wie ich sie mir vorge­stellt hatte.

Nachdem sich die Pforten von Birkenau hinter uns geschlossen hatten, ging es nach Ausch­witz, fast eine Stunde lang. So lange brauchten wir für die drei Kilometer, denn wir waren schwer bepackt, mit den Decken, die wir uns umgeschnallt hatten, mit Brot, das wir eilig zusammengerafft und aus den Magazinen her­ausgeholt hatten und mit unserer dürftigen Ha­be, die auf dem Buckel schwerer wog als in der Stunde des Gebrauchs. Viele von uns, die nach der Ankunft vom Zug aus sofort nach Bir­kenau weitergeschickt oder direkt bis Birkenau expediert worden waren, sahen Auschwitz an jenem Tag zum ersten Mal. Es mutet wie ein Treppenwitz an, daß ich diesen Ort, bei dessen Namensnennung mir noch heute das Blut in den Adern stockt, wie ein faszinierendes Bühnen­bild in Erinnerung habe. Vielleicht mag das Gefühl, daß wir trotz der ungünstigen Aussich­ten lebend aus dem Konzentrationslager heraus­gekommen waren und den Ort für immer verlas­sen würden, vielleicht mag die neu keimende Hoffnung auf Befreiung (die so wenig am Plat­ze war), den letzten Eindruck verklärt haben, oder Auschwitz war in jener Nacht wirklich be­rückend schon. Der Mond überstrahlte alles mit gleißendem Licht. Die hohen Steinhäuser, die uns nach den flachen Baracken riesenhaft er­schienen, ragten übermächtig gen Himmel, durchschnitten mit ihren Dächern in scharfen Kanten den Horizont und hoben sich wuchtig von der weiten Schneelandschaft ab, die im Mondschein magisch glitzerte. Unten im Schat­ten zwischen den bläulichen Häuserwänden schlängelte sich der enge Weg, beiderseits be­grenzt vom Draht, der die Häuser umschloß und uns nicht mehr galt. Die gespenstisch schrei­tenden Posten, die am Draht auf Und ab mar­schierten, bewachten uns nicht mehr und schie­nen wie wesenlose Figuren, die aus Spielerei in ein Bild gestreut waren. Dazwischen wälzte sich der Zug der Tausende von Menschen ganz langsam durch die Kehren, nicht wie einst hin zu den Gaskammern, sondern von ihnen wegzie­hend, ein endloser Zug von Menschen, die ka­men und gingen wie Statisten, die auf einer Drehbühne immer wieder neu erscheinen. Es dauerte mehr als zwei Stunden, bis die Men­schenmassen, an die Zehntausend, sich durch die schmalen Pfade hindurchgezwängt hatten und bis die von der SS freundlich angebotenen Fleischbüchsen, eine Büchse für zwei Perso­nen, verteilt waren. Dann traten wir unsere Wanderung auf der Landstraße an. Erst jetzt, nachdem wir in Ausch­witz weder auf Leichen­autos verladen noch erschossen worden waren, fiel unsere geheime Angst ganz von uns ab und wir atmeten endgültig beruhigt auf.

Es wurde wirklich eine Mondscheinpartie im Schnee. Der klare Sternenhimmel leuchtete über uns, der Mond erstrahlte in voller Größe, der Schnee schmiegte sich als großer samtener Teppich über die Fluren und Wiesen, die Wäl­der schimmerten in blendendem Weiß, und auf den Zweigen glitzerten die Filigranmuster der Eiskristalle. Und hoch lag der Schnee auf un­serem Weg und knirschte bei jedem Schritt un­ter unseren Füßen. Wir marschierten die ganze Nacht hindurch und genossen zuerst das Wan­dern in der freien Natur mit der ganzen Wonne der jahrelang gefangen Gewesenen. Der oder jener, der seine Kräfte überschätzt hatte und müde wur­de, setzte sich in den Schnee, um et­was auszuruhen und später nachzufolgen, oder um gemächlich nach Auschwitz zurückzukehren. Nur die vielen Posten an unserer Seite, bei je­der zehnten Reihe rechts und links ein Posten, trübten unser Freiheitsempfinden.

