Schicksal und Wort. Das gottlose Buch Ester als Anleitung zur kanonischen Lektüre der Schrift[1]
Von Jochen Teuffel
Als Protestanten ist uns eine Gleichsetzung von Heiliger Schrift und Gottes Wort vertraut. Diese Identifikation wurde erstmals 1536 vom Schweizer Reformator Heinrich Bullinger im ersten Artikel „Von der Heiligen Schrift“ der Ersten Helvetischen Konfession (Confessio Helvetica prior) ausgesprochen:
„Die heilige, göttliche, biblische Schrift ist das Wort Gottes, vom Heiligen Geist eingegeben und durch die Propheten und Apostel der Welt verkündet (2. Petr 1,3.21). Sie ist die allerälteste, vollkommenste und höchste Lehre und umfasst allein alles das, was zu wahrer Erkenntnis, Liebe und Ehre Gottes, zu rechter und wahrer Frömmigkeit und zur Einrichtung eines rechtschaffenen, ehrbaren und gottseligen Lebens dient (2. Tim 3,16).“[2]
Wenn die Heilige Schrift mit dem geschriebenem Wort Gottes identisch sein soll, wie verhält es sich dann mit dem Buch Ester in seiner hebräischen Fassung, das von den protestantischen Kirchen als Teil des biblischen Kanons betrachtet wird? Spricht Gott durch das Buch Ester zu uns? Auffälliger Weise werden weder Gott noch sein Wort in den zehn Kapiteln dieses Buches erwähnt, nicht einmal mit einem Beinamen oder einer Umschreibung. Auch findet sich keine menschliche Religiosität, die einen besonderen Gottesbezug hätte. Im wahrsten Sinne des Wortes ist das Buch Ester ein gottloses Buch.
So sagt auch Martin Luther in einem seiner Tischgespräche unverblümt: „Ich bin dem Buch Ester und dem 2. Buch der Makkabäer feind, dass ich wollte, sie wären gar nicht vorhanden; denn sie judaisieren zu sehr und haben viel heidnische Unart.“[3] Luther war nicht der Einzige, der seine Vorbehalte gegenüber der Kanonizität des Buches Ester hatte. Über Jahrhunderte hinweg war es in der Kirche umstritten, selbst in der griechischen Version mit ihren gottbezogenen Ergänzungen.
Die sechs Zusätze in der Septuaginta stellen die Notlage der persischen Juden in den Kontext von Gottes Geschichte von Israel als seinem auserwählten Volk und legen das Leben der Juden ganz in Gottes Hand. Insbesondere Mordechais und Esters Gebet in den Zusätzen zu Ester (Est 4,17a-z) gleicht den Mangel an Religiosität im masoretischen Text mehr als aus, so wenn Ester zum Herrn, dem Gott Israels betet:
„Mein Herr, unser König, du bist der Alleinzige. Hilf mir! Denn ich bin hier einzig und allein und habe keinen Helfer außer dir; die Gefahr steht greifbar vor mir. Von Kindheit an habe ich in meiner Familie und meinem Stamm gehört, dass du, Herr, Israel aus allen Völkern erwählt hast; du hast dir unsere Väter aus allen ihren Vorfahren als deinen ewigen Erbbesitz ausgesucht und hast an ihnen gehandelt, wie du es versprochen hattest. Wir aber haben uns gegen dich verfehlt und du hast uns unseren Feinden ausgeliefert, weil wir ihre Götter verehrt haben. Du bist gerecht, Herr.“ (Est 4,17l-m bzw. St zu Est C 14-18)
Solche gottwohlgefälligen Ergänzungen im Buch Ester mögen für die römisch-katholische und die orthodoxe Kirche, die diese Zusätze als Teil des biblischen Kanons akzeptieren, beruhigend sein. Juden und Protestanten müssen jedoch mit der wörtlichen Abwesenheit Gottes im masoretischen Text zurechtkommen.[4]
