Arno Schilson über Odo Casel (1886-1948) und dessen Mysterientheologie: „Die »Mysteriengegenwart« des Heilswerkes Christi in Liturgie und Sakrament wird für Casel zu jener Mitte christlicher Glaubenswirklichkeit und vor allem gelebten Christseins, aus dem mitten in der Krise von Zeit und Kultur die wahren Maßstäbe, neue Perspekti­ven und zuverlässige Orientierung zu gewinnen sind.“

Über Odo Casel und dessen Mysterientheologie

Von Arno Schilson

Name und Gestalt des Benediktinermönchs Odo Casel (1886-1948) aus der Abtei Maria Laach in der Eifel sind ebenso wie die von ihm maßgeblich entwickelte Mysterientheologie heute weithin vergessen und unbekannt. Soviel Anstöße, Impulse und Neuerungen auch von seinem theo­logischen Engagement in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun­derts ausgegangen sein mögen – was der Gegenwart als fester Besitz erscheint, wird kaum noch auf seine Ursprünge hin bedacht und durchleuchtet. Dabei lassen sich die grund­stürzenden Reformbewegungen in Kirche, Liturgie und Theologie unseres Jahrhunderts ohne das eher stille und beharrliche Wirken Odo Casels kaum verstehen. Sein her­ausragendes Verdienst bleibt es, ähnlich wie sein Zeitge­nosse Romano Guardini einer perspektiven- und orientie­rungslos gewordenen Zeit und einer oft nur zögernd, hilflos und widersprüchlich agierenden Kirche und Theologie entscheidende Wege gewiesen zu haben. Deshalb läßt sich aus heutiger Perspektive Odo Casel als Theologe und Reformer von hohem Rang, als Mahner und Prophet in schwerer Zeit würdigen.

I

Perspektive und Orientierung hat Odo Casel einer Zeit vermittelt, deren geistiger, politischer, kirchlicher und theologischer Zustand desolat zu nennen ist. Im allgemei­nen Bewußtsein der Jahre nach der Jahrhundertwende vollzieht sich ein so tiefgreifender Umschwung, daß von einer Wende der Zeiten oder gar der Kulturen die Rede sein kann. Die optimistische Aufbruchsstimmung des 19. Jahr­hunderts angesichts der raschen Entwicklung von Technik und Industrie ist verflogen; Positivismus und Materialismus als vorherrschende Geistesströmungen bzw. umfassende Weltanschauungen haben ihre Überzeugungskraft und Attraktivität verloren; das hochgepriesene »autonome Sub­jekt« und die Verabsolutierung des Individuums auf Kosten der Gemeinschaft schlägt um in ein Gefühl der grenzenlo­sen Vereinsamung und Bedrohung dieses Subjekts; eine ungeheure Ernüchterung greift um sich – Resignation und Desorientierung sind die Folge.

Zaghaft deuten sich neue Aufbrüche an: Die Lebensphi­losophie läßt das Gespür für die Einheit der Welt und deren lebendige Sinnstrukturen wachsen; die Jugendbewegung führt zu einem neuen Bewußtsein des unabdingbaren Wer­tes von Gemeinschaft und bringt als Wanderbewegung zugleich ein neues Natur-Gefühl und -Bewußtsein mit sich; das Gesetz der Form und das Objektive überhaupt finden stärkste Beachtung und rücken gewachsene Werte und vorgegebene Institutionen in ein neues und besseres Licht; hinzu kommt eine tastende Suche nach Transzendenz, nach dem Mystischen, Geistigen, Religiösen – nach einem Mysterium, das als solches menschlichem Zugriff entzogen ist.