Am Morgen ging hinter den Beskiden die Sonne auf und noch immer zogen wir weiter durch den Schnee, nicht mehr so vergnügt, schon müde und hungrig und auf eine Bleibe hoffend. Aber immer weiter führte der Weg bergauf, bergab, und, wie wir am Stand der Sonne sahen, gen Süden, gen Westen, gen Norden, durch den tie­fen, weichen Schnee, ohne Rast, ohne Pause, ohne Ende: nichts als Schneelandschaft und – dazwischen Tote. Sie lagen am Straßenrand, an der Böschung des Grabens und an den Hügeln, die der Schnee getürmt hatte, mit blutenden Kopfwunden, Männer und Frauen, in Zivilklei­dern, in blaugestreiften Häftlingskleidern, mit ihrem Sack und Pack und jeder mit einer Num­mer. Bei den ersten stutzten wir, wie sie hier verunglückt sein mochten, aber ihrer wurden mehr und immer mehr, und schließlich säumten sie im Abstand von wenigen Metern die Straße. Allmählich, je länger wir trabten und je schwe­rer wir unsere müden Glieder schleppten, be­griffen wir, daß dies Menschen von Auschwitz waren, unsere Vorposten, deren Kräfte nachge­lassen hatten und die hier liegengeblieben wa­ren. Schon fingen unsere eigenen Reihen an sich zu lichten, und da und dort knallte der verhängnisvolle Schuß. Wer nicht weiterkonnte, wurde erschossen, einmal war es die eine von einem Zwillingspaar, die die Schwester trotz aller Anstrengungen nicht mehr vorwärts bringen konnte, ein anderes Mal die Mutter vor den Au­gen der Tochter. Das also war das Ende. Dafür hatten wir uns die langen Jahre durch Ausch­witz durchgequält. Und immer noch stapften wir durch den Schnee, der am Wegrand rot ge­sprenkelt war mit Blut.

Vor und zurück führte der Weg im Kreis herum. Wir hatten schon mehr als 50 km durchmessen, als wir am Mittag des 19. Januar den Ort Pless passierten, wo sich lange Reihen von Wagen mit unordentlich zusammengewürfeltem Gut, mit Rindvieh und Heu stauten und die Menschen hastig den Ort verließen. Vorbei ging es an dem durch seine Naturdenkmäler berühmten Park der Fürsten von Pless, dem wir kaum ei­nen flüchtigen Blick durch die Torgitter gönn­ten, bis zum freien Feld hinter der Stadt, wo wir zu kurzer Rast lagerten. Bevor wir einen Happen Brot hinunterschlingen und eine Hand­voll Schnee als Labsal für den vertrockneten Gaumen schlürfen konnten, drängte die uner­bittliche SS zum Aufbruch und trieb uns eilig vorwärts, die Nachhut erbarmungslos nieder­schießend. Nach 26stündiger ununterbrochener Wanderung machten wir abends in einem klei­nen Weiler halt, wo die Tausende von Menschen in ein paar Scheunen hineingestopft wurden. Eßbares war nicht vorhanden, denn die meisten hatten vor Erschöpfung alles, was sie mit sich trugen, unterwegs weggeworfen. (Wenn ich vom nächsten Konzentrationslager evakuiert werde, so will ich, wenn ich es habe, nur Zigaretten und Zucker, eine Zahnbürste und einen Kamm mitnehmen.)

Am nächsten Morgen wurde frühzeitig aufge­brochen. Müde, erschöpft, hungrig, durchgefro­ren – es waren 15 bis 20 Grad Kälte – mar­schierten wir weiter, vorwärts, zurück, ohne bestimmte Richtung. Einen langen, nicht en­denden Tag liefen wir um unser Leben. Gegen 7 Uhr erreichten wir Loslau, unter Aufbietung aller unserer Kräfte die letzten 10 km im Lauf­schritt rennend. Rund 100 km hatten wir, mit den ausgemergelten Individuen von Auschwitz, mit den vielen Kranken, mit 70 Kindern, durch Tä­ler und über Höhen, im tiefen Schnee watend, im Reißaus vor dem Tode bezwungen.