Es sind verschiedene Versuche unternommen worden, Gott zumindest indirekt im hebräischen Buch Ester zu entdecken, um es als biblisches Gotteswort zu rechtfertigen.[5] Das Problem solcher nachträglichen „Entdeckungen“ ist jedoch, dass sie als vermeintliche Aktivitäten des Gottes Israels nicht überzeugend sind:
1. Mordechais Weigerung, sich vor dem Wesir Haman niederzuwerfen – was Hamans Vernichtungsplan gegenüber den Juden im persischen Königreich auslöste (Est 3,5-6) –, ist kein Gehorsamsakt gegenüber Gott. Schließlich war es in Israel nicht unüblich, vor einem Höherrangigen niederzufallen, um ihm den gebührenden Respekt zu erweisen, selbst wenn es sich dabei um einen Nichtjuden handelte (z. B. Abraham in Gen 23,7.12). Niemals wurde eine solche Haltung als ein Akt der Anbetung betrachtet, was gegen das erste Gebot verstoßen hätte. Man könnte versuchen, Mordechais Weigerung historisch zu erklären, mit der Begründung, dass Mordechai aus dem Stamm Benjamin sich nicht vor Haman verbeugen konnte, weil Hamans Vorfahre, König Agag von den Amalekitern, einst von König Saul besiegt worden war (vgl. 1. Samuel 15). Aber eine solche Feindschaft zwischen einem Benjaminiter und einem Amalekiter hätte sicherlich nicht den Verstoß gegen einen königlichen Befehl gerechtfertigt (Est 3,2).
2. Als Haman versucht, den persischen König Ahasveros von seinem Volksmordplan zu überzeugen, stellt er die Gesetze der Juden als anders dar als die aller anderen Völker (Est 3,8). Man könnte annehmen, dass diese Darstellung Gottes Tora Ehre macht. Der einschlägige hebräische Begriff dat, der „Gesetz“ oder besser „Erlass“ bedeutet, wird jedoch – abgesehen von Deuteronomium 33,2 und Esra 8,36 – nur im Buch Ester verwendet, wo er sich im Allgemeinen auf die Erlasse des persischen Königs bezieht. Solche jüdischen Erlasse verweisen nicht auf eine göttliche Autorität und entsprechen damit nicht der Tora, die von Gott am Berg Sinai empfangen wurde.
3. Als Haman den Tag für den Völkermord an den persischen Juden festlegen will, lässt er das Los entscheiden (Est 3,7). Natürlich finden wir in der Heiligen Schrift verschiedene Beispiele für Losentscheidungen: Jos 7,10-26, 1 Sam 14,41-42; 1 Chronik 24-26. Obwohl das Werfen von Losen eine menschliche Handlung war, wurde das Ergebnis mitunter als ein göttlicher Entscheid angesehen (vgl. Spr 16,33). Im Buch Ester ist es jedoch das Los eines Ausländers –vor einer heidnischen Gottheit geworfen –, das das Datum des jüdischen Purimfestes bestimmt, im Gegensatz zu all den anderen Feste, die von Gott selbst in der Tora angeordnet worden sind.
4. Als Mordechai die Königin Ester bedrängt, Ahasveros für ihr Volk zu bitten, gibt er ihr zu bedenken: „Denke nicht, dass du dein Leben errettest, weil du im Palast des Königs bist, du allein von allen Juden. Denn wenn du zu dieser Zeit schweigen wirst, wird eine Hilfe und Errettung von einem andern Ort her den Juden erstehen. Du aber und deines Vaters Haus, ihr werdet umkommen. Und wer weiß, ob du nicht gerade um dieser Zeit willen zur königlichen Würde gekommen bist?“ (Est 4,13f) Eine solche Botschaft sagt weder das Eingreifen Gottes oder dessen Strafe voraus, falls Ester doch nicht zum König geht und ihn anfleht. Der andere „Ort (makom)“ ist auch kein Deckname für Gott[6], sondern lässt offen, von wem Hilfe und Rettung zu erwarten sind. Darüber hinaus empfindet Mordechai die königliche Würde Esters als glückliche Fügung, die freilich nicht göttlich bestimmt ist.