Politisch gesehen wird die erste Jahrhunderthälfte nicht weniger von Strömungen und Ereignissen geschüttelt, die in neue Perspektiven- und Hoffnungslosigkeit führen. Zu einem ersten, lange nachwirkenden Zusammenbruch kommt es in Deutschland nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Der Untergang des Kaiserreiches, die Wirren der jungen Weimarer Republik, die katastrophale wirt­schaftliche Situation, die verführerische Sammlungsbewe­gung des Dritten Reiches und ihr zunächst geradezu unbe­grenzt erscheinendes Hoffnungspotential, das zu Ende des Zweiten Weltkrieges als Utopie verpufft und eine gähnende Leere, neue Resignation und Verzweiflung hinterläßt – all das charakterisiert in politischer Hinsicht jene Zeit, in der Odo Casel auf seine Weise zu einer grundlegenden geistigen und theologischen Erneuerung beiträgt.

Doch auch die innerkirchliche Situation dieser Zeit ist alles andere als hoffnungsvoll: Der Versuch einiger Theolo­gen um die Jahrhundertwende, die Zeichen der Zeit zu erkennen und dem geschichtlichen Denken auch in der Auslegung der Glaubenswahrheiten Raum zu geben, wird als »Modernismus« abgetan und mit unerwarteter Schärfe verurteilt – ein Vorgang, der die katholische Theologie bis zum II. Vatikanischen Konzil aufs schwerste hemmt und belastet. Eine neue Epoche der Restauration greift um sich, die den geistigen Herausforderungen der Zeit nicht gewach­sen ist. Statt dessen werden die unterschwelligen Reformbe­wegungen, vor allem die Liturgische Bewegung, die Kirch­liche Bewegung, aber auch die katholische Jugendbewe­gung von ständigem Mißtrauen der Kirchenleitung begleitet und vielfach grundlos verdächtigt und angegriffen. Jeder Schritt in eine neue Richtung führt daher in schwere Gewissenskonflikte und oft genug zu schärfster kirchlicher Maßregelung.

Dennoch bricht sich langsam und unaufhaltsam in theo­logischen Kreisen ein neues Bewußtsein Bahn: Von einem (Wieder-)Erwachen der Kirche in den Seelen ist schon bald die Rede (R. Guardini); gemeint ist damit eine Überwin­dung der äußerlichen Sicht der Kirche als rein gesellschaftli­cher Größe und ihre Betrachtung als »Leib Christi«, geformt aus den vielen einzelnen Gläubigen. Diese Perspek­tive führt mit der radikalen Frage nach Mitte und Wesen des Christentums sehr bald zu einer christologischen Neubesinnung – nicht der verklärte Christus, sondern der Jesus der Geschichte, sein Leben, Leiden und Sterben, die »Mysterien des Lebens Jesu« rücken nun in die Mitte des Glaubensbewußtseins. Im Zuge dieser kirchlichen wie chri­stologischen Neuorientierung werden zugleich Form und Inhalt der Liturgie, besonders aber Sinngestalt und Gehalt der Sakramente neu verstanden.

II

Diese umfassende Reformbewegung, die mit wachsender Eigendynamik zu einer grundlegenden Erneuerung im all­gemeinen Glaubensbewußtsein führt und schließlich im II. Vatikanischen Konzil und den davon eingeleiteten umfas­senden Reformen ihre nachdrückliche offizielle Bestätigung gefunden hat, bildet Rahmen und Hintergrund von Odo Casels Wirken. Dabei weiß er sich zunächst seiner Zeit besonders verpflichtet, in der er vor allem eine tieferrei­chende »Wende zum Mysterium« konstatiert. Seinen wirk­lichen Standort, der ihm selbst und anderen dann weitrei­chende Orientierung gibt, gewinnt er allerdings durch ein tieferes Verständnis des liturgisch-sakramentalen Gesche­hens. Den entscheidenden Anstoß gibt eine eigene geistliche Erfahrung innerhalb der Feier der Liturgie, die Casel intuitiv das Ganze des liturgisch-sakramentalen Handelns neu und ganzheitlich erfassen läßt als symbolisch vermit­telte, wirkliche Teilhabe am sakramental vergegenwärtigten Christusgeschehen. Diese intuitive und zugleich pneumati­sche »Gnosis« (gläubige Schau) der Glaubenswirklichkeit hat dennoch ihre Vorgeschichte, so daß verschiedene Momente zum Neuansatz der Mysterientheologie bei­tragen:

In den ihn prägenden Jahren zu Beginn des 20. Jahrhun­derts begegnet Casel einer weitgehend verkopft und rational ausgerichteten Theologie, der sog. Neuscholastik. Der Sinn für Liturgie, für liturgische Feier, für deren ästhetische und symbolische Formen fehlt darin ebenso wie das Gespür für das Mystische, für das »Mysterium«, das nach biblischem und patristischem Sprachgebrauch die Realität und Realisie­rung göttlicher Heilswirklichkeit in Christus durch die Kirche beinhaltet. Das Sakrament wird hier zudem als bloßes Gnadenmittel verstanden, als dinghaft-objektiv wir­kendes Instrument, welches veranlaßt, daß Gott dem Men­schen »Gnade« mitteilt – wobei diese eine letztlich abstrakte, unanschauliche Größe darstellt. Darüber hinaus erscheint das Gefüge des christlichen Glaubens als ein Gebäude aus verschiedenen, letztlich gleichrangigen und zahlenmäßig beinahe unbegrenzten Glaubenssätzen und einer davon bestimmten Moral – die innere Einheit und existentielle Prägekraft des christlichen Glaubens, sein eigentliches Zentrum und seine wesentlich personale Struk­tur geraten damit völlig aus dem Blick. Eine solche Theolo­gie bleibt unfähig, in einer Zeit der Krise einfach, zupackend und wegweisend die Antwort auf die Frage nach der Mitte des christlichen Glaubens zu geben.

Entscheidende Impulse für die Ausarbeitung seiner theo­logischen Grundüberzeugung empfängt Casel deshalb auch weniger aus Theologie und Kirche seiner Zeit; vielmehr zielt sein Mühen auf eine »Reform aus dem Ursprung«. Deshalb konsultiert er in reichem Maße die Schriften der Kirchenväter und gewinnt so neuen Zugang zum Verständ­nis von Theologie und Liturgie: Theologie wird hier (nach seiner Überzeugung) mitnichten als gelehrte Theorie ver­standen, sondern als Gnosis, als pneumatisch vermittelte und menschlich unvordenkliche und unausdenkliche Ein­sicht in Gottes »Mysterium«, in sein Heilswerk; dieses hat in Jesus Christus seinen weltgeschichtlichen Höhepunkt erreicht, und diese geschichtliche Verwirklichung in Christi Heilstat wird als solche in den sakramentalen Handlungen der Kirche je neue Gegenwart. Der tatsächliche Kulmina­tionspunkt der Glaubenswirklichkeit liegt demnach im liturgisch-sakramentalen Handeln der Kirche – alle Theolo­gie ist Nachhall von und Hinführung zu den Sakramenten und Auslegung ihres Mysterien-Gehaltes.

Nicht satzhaft formulierte Glaubenswahrheiten, nicht abstrakte oder gar theoretisch konstruierte Glaubensfor­meln, sondern der konkrete, wesentlich praktisch geartete Vollzug der sakramentalen Handlungen führt zu jener Mitte des Glaubens, die mit der Sequenz »Gott – in Christus – durch die Kirche – im sakramentalen Handeln« adäquat beschrieben ist. Eine so verstandene, auf der Realsymbolik des sakramentalen Geschehens, also der wirklichen Ver­mittlung von Christi Heilswerk im Sakrament aufruhende Bestimmung der Mitte des Christentums ermöglicht dem einzelnen Christen zugleich den aktiven Mitvollzug des Christusgeschehens in den Sakramenten, die existentielle Gleichgestaltung mit Christus, die sakramental begründete, den Christen auszeichnende Christus-Nachfolge.