Und noch waren wir nicht am Ziel. Nach einer Kampfnacht der Vielzuvielen im Stroh um ein Plätzchen zum Sitzen und zum Warmen wurden wir am nächsten Morgen zum Bahnhof geführt und einwaggoniert, am 21. Januar, in offene Kohlenwagen. Wir wurden in Massen hineingepreßt, immer noch mehr und neue dazu. Die Türen wurden verrammelt. In jedem Waggon wa­ren 120 bis 130 Menschen zusammengepfercht, die in der Enge nicht stehen, geschweige denn sitzen konnten. Es war eisig. Die Kälte zerriß die Haut, zerfraß die Finger und die Zehen und bohrte sich mit der scharfen Luft in die Lun­gen und die Gedärme hinein. Der Hunger nagte bis ans Herz. Wir fristeten unsere Tage von den letzten Überbleibseln, die wir aus den Ta­schen zusammenklaubten, und löschten unseren Durst mit dem Schnee, den wir auf den schmut­zigen Wagenrändern zusammenkratzten. Wenn der Zug auf offener Strecke hielt, kletterten ein paar geschickte Mädels schnell über den Wagenrand, füllten ihre Eßgefäße mit Schnee und brachten ihn hoch. Um jede Handvoll entspann sich ein erbitterter Kampf, und nicht nur um den Schnee, sondern um das kleinste Plätzchen im Zug. Mag sein, daß das Zusammengeklumptsein uns vor dem Erfrieren bewahrt hat, aber nach den Strapazen des Marsches verbrauchte das ständige Sich–zur–Wehr–Setzen, um nicht erdrückt zu werden, die letzten Kräfte. Einer der SS–Leute, die uns bewachten, wur­de nach zwei Tagen ohnmächtig hinausgetra­gen, und in einem einzigen Wagen wurden sechs Menschen totgetrampelt. Sechs Tage und sechs Nächte ging die Fahrt, ohne daß wir ein Ende sahen. Wir wußten nicht, wie lange, nicht, wo­hin. Voller Aufregung verfolgten wir die einzel­nen Stationen: vorbei ging es an Breslau, an Frankfurt an der Oder – wo die Menschen in Massen den Bahnhof umlagerten und die Züge gerammelt voll nach Westen liefen, weiter nach Sagan, durch die östlichen Vororte von Berlin. Dann ging es nach Oranienburg und Fürstenberg und nach Ravensbrück, Dort, in einem der übelst berüchtigten Konzentrationslager, wo seit 1933 Hekatomben von Häftlingen elend zugrunde ge­gangen waren, wurden wir ausgeladen, nach ei­ner Reise, die wir mit so viel Hoffnung angetre­ten hatten.

Einen Tag lang lagen wir im schmutzigen Schnee an den Wällen der Lagerstraße, noch immer ohne einen Bissen zu essen oder einen Tropfen Wasser für den vertrockneten Gaumen, (Für ein Glas Wasser wurde eine goldene Kette, eine Uhr geboten.) Abends wurden die 8000 Menschen in eine Maschinenhalle gejagt, wo es für Ellbogentüchtige etwas Lagersuppe und ein paar Kartoffeln gab.

Ich glaube nicht, daß auf dem Marsch der Frau­en mehr als 15 bis 20% versagt haben; das ist eine böse Zahl, und doch wenig genug, wenn man sich die Menschen vorstellt, die von Auschwitz ausgezogen sind: neben alten trai­nierten Häftlingen viele ausgehungerte, ausge­mergelte Gestalten, Kranke und Kinder, die durch ein Wunder überlebt hatten.

Von Eulenspiegel, dem tollen Kauz, wird eine verrückte Episode erzählt. Eulenspiegel geht mit dem Leiter eines Krankenhauses eine hohe Wette ein, daß er binnen24 Stunden alle Patien­ten heilen werde, auch wenn sie noch so krank und seit langem bettlägerig wären. Dann geht er zu jedem Patienten und flüstert ihm ins Ohr: „Wer bei der Aufforderung, das Spital sofort zu verlassen, als letzter zurückbleibt, ist des To­des.” Am nächsten Morgen ruft er zum Verlas­sen des Hauses auf und alle Kranken eilen aus den Betten. Eulenspiegel gewinnt die Wette und zieht vergnügt von dannen.

Aus der Schnurre eines Narren ist blutiger Ernst geworden. Die Wanderung derer von Auschwitz hat gezeigt, was der menschliche Wille vermag, wenn er zum Äußersten entfacht wird.

Ekel

Nach einer schlaflosen Nacht im Getümmel der Maschinenhalle wurden die neu angekommenen Häftlinge auf die Blocks verteilt. Ein kleiner Teil wurde in Lagerblocks verlegt, viele wurden in Zelten untergebracht, bei 15 Grad unter Null, wo nur das dichte Zusammengepferchtsein sie vor dem Erfrieren bewahrte. Wir, rund 800 Menschen, kamen in den Strafblock von Ravens­brück. Dort hausten auf einem Raum, der höch­stens für 500 Menschen berechnet war, bereits 645 reichsdeutsche Strafgefangene. Mit ihnen zusammen brachten wir es auf die schöne Re­kordziffer von 1445.