5. Das Schicksal scheint den Lauf der Dinge zu bestimmen, und Gott bleibt abwesend. Daher ist Esters heroisches Versprechen, zum König zu gehen, ohne jeden göttlichen Bezug: „Dann will ich zum König hineingehen entgegen dem Gesetz (dat). Komme ich um, so komme ich um.“ (Est 4,16) Ihre Ankündigung „Wenn ich umkomme, komme ich um“ hat keinerlei theologischen Implikationen, zeigt auch keine Zuversicht für die Zukunft; nicht einmal die Scheol, die Wohnstätte der Toten, wird erwähnt. Der mögliche negative Ausgang dieser Mission offenbart die Unverbundenheit und Selbstbezüglichkeit menschlichen Lebens, wenn ihm die Verheißung Gottes fehlt. Die Worte Esters sind nichts weniger als ein Bekenntnis zum Schicksal von Leben und Tod: „Wenn ich umkomme, komme ich um.“
6. Da der Mensch ein solches innerweltliches Schicksal beeinflussen kann, passt dieser Hinweis auf das Schicksal zu dem Fasten der Juden, das Ester zur Vorbereitung auf ihre Mission forderte (Est 4,16). Ein solches Fasten richtet sich nicht an Gott, sondern soll die Solidarität mit Ester bekunden, damit ihre Mission gelingen werde. Wie sehr unterscheidet sich ein solches fatalistisches Fasten von dem allgemeinen Zweck des Fastens als Bußakt und der Trauer vor Gott! Sogar der König von Ninive ordnet es an, nachdem er von Jonas Ankündigung des Untergangs von Ninive gehört hatte:
„Befehl des Königs und seiner Großen: Alle Menschen und Tiere, Rinder, Schafe und Ziegen, sollen nichts essen, nicht weiden und kein Wasser trinken. Sie sollen sich in Bußgewänder hüllen, Menschen und Tiere. Sie sollen mit aller Kraft zu Gott rufen und jeder soll umkehren von seinem bösen Weg und von der Gewalt, die an seinen Händen klebt. Wer weiß, vielleicht kehrt er um und es reut Gott und er lässt ab von seinem glühenden Zorn, sodass wir nicht zugrunde gehen.“ (Jona 3,6-9; vgl. Jona 4,2)
Das verhängnisvolle Fasten der persischen Juden hingegen richtet sich nicht auf Gottes Willen aus.
7. Schließlich ist der Krieg der Juden gegen ihre potenziellen Feinde (Est 9,1-16) kein Krieg im Namen Gottes, wird er doch durch ein Dekret des persischen Königs angeordnet, um ein Dilemma zu lösen: Ahasveros selbst konnte sein vorheriges Edikt zur Auslöschung der Juden, das in seinem Namen verkündet und mit seinem Ring besiegelt worden war, nicht widerrufen (Est 3,12-13). Da die Gesetze der Perser und Meder nicht geändert werden konnten (vgl. Est 1,19; 8,8), blieb nur die Möglichkeit eines Präventivschlags der Juden gegen ihre Feinde als Akt der Selbstverteidigung.
Die unveränderlichen Dekrete des persischen Königs verweisen auch hier auf die Leitfrage des Buches Ester: wie man im Rahmen des Schicksals agieren, reagieren und gegensteuern kann. Das Buch Ester, das sich mit einer schicksalhaften Frage beschäftigt, ist notwendigerweise eine gottlose Geschichte. Die Abwesenheit Gottes wird sogar in den Namen der beiden jüdischen Akteure rekapituliert, die alles andere als gottwohlgefällig sind. „Ester“ leitet sich vom persischen stara („Stern“) ab und lässt „Ishtar“, den Namen einer Göttin im akkadischen Pantheon anklingen; „Mordechai“, der Name von Esters Cousin, leitet sich von „Marduk“, der babylonischen Hauptgottheit ab.