III

Diese zentralen Gedanken seiner Mysterientheologie entwickelt Casel maßgeblich aus den Schriften der Kirchen­väter, so daß sie nach seiner Überzeugung keine spekulative Leistung oder eine beliebige Sondermeinung darstellen, sondern jene normative kirchliche Theologie und Lehre, die durch die Alte Kirche ihre Verbindlichkeit gewinnt und nur durch die spätere Vorrangstellung von Scholastik und Neu­scholastik verdrängt wurde. Die »Mysteriengegenwart« des Heilswerkes Christi in Liturgie und Sakrament wird für Casel zu jener Mitte christlicher Glaubenswirklichkeit und vor allem gelebten Christseins, aus dem mitten in der Krise von Zeit und Kultur die wahren Maßstäbe, neue Perspekti­ven und zuverlässige Orientierung zu gewinnen sind. Schließlich enthält die damit vollzogene Hinwendung zur Liturgie noch andere Momente, die den diffusen Zeitströ­mungen neue Richtung geben: Das Gesetz der Form, der vollendet gestalteten Kunst, der vorgegebenen Objektivität prägt zuinnerst das liturgische Geschehen; die Gemein­schaft der liturgisch Handelnden, ausgeweitet zur universa­len Gemeinschaft der Kirche, trägt und umfängt den einzel­nen im Vollzug von Liturgie und Sakrament und sprengt die Grenzen vereinzelter Subjektivität; endlich aber leuchtet im liturgisch-sakramentalen Geschehen jenes Mysterium auf, das die konkrete Struktur des Christusereignisses hat, vom Menschen aber nur gläubig entgegengenommen und prak­tisch mit-vollzogen, nicht jedoch theoretisch konstruiert und entmystifizierend auf den Begriff gebracht werden kann.

Bei der genaueren Erläuterung dieser Mysterienwirklichkeit der liturgisch-sakramentalen Handlungen der Kirche kommt Casel aufgrund seiner philologischen Zweitstudien – 1919 erwirbt er nach einer theologischen Dissertation über die Eucharistielehre Justins (1912) mit einer Arbeit über das mystische Schweigen bei den griechischen Philosophen den philologischen Doktorgrad – noch eine religionsgeschicht­liche Parallele zu Hilfe, die er ebenfalls bereits in den Texten der Kirchenväter bezeugt sieht: Wenn auch die christlichen Sakramente ihren eigenen unableitbaren Ursprung im Christusgeschehen haben, so zeigen sie doch eine erstaunliche Nähe und Strukturähnlichkeiten mit den sog. Mysterienreligionen, deren Idealtypus das Grundmuster sakramentalen Handelns freigibt, auch wenn dieses in letzter Vollkom­menheit und Reinheit erst in den Mysterien, den sakramen­talen Vollzügen des Christentums gegeben ist. So betrach­tet, definiert Casel das Mysterium als »eine heilige kultische Handlung, in der eine Heilstatsache unter dem Ritus Gegenwart wird; indem die Kultgemeinde diesen Ritus vollzieht, nimmt sie an der Heilstat teil und erwirbt sich dadurch das Heil«.

Diese für Casel selbst bezeichnende und für viele damals sicherlich sehr hilfreiche Hinführung zum Verständnis der Besonderheit sakramentalen Handelns aus der Religionsge­schichte – sie dient bei Casel unbestreitbar nur als Hilfskon­struktion, als eine Art allgemein-anthropologischer Hin­führung! – hat in der Folge und bis heute zu mannigfachen Mißverständnissen Anlaß gegeben. Immer wieder wurde Casel fälschlicherweise dahingehend verstanden, daß er – wie einige evangelische Theologen, vor allem aus der reli­gionsgeschichtlichen Schule – die christlichen Sakramente einfachhin aus religionsgeschichtlichen Vorgaben ur­sprünglich ableite. Ihm aber geht es letztlich wohl darum, einer allgemein-religiös wieder empfindsam gewordenen Zeit jeden nur erdenklichen Weg zur Mitte des christlichen Glaubens, zum lebendigen Vollzug seiner Mysterien, also der Sakramente, zu ebnen. So betrachtet erweist sich man­ches Mißverständnis seines Anliegens zugleich als mangeln­des Gespür für jene Not der Zeit, die Casel lebhaft empfun­den und in die Ausgestaltung seiner Mysterientheologie kontextuell einbezogen hat.