Was im Strafblock von Ravensbrück zusammen­getrieben worden war, war grauenhaft – mit ei­ner einzigen Ausnahme, den Bibelforschern. Die Bibelforscher waren von den Nazis ins Konzentrationslager geschickt worden. Die, die wir im Strafblock von Ravensbrück antrafen, hatten ihre 6 bis 8 Lagerjahre auf dem Buckel; trotzdem waren sie ungebrochen und die Begei­sterung für ihren Glauben leuchtete ihnen aus den Augen. Noch im Lager hatten sie ihre Leh­ren gepredigt und Propagandazettel verteilt und waren dafür .in den Strafblock gekommen, der durch Posten und Lagerpolizei streng vom übrigen Lager abgeschlossen war. Die ande­ren Häftlinge waren asoziale Elemente, vorbe­strafte Dirnen, Zuchthäusler und Verbrecher jeder Art. Sie befriedigten ihre sadistischen Gelüste an uns, die wir tagsüber, vor Kälte bibbernd, viele Stunden im Januar im Hof stan­den und nicht einmal nachts ein Plätzchen zum Sitzen fanden. Bei dem Versuch, uns zu wa­schen oder unsere Notdurft zu verrichten, wur­den wir halbtot geschlagen.

Das allerschlimmste war die Essensverteilung. Zuerst wurden die „Reichsdeutschen“ abgefer­tigt und auf unsere Kosten gesättigt. Dann be­kamen wir unsere Suppe, aus denselben unge­waschenen Schüsseln, aus denen Typhuskranke und verlodderte, verdreckte und infizierte Häft­linge gegessen hatten, und in die sie ihre Kohl­rübenreste hineinspuckten. Immer wieder ging die Reihe der hundert Schüsseln herum, ungespült und verschmutzt, mit dem Abfall der Vor­gängerinnen, zu dem die halbe Kelle für die Nachfolgenden geschöpft wurde-. Und wir haben, mürbe und ohnmächtig vor Hunger, die Suppe voll Gier hinuntergeschlungen.

Warum ich diese widerliche Geschichte erzäh­le? Nicht, damit die andern auch das große Kotzen kriegen, sondern als ein Zeichen, wie tief wir gesunken waren. Im wirbelnden Toten­tanz vergißt man Haltung zu bewahren. Alle Hemmungen werden ausgelöscht. Es gibt noch andere Dinge, bei deren Erinnerung mich der Ekel packt, Dinge, die ich mir viel weniger verzeihen kann.

Auf jener Schneewanderung war ein Mädchen mitgezogen, das ich gerne leiden mochte. Sie war frisch aus dem Krankenbett gekommen, und der Weg ging über ihre schwachen Kräfte. Müh­selig schleppte sie sich weiter und zerrte sich an meinem Rucksack nach. Ich, selber bis zum Äußersten erschöpft und kaum imstande, mich aufrecht zu erhalten, habe es abgelehnt, sie zu schleifen. Das Mädchen, das noch die Eisen­bahnfahrt überstand und mit schwerem Hunger­ödem und einer eitrigen Mundentzündung in Ra­vensbrück ankam, wäre doch gestorben und dennoch —. Wenn es meine Schwester oder mein Geliebter gewesen wäre, hätte ich geholfen?

Die Befreiung

Man erwartet, daß die Befreiung das schönste Kapitel in der Geschichte des Konzentrations­lagers ist. Ich weiß, daß es das nicht ohne Ein­schränkung ist.

Seit Anfang April warteten wir stündlich auf die Befreiung und durchkosteten dieses Warten mit allen Höhen und Tiefen, und da jede Höhe mit vielen Tiefen erkauft werden muß, waren wir mehr unten als oben. Vieles sprach für eine Annäherung der Alliierten: die unzähligen ame­rikanischen und russischen Fliegergeschwader, die über dem Lager kreisten, die spannenden Luftkämpfe, die über unseren Köpfen ausgetra­gen wurden, und der dumpfe Kanonendonner, der schüchtern in der nächtlichen Stille anrollte. Aber so ging es durch Wochen, gleichmäßig, nicht anwachsend. Das kleine Städtchen Neu­stadt, wohin wir inzwischen transportiert wor­den waren, schien auf der europäischen Land­karte nicht eingezeichnet zu sein; es war, zwi­schen zwei Fronten eingekeilt, anscheinend von beiden übersehen worden und wir mit. Und selbst wenn man uns suchen würde – Rote–Kreuz–Pakete hatten uns am 12. April erreicht – würden die Deutschen wohl ihre Drohung wahr machen und uns zu guter Letzt mit Bom­ben belegen und das Lager dem Erdboden gleichmachen. (Was für ein Jammer: nach so viel Jahren der Qual jetzt am Schlüsse zugrun­de zu gehen.)