Was soll man nun mit dem Buch Ester anfangen? Es liest sich gut als erbauliche Geschichte, wie die Königin Ester das Leben der jüdischen Diaspora unter persischer Herrschaft bewahrt. Ihr glückliches Ende unterstützt das vergnügliche Purimfest mit seiner Karnevalsatmosphäre, bei dem Kinder Krachmacher in die Synagoge bringen und die Gemeindemitglieder jedes Mal mit den Füßen stampfen, wenn Hamans Name aus der Schriftrolle verlesen wird. Sogar die Trunkenheit erwachsener Juden wird gefördert, da der Talmud (Meg. 7b; vgl. Est 1,8) den Männern befiehlt, an Purim so viel Wein zu trinken, dass sie den Unterschied zwischen „gesegnet sei Mordechai“ und „verflucht sei Haman“ nicht mehr erkennen können. Purim hat sogar einen Moment der Travestie. Neben den karnevalistischen Maskeraden ernennen einige jüdische Gemeinden einen „Purim-Rabbi“, dessen frivole Aufgabe es ist, selbst die heiligsten Texte zu manipulieren. Das Wort Purim, das akkadischen Ursprungs ist, kann als Lebensmotto gesehen werden, da pur in der Bedeutung von „Los“ der Zufall konnotiert ist. So mag das Purimfest als Volksfest der „Lebensloses“ auch in einer säkularen Weise gelten. Eine solche „Lotterie“-Sicht auf das Leben macht es entschuldbar, dass Ester, der „Star“ der Geschichte, während ihres Aufenthalts am Hof des persischen Königs offenbar gegen die Speisevorschriften der Tora verstieß und zudem einen Heiden heiratete.
Aber solch eine Beschränkung auf das Lebenslos bleibt für Christen unbefriedigend, solange sie dieses Buch in der Kirche lesen wollen. Etwas muss durch unsere eigene Lektüre hinzugefügt werden. In der Sprache der Reader-Response-Theorie enthält der Text des Buches Ester bestimmte strukturierte „Leerstellen“, die den Leser auffordern, die fehlenden Informationen zu ergänzen, um dem Erzählten einen Sinn zu geben.[7] Die Lektüre des Buches Ester in der Kirche erfordert also einen „Input“ des Lesers.
Die gängige Methode der Christen, die Lücken im Buch Ester zu füllen, ist das allgemeine Konzept der göttlichen Vorsehung. Die Leser können in der Geschichte verschiedene „Zufälle“ entdecken, bei denen die göttliche Vorsehung ins Spiel kam. So wird Mordechai beispielsweise „zufällig“ Zeuge des Gesprächs zwischen Bigtan und Teresch am Palasttor (Est 2,21f) und deckt dadurch ein Komplott zur Ermordung des Königs auf, das von Ahasveros belohnt werden musste. Auch die Schlaflosigkeit des persischen Königs kann mit einer solchen Vorsehung in Verbindung gebracht werden, führt sie doch dazu, dass er sich an die nicht belohnte Tat Mordechais erinnert (Est 6,1-2). Dass Ester von Ahasveros als dessen Frau und Königin von Persien auserwählt wurde, lässt sich unter Gottes Vorsehung vorstellen, erhält doch Ester damit die Stellung und die Fähigkeit, sich für ihr Volk einzusetzen.
Welche Spuren göttlicher Vorsehung auch immer der Leser entdecken mag, sie alle beruhen auf unseren eigenen, allzu menschlichen Vorstellungen von der Vorsehung Gottes. Gott ist in dieser „providentiellen“ Lesart lediglich der verborgene Akteur hinter der Bühne (deus ex machina), der für die peripatetischen Momente verantwortlich ist, damit die Dinge, die scheinbar auf eine Katastrophe zusteuern, schließlich doch zu einem glücklichen Ende kommen. Dies kommt einem heidnischen Glauben an ein vergöttlichtes Schicksal gefährlich nahe, bei dem die Lotterie des Lebens „Gott“ genannt wird.