Das unbestimmte Warten zerfraß unsere letzten Nerven. Nie, während all der Jahre, als wir keinerlei Aussicht auf Rettung gehabt hatten, waren wir so ungeduldig gewesen. Alte einge­fleischte Häftlinge mit überkompensierter Wurschtigkeit wurden kribbelig und nervös. Wir schliefen nicht mehr, sondern horchten in die Nacht hinaus, lauschten auf jedes Geräusch und registrierten wie ein Oszillograph die lei­sesten Schwingungen und Vibrationen in der Umwelt. Aus Ahnungen und Nachtmären wurden Gerüchte und aus Gerüchten entwickelten sich Schimären, die in Dunst zerflossen und Hoff­nungen, die nach wenigen Stunden wie Plunder in sich zusammenfielen.

Am Montag, dem 30. April, verlautete, daß an das SS–Fliegerkorps, das rings um unser La­ger stationiert war, ein Ultimatum folgenden Inhalts ergangen sei: „Das SS–Fliegerkorps wird aufgefordert, sich bis Dienstag nachmittag um 3 Uhr zu übergeben und mit allen Flugzeu­gen jenseits der Elbe an dem Orte X. (den wir nicht erkunden konnten) zu landen.” Wir stan­den hinter unseren Drähten, ließen keine Bewe­gung der Flieger aus den Augen und waren so aufgeregt, daß wir nicht feststellen konnten, ob die anstoßenden Baracken geräumt wurden oder nicht.

Zwei Tage später – es war der 2. Mai 1945 – erreichte die Spannung ihren Höhepunktmit dem Bericht: „Das Konzentrationslager Ravens­brück, unser Stammlager, ist befreit worden.” Wir kannten diese Meldung, die sich seit An­fang Marz wohl zum fünfzigsten Male, mit allen erdenklichen Variationen, wiederholt hatte. Aber dieses Mal stimmte sie wirklich. Die Auf­seherinnen, die von dort geflüchtet waren, über­brachten sie persönlich in aller Herrgottsfrühe, und gegen 9 Uhr hielt der Lagerführer eine wohlklingende Rede, in der er die Befreiung bestätigte. Er erzählte etwas von der Übernah­me der Häftlinge durch das Schwedische Rote Kreuz und versprach mit heiligen Schwüren, uns kein Haar zu krümmen, mehr noch, uns vor al­len Gefahren zu beschützen und uns persönlich den Alliierten zu treuen Händen zu übergeben. Das war am Vormittag. Nachmittags hatte er sein Versprechen längst vergessen oder er hielt es für überflüssig und wichtiger, für seine eigene Sicherheit zu sorgen. Um drei Uhr ent­schwand die sonst so geräuschvolle SS still und leise aus dem Lager, ohne Aufsehen zu er­regen.

Um ½ 4 Uhr erschien ein amerikanisches Auto mit einem Vorposten–Rechercheur. Er wurde mit unermesslichem Jubel begrüßt, unter stürmi­schen Umarmungen fast erdrückt und von begei­sterten Mädels auf den Schultern getragen. Das Auto war im Nu über und über mit grünen Zwei­gen geschmückt. Nach einer halben Stunde fuhr er ab und bald hinterher erschienen die befrei­enden Russen.

Und sonst? Rauferei um die angefahrenen Pa­kete, wüstes Organisieren in den SS–Magazi­nen und bei den Hinterlassenschaften der Auf­seherinnen, wildes Getümmel, Schreien, Weinen, Lachen, ein gegenseitiges Händeschütteln und sich um den Hals fallen und, bei allem Über­schwang – Leere.

Die Sehnsucht unserer Jahre, eine kaum im Traum gewiegte Hoffnung hatte sich erfüllt, etwas, was wir mit all unserer Phantasie uns nie hatten ausmalen können. In der Stunde, da dieses unbegreifliche, unfaßbare Glück über uns hereinbrach, konnten wir es kaum begrei­fen. Es war übermächtig und zerschmetterte uns. Ebensowenig wie unser ausgehungerter Körper das Essen sofort verdauen wollte, vermochten wir die Freiheit im ersten Moment voll in uns aufzunehmen, Wir mußten uns erst gewöhnen und tapsten mit ungeschickten, zaghaften Schritten in das neugewonnene Leben hinein. Dann freilich begriffen wir es. Wenn ich davon reden wollte, wie wir in diesen Maientagen durch den Buchenwald schlenderten, ungehemmt und ohne Bewachung, und durch die jungen Bir­kenwipfel in den Himmel guckten, der wieder uns gehörte, wie ich vor der blühenden Japani­schen Kirsche stand und die Forsythien strei­chelte, mit ungebundenen Händen, und durch die Fluren streifte, die nur vom Horizont umdrahtet waren, allein, frei, und doch verbunden mit der weiten Welt – wenn ich davon schrei­ben wollte, dann müßte ich ein großer Dichter sein: Da war der Himmel offen.

Nachklang (Sommer 1946)

Dieser Tage sprach ich mit einer Helferin von einem Camphilfswerk, einer sehr intelligenten Frau mit großem Verantwortungsgefühl. Sie hat viele Häftlinge betreut, darunter auch einige polnische Jüdinnen, die ein paar Jahre Ausch­witz hinter sich hatten. Sie erzählte, wie zer­rüttet diese Mädels noch immer sind, die als letzte Überbleibsel ihrer Familien, selber noch flügellahm, in der Welt herumschwirren. Voll Bitterkeit fügte sie hinzu: „Es wäre besser, wenn sie nicht überlebt hätten.”

Das Traurige ist, daß sie nicht ganz unrecht hat, was die Heiterkeit und die Freude am Le­ben angeht. Ein oder zwei Jahre im Konzentra­tionslager Auschwitz sind nicht ohne psychi­sche Nachwirkung. Nicht nur die Welt um uns ist anders geworden, sondern wir selber sind umgeknetet. Man liest in Märchen und Legenden, daß Engel und Boten des Himmels, die auf die Erde hinabgesandt werden, sich verirren und sich nicht zurechtfinden können. Etwas davon gilt auch für die, die von der Hölle zur Erde zurückkehren. Menschliche Vorstellungen und Maßstäbe lösten sich auf. Alles dort war über­dimensional und übersteigert in der Dynamik, so daß unsere Begriffe verändert sind und es schwer ist, sich wieder an genormte Bahnen zu gewöhnen. Nach soviel Gemeinheit und Unglück erwartet man ein Übermaß an Güte und Glück, wie es nicht von dieser Erde ist. Manchmal, im Konzentrationslager, haben wir davon gespro­chen, daß das Leben die Rechnung, die wir be­zahlen mußten, nie ausgleichen kann, auch wenn es uns alle Herrlichkeiten der Welt böte. Noch in anderer Art sind unsere Relationen ver­schoben. Vielleicht muß man es als einen De­fekt ansehen. Wenn man erlebt hat, wie alles zerrinnt, Geld und Gut, Ehre und Ruhm, und nur die innere Haltung des Menschen bleibt, gewinnt man eine tiefe Geringschätzung für die Äußerlichkeiten des Lebens, Wir können nicht begreifen, daß jemand, der mit seiner ganzen Familie heil und gesund durch diese Zeit geschlüpft ist, ein Wort darüber verliert, daß der Haushalt nicht wie am Schnürchen läuft. Wir sind erstaunt, daß eine Mutter, deren Kinder im größten Elend in Auschwitz gestorben sind, sich aufregt, daß der kostbare Schmuck ihrer Tochter bei der Aufbewahrung verlorengegangen ist. Vieles, was unserm Nachbarn den Kopf be­schwert, können wir nicht mehr ernst nehmen, weil wir immer vergleichen und daran denken, wie alles mit einem Federstrich ausgelöscht wurde, was wir einst ersehnten und erkämpften. Wir, die wir von 1000 Menschen 990 haben sterben sehen, können nicht einmal – und hierin liegt ein ernstliches Manko – unser persönli­ches Leben und unsere eigene Zukunft wichtig nehmen.