Um eine schicksalshafte Wahrsagerei der Schrift zu vermeiden, muss die schlichte (und unbiblische) Gleichsetzung von Heiliger Schrift und geschriebenem Wort Gottes aufgegeben werden. Wir können dann klar und deutlich sagen: Es gibt kein Wort Gottes im Buch Ester. Eine solche Anerkennung stellt keineswegs die Kanonizität (oder gar die göttliche Inspiration) des Buches Ester in Frage, denn dieses Buch enthält eine einzigartige Lehre für uns, die von Gott selbst gegeben wurde: Das Buch Ester führt uns in die kanonischen und damit kohärente Lesung der Schrift ein, die als deren Selbstauslegung gilt, entsprechend Martin Luthers Diktum: „Die Heilige Schrift interpretiert sich selbst (sacra scriptura sui ipsius interpres)“.[8] In seiner Streitschrift Auf das überchristlich, übergeistlich und überkünstlich Buch Bocks Emsers zu Leipzig Antwort von 1521 schreibt Luther dazu: „Wenn sie [die Kirchenväter] eine Stelle der Schrift auslegen, tun sie es nicht mit ihrem eigenen Sinn oder Wort (denn wenn sie das tun, wie es oft geschieht, irren sie gewöhnlich), sondern bringen eine andere Stelle hinzu, die klarer ist, und so erleuchten und erklären sie die Schrift mit der Schrift“[9].
Die Auslegung der Schrift durch die Schrift setzt voraus, dass die „Leerstellen“ eines biblischen Textes – anstatt mit eigenen religiösen Vorstellungen ausgefüllt zu werden – so mit anderen Teilen der Schrift in Beziehung gesetzt werden, dass Gottes Wort den Leser anspricht. Das Wort Gottes ist nicht einfach Schrift, sondern es muss durch kohärentes Lesen in der Schrift gefunden werden. Wird Gottes Wort pauschal mit der Schrift identifiziert, führt das zur isolierten „Aneignung“ von Bibeltexten. Die Leserin bzw. der Leser ist dann mit ihren bzw. seinen eigenen Vorstellungen für die Erschließung des Schrifttextes als sinnhafte Kommunikation verantwortlich. Solche imaginativen Lesarten der Schrift bergen jedoch keine Verheißung für unser Leben; von unseren religiösen Vorstellungen ist nichts Heilvolles über eigene Lebensmöglichkeiten hinaus zu erwarten. Demgegenüber bezieht die kanonische Schriftlektüre die Leerstellen jeweiliger Texte auf die Schrift als Ganzes. Nur in einer selbstreferentiellen Lektüre der Schrift kann der Leser in eine kommunikative Beziehung zu Gottes Wort treten, das ihn schon vor seiner eigenen Lektüre angesprochen hat. Eine solche kohärente Schrift-Lektüre ist es, wozu uns Martin Buber anleitet:
„Die Bibel will als Ein Buch gelesen werden, so daß keiner ihrer Teile in sich beschlossen bleibt, vielmehr jeder auf jeden zu offengehalten wird; sie will ihrem Leser als Ein Buch in solcher Intensität gegenwärtig werden, daß er beim Lesen oder Rezitieren einer gewichtigen Stelle die auf sie beziehbaren, insbesondre die ihr sprachidentischen, sprachnahen oder sprachverwandten erinnert und sie alle für ihn einander erleuchten und erläutern, sich für ihn miteinander zu einer Sinneinheit, zu einem nicht ausdrücklich gelehrten, sondern dem Wort immanenten, aus seinen Bezügen und Entsprechungen hervortauchenden Theologumenon zusammenschließen.“[10]
Wenden wir dies nun auf das Buch Ester an. Solange wir dieses Buch isoliert lesen, interpretieren wir seinen Inhalt nach unseren eigenen Vorstellungen von göttlicher Vorsehung. Die göttliche Vorsehung (griechisch pronoia) ist freilich kein biblischer Begriff, sondern ein Konzept der stoischen Philosophie, das die Herrschaft der göttlichen Vernunft oder des Logos über alle Ereignisse bezeichnet. Ein solcher Logos ist im Wesentlichen sprachlos und unterscheidet sich darin vom geäußerten Wortes Gottes. In ihrer metaphysischen Verallgemeinerung bleibt eine philosophisch durchdachte Vorsehung gegenüber dem menschlichen Leben unverbindlich – sie enthält keine persönliche Zusage, der man glauben könnte. Im Hinblick auf eine „logische“ Vorsehung kann der Mensch entweder versuchen, den Lauf der Dinge „analog“ zu beeinflussen oder hat sich diesem „stoisch“ anzupassen.