Dafür haben wir eine gesteigerte Freude an den alltäglichen Dingen. Nach allen Entbehrungen genießen wir jede Scheibe Brot und jedes Stück­chen Kuchen bewußt. Wir schätzen den warmen Mantel, der uns jetzt vor Kälte schützt; jede kleine Annehmlichkeit des Lebens dünkt uns ein Geschenk des Himmels, Wir saugen die Gü­te der Menschen in uns hinein wie ein ausge­trockneter Schwamm das Wasser.

Manchmal empfinden wir auch wieder die tiefe­ren Freuden unseres persönlichen Lebens, wenn die Tone von Bach und Mozart erklingen, wenn die Farben der Nachtwache von Rembrandt flu­ten, oder wenn die Vögel zwitschern und die Sonnenstrahlen im Herbstlaub tanzen.

Noch sind diese Augenblicke selten. Und doch bejahen wir unser Leben. Es ist ein Wunder und eine Gnade Gottes, daß wir Auschwitz überlebt haben; und es ist eine Verpflichtung. Wir halten das Vermächtnis der Toten in Händen. Uns ob­liegt es, von ihnen zu sprechen. Das Reden von ihnen ist grausig-. Die Berichte aus der Hölle sind keine anmutenden Ammenmärchen; sie sind infernalisch und zerschneiden das Herz. Es wäre bequemer zu retuschieren oder ganz zu schweigen und zu vergessen (auch für uns). Doch gerade das dürfte nicht im Sinne der Toten sein. Die Welt muß von dem erlittenen Leid erfahren, nicht damit die Lebenden sich quälen oder ihr Dasein vergällen und erst recht nicht aus Sensation, sondern als eine Lehre und eine Aufgabe für kommende Geschlechter.

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Das war Auschwitz. (Ich habe mich bemüht, die Tatsache wahrheitsgetreu wiederzugeben.) Nichts jüdische Polen haben die Frage aufge­worfen, ob in Auschwitz dereinst ein Ehrenmal für die gefallenen Juden stehen sollte. Es wäre angebracht an einer Stätte, die mit drei Millio­nen Märtyrern vielleicht der größte Friedhof der Welt ist. Aber ein anderes Denkmal ist mehr vonnöten, ein Denkmal im Horaz’schen Sinne, das nicht an Zeit und Raum gebunden ist. Denn schließlich ist Auschwitz nur ein Ausschnitt und ein Symbol. Es gab noch andere grausige Plätze, Majdanek und Lublin in Polen, und viele schlimme Konzentrationslager in Deutsch­land. Und wenn auch die Zahl der Juden pro­zentual überragt, so sind der anderen Opfer noch übergenug. Auch die „politischen” Deut­schen, die in Massen zum Tode verurteilt wor­den sind, gehören mit auf die Rechnung. Alle diese Toten schreien nach Vergeltung, aber nicht mit dem brennenden Holzscheit und nicht mit dem Marterpfahl in der Hand. Das hieße, sa­distische Methoden, die wir aufs tiefste verab­scheut haben, nachzuahmen oder zu modifizie­ren. Diese Toten fordern eine andere Rache: Die Wahrheit über Auschwitz. Die Welt muß wissen, daß ein kleiner Funke des Hasses ei­nen übermächtigen Brand entfachen kann, den keiner mehr einzudämmen vermag. Es gibt Men­schen, die den Standpunkt vertreten, daß diese Dinge überall in der Welt hätten passieren kön­nen, etwas, was ich persönlich nicht glaube. Aber ich erinnere mich sehr wohl des Gefühles, mit dem ich im „Ulenspiegel” gelesen habe, wie ein Mensch als Glockenschwengel zu Tode gestoßen wurde und, in einem Abessinienbuch, wie ein Gegenhäuptling, mit Paraffinbinden um­wickelt, auf den brennenden Holzstoß geführt wurde – jenes Gefühles voll Hochmut gegen­über mittelalterlichen Gebräuchen und menschenfresserischen Sitten, Und doch sind eben­so schlimme Dinge im Herzen Europas im 20. Jahrhundert geschehen.

Durch einen irregeleiteten Fanatismus sind aus zivilisierten Menschen Bestien geworden, die nicht nur getötet, sondern mit Lust und Freude gequält und gemordet haben. Ein bischen Salonantisemitismus, etwas politische und religiöse Gegnerschaft, Ablehnung des poli­tisch Andersdenkenden, an sich ein harmloses Gemengsel, bis ein Wahnsinniger kommt und daraus Dynamit fabriziert. Man muß diese Syn­these begreifen, wenn Dinge, wie sie in Ausch­witz geschehen sind, in Zukunft verhütet wer­den sollen. Wenn Haß und Verleumdung leise keimen, dann, schon dann heißt es wach und bereit zu sein. Das ist das Vermächtnis derer von Auschwitz.