Es ist die kanonische Lektüre des Buches Ester, die die Juden als Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs mit der Erwählung Israels durch Gott in Verbindung bringt. So hat sich Gott Mose aus dem brennenden Dornbusch heraus zugesagt:
„Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. […] Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne sein Leid. Ich bin herabgestiegen, um es der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen, in das Gebiet der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter.“ (Ex 3,6-8)
Was im Buch Ester als göttliche Bewahrung vor dem drohenden Völkermord hineingelesen werden kann, ist nicht an abstrakte Vorstellungen von Vorsehung gebunden, sondern an die Erwählung Israels durch Gott. Gott bewahrt die persischen Juden um seiner besonderen Israel-Beziehung willen, die sich in seinem Bund mit ihnen manifestiert hatte. „In allen Provinzen herrschte bei den Juden überall große Trauer, sobald der Erlass und das Gesetz des Königs eintrafen. Man fastete, weinte und klagte. Viele schliefen in Sack und Asche. Gott hörte ihr Seufzen, und Gott gedachte seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob. Und Gott sah auf die Israeliten, und Gott nahm sich ihrer an.“ (Ester 4,3; Ex 2,24f)[11]
Außerhalb Gottes Erwählung und seines Bundes mit Israel kann im Buch Ester nichts über eine göttliche Beteiligung an den geschilderten Ereignissen gesagt werden. Für uns als christliche Leserinnen und Leser bedeutet dies, dass wir uns auf unsere Erwählung in Jesus Christus (vgl. Eph 1,3-6) in Verbindung mit dem neuen Bund beziehen müssen, der durch das Blut Christi begründet wurde: „Er ist der Mittler eines neuen Bundes; sein Tod hat die Erlösung von den im ersten Bund begangenen Übertretungen bewirkt, damit die Berufenen das verheißene ewige Erbe erhalten.“ (Hebr 9,15; vgl. 1 Kor 11,25) In Christus sind wir mit Gottes treuen Taten (nicht nur Anweisungen oder Gaben) zur Bewahrung seines geheiligten Volkes verbunden.
Um die Heilige Schrift wortgetreu zu lesen, ist es von entscheidender Bedeutung, Spekulationen über vorsehungsbedingte Ursache-Wirkung-Verhältnisse hinter den erzählten Ereignissen aufzugeben. Stattdessen gilt es auf Gottes wirksames Wort zu hören, wie es sich an Menschen in bestimmten Situationen wendet. So sichert Gott sich den Hörenden zu: „So ist es mit dem Wort, / das meinen Mund verlässt: Es kehrt nicht leer zu mir zurück, / ohne zu bewirken, was ich will, / und das zu erreichen, wozu ich es ausgesandt habe.“ (Jes 55,11)
Außerhalb seines Wortes bezieht sich Gott nicht auf den Menschen. Deshalb sind die Ereignisse in unserer „gelebten Welt“ nicht auf göttliche Ursachen hin zu untersuchen, sondern auf Gottes Wort zu beziehen. Nichts ist gefährlicher, als Gott auf nonverbale Weise in unser Leben hineinzulesen, denn eine solche Fehlinterpretation ruft letztlich die fatale Gleichung hervor: Gott ist Schicksal. Ein menschlicher Umgang mit dieser Gleichung kann nur zu heidnischen Praktiken führen: Wahrsagerei oder Losorakel als Kunst der Zukunftsbestimmung, Versuche, das Schicksal durch selbstbezogene Bittgebete zu beeinflussen, eigenmächtige Opfergaben, um die Unersättlichkeit des Schicksals zu befriedigen, und schließlich Gelübde als bedingungslose Unterwerfung unter einen vermeintlichen Vertreter des Schicksals. Mehrere dieser Praktiken finden sich im Buch Ester.