Die Toten waren stark und sind im Untergange über sich hinausgewachsen mit Kräften, die ins Riesengroße zielten.

Dürfen die Lebenden schwächer sein?

Nachwort eines Lesers

Die Tatsachen dieses Berichtes sind so, daß einer nur noch die Hände vor das Gesicht halten möchte vor Entsetzen, Scham und Trauer.

Daß Menschen dies an Menschen tun kön­nen …

Ich könnte mir denken, daß einer physisch es einfach nicht aushält, diese Blätter bis zu Ende zu lesen.

Dennoch möchte ich wünschen, daß jeder erwachsene Deutsche sie lesen müßte, damit wir vor dem bewahrt würden, was noch schreck­licher ist als der Gastod, vor dem Gericht der Verstockung.

Es gibt nur eine einzige Antwort, die noch schwerer wiegt als das Geschehen, das auf die­sen Blättern berichtet wird: Der für uns alle gekreuzigte Gott.

Daß Er, der Auferstandene, in der Herrlich­keit Gottes wiederkommen wird, das ist die Ant­wort, – auch für die in Auschwitz.

Möge niemand durch dieses Buch zum Has­sen gebracht werden oder zur Verzweiflung an Gott und den Menschen.

Möge es uns erkennen lassen, daß wir von Barmherzigkeit leben, um barmherzig miteinan­der umzugehen, ach, was sage ich: menschlich.

Dann würden die Opfer der Hölle von Ausch­witz nicht umsonst erstickt und verbrannt sein.

Heinrich Vogel

INHALT

Vorwort ……………………………………………………………………………………………………….   5

I. TEIL

In der Mausefalle ……………………………………………………….. ………………………………… 9

Wohnungsnot ……………………………………………………………… …………………………….. 12

Angst ………………………………………………………………………………………………………….  17

Kinder beten um der Eltern Tod …………………………………………………………………….  18

Er oder ich ……………………………………………………………………………………………….      22

Die fremde Stadt ……………………………………………………………………………………….     23

II. TEIL

Der grelle Pfiff  ……………………………………………………………………………………………  31

Ohne Alles …………………………………………………………………………………………………    37

Ins Zigeunerlager ………………………………………………………. ……………………………….. 40

Mulo, Mulo …………………………………………………………………………………………………  47

Sonntag im Lager ……………………………………………………………………………………….    54

Hunger ………………………………………………………………………………………………………    57

Appell ……………………………………………………………………………………………………….    61

Fleckfieber ………………………………………………………………………………………………      66

III. Teil

Bonbons für Kinder …………………………………………………………………………………….    75

Der Zahnarzt ……………………………………………………………………………………………….  79

Vom Sterben ………………………………………………………………………………………………   81

Warum …….e………….                                                                                                   87

Der Kohinoor ……………………………………………………………………………………………..   89

Quarkknödel . ……………………………………………………… ……………………………………    92

Das Sonderkommando ………………………………………………………………………………….   96

Menschen wallfahrten zum Tod ……………………………………………………………………  102

In der Sauna ………………………………………………………………………………………………   107

Zigeunernacht …………………………………………………………………………………………..    109

IV. TEIL

Die Mutter und die Großmutter …………………………………………………………………….  119

Mutterschaft ……………………………………………………………………………….. ..             . 126

Zwischen den Sphären …………………………………………………………………………………  129

Mala, die Belgierin ……………………………………………………………………………………    130

Ein Beinbruch …………………………………………………………………………………………..    132

Zwei Ungarinnen ………………………………………………………………………………………..  135

Hinterm Draht …………………………………………………………………………………………….  137

V. TEIL

Exodus ………………………………………………………………………………………………..         147

Wanderung durch den Schnee ……………………………………………………………………..   152

Ekel …………………………………………………………………………………………………………..  161

Die Befreiung …………………………………………………………………………………………….  164

Nachklang …………………………………………………………………………………………………   168

Nachwort eines Lesers ……………………………………………………………………………….    175

Hier der Text als pdf.

Hier die Druckfassung von 1956 zum Downloaden.

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