Dennoch ist das Buch Ester eines der wichtigsten Bücher der Bibel, zumindest für Christen. Seine Lektion liegt gewiss nicht in seinem Erzählgeschehen, sondern in der Tatsache, dass es keinen Bezug zu Gott hat. Diese entscheidende Leerstelle ähnelt unserer eigenen Situation als Leserinnen und Leser, denn niemand von uns ist von Gottes Wort in exklusiver Weise angesprochen worden. So wie die Akteure im Buch Ester nicht von Gottes Wort angesprochen werden, so haben auch wir als Leser kein persönliches Gotteswort erhalten. Unabhängig davon, ob wir im Buch Ester lesen oder unser eigenes Leben leben, muss das in der Heiligen Schrift bezeugte Wort Gottes so zu Begebenheiten und Geschehen in Beziehung gesetzt werden, dass sie uns zu heilsamen Ereignissen werden, auch dort, wo sie durch Gottes Wort kritisch zu beurteilen sind. Unser Leben mit all seinen Leerstellen soll sich in der Schrift spiegeln, so dass es durch Gottes Wort angesprochen wird. So können wir mit dem Propheten Jeremia bekennen: „Fanden sich Worte von dir, / so verschlang ich sie; / dein Wort wurde mir zum Glück und zur Freude meines Herzens; denn dein Name ist über mir ausgerufen, / HERR, Gott der Heerscharen.“ (Jer 15,16)
[1] Ursprünglich auf Englisch unter dem Titel „Fate and Word: The Book of Esther as Guidance to a Canonical Reading of Scripture“ erschienen in: Currents in Theology and Mission 36, Nr. 1 (Februar 2009), S. 26-31.
[2] Matthias Freudenberg/Andreas Mühling/Peter Opitz (Hrsg.), Reformierte Bekenntnisschriften, Band 5: Ausgewählte Texte in deutscher Übersetzung, Teilband 1: 1523-1561, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2023, S. 163.
[3] WA.TR 3, Nr. 3391b, S. 302.
[4] Für eine ausgezeichnete jüdische Auslegung, die das Fehlen Gottes ernst nimmt, siehe Michael Fox, The Religion of the Book of Esther, Judaism 39 (Heft 2, Frühjahr 1990), S. 135-147.
[5] Vgl. Carol M. Bechtel, Esther, Interpretation. A Bible Commentary for Teaching and Preaching, Louisville: John Knox, 2002, S. 13-14.
[6] Vgl. Beate Ego, Ester, BKAT 23, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 22023, S. 250f.
[7] Vgl. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens, München: Fink, 31990, S. 264-267.284-315.
[8] Assertio omnium articulorum (1520), WA 7,97,23.
[9] „wenn sie eynen ort der schrifft außlegen, ßo thun sie es nit mit yhrem eygen synn odder wortt (denn wo sie das thun, wie offt geschicht, da yrren sie gemeyniglich), ßondernn bringen eynen andern ort erzu, der klerer ist, und alßo schrifft mit schrifft erleuchten und außlegen“ (WA 7, 639,7-10).
[10] Martin Buber, Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift. Beilage zum ersten Band Die fünf Bücher der Weisung, Heidelberg: Lambert Schneider, 1954, S. 13.
[11] In den Zusätzen zum Buch Ester in der LXX wird solch eine kanonische Kontextualisierung vollzogen.