IV

Zeit und Ruhe zur Ausarbeitung und zugleich Gelegen­heit zu einer angemessenen Darstellung seiner wegweisen­den Ansätze zu einem neuen Verständnis von Theologie, Kirche und Liturgie hat ihm sein Abt Ildefons Herwegen (1874-1946), der bedeutsame Förderer der Liturgischen Bewegung in Deutschland, in kluger Umsicht bereitgestellt. Vom ersten Band im Jahr 1921 an bis zu seinem frühen Tod 1948 wirkte Casel als Hauptherausgeber des »Jahrbuchs für Liturgiewissenschaft« (seit 1950 »Archiv für Liturgiewis­senschaft«), das im deutschen Sprachraum damals unbe­stritten als die herausragende liturgische Zeitschrift gelten darf. In zahlreichen Aufsätzen und einer nahezu unüber­schaubaren Fülle von Literaturberichten und Rezensionen hat er- unter Anführung einer reichen Fülle von Zeugnissen aus den Schriften der Kirchenväter-die Grundlinien seiner Mysterientheologie ausgezogen und die einmal gewonnene Einsicht gegen verschiedenartige Angriffe vehement vertei­digt. Diese Präsentation seines wegweisenden theologi­schen Neuansatzes brachte Casel und seiner Mysterientheologie nicht nur die notwendige Breitenwirkung; sie führte auch zu einer der bedeutsamsten theologischen Debatten in der ersten Jahrhunderthälfte, die nicht zuletzt durch Casels temperamentvolle Verteidigung seiner Ansichten gegen­über zahlreichen Mißverständnissen erst nach seinem Tod abebbte.

Die äußeren Bedingungen für diese stupende Arbeitslei­stung bot seit 1922 Casels Tätigkeit als Spiritual im Benedik­tinerinnenkloster Herstelle (Weser), die er bis zu seinem plötzlichen Tod am Ostermorgen des Jahres 1948 mit großer Gewissenhaftigkeit und unermüdlichem geistlichen Einsatz ausübte. Hier fand Casel nicht nur jene Stille und Geborgenheit, die ihm die kontinuierliche Fortschreibung, Vertiefung und engagierte Verteidigung »seiner« Mysterientheologie erlaubte – der Schwesternkonvent gab ihm zugleich auch reichlich Gelegenheit (und nötigte zugleich dazu!), die z. T. »hohe Theologie« in schlichter und allge­mein verständlicher Form vorzutragen. Dies geschah in Ansprachen, Vorträgen und sog. »Konferenzen«, zu denen sich der Schwesternkonvent vor allem an Sonn- und Feierta­gen zusammenfand und in denen wichtige Gedanken des Festtages bzw. der entsprechenden liturgischen Texte und Bibelperikopen nach Art heutiger Predigt entfaltet wurden.

Bei dieser Gelegenheit erwies sich immer wieder, daß Casel den Reichtum seiner theologischen Erkenntnis, die Tiefe seiner persönlichen liturgischen Erfahrung und die Fülle des Mysterien-Gedankens in zupackender Weise zu formulieren und mit einfachen Worten zu vermitteln ver­stand. Diesen biographischen Bedingungen verdanken wir daher eine Vielzahl hervorragend formulierter Texte Casels, die – unbefrachtet von ausladenden Zitaten aus den Kir­chenvätern und fernab jeder Sachdiskussion oder polemi­schen Auseinandersetzungen – die zentralen Inhalte seiner Mysterientheologie knapp und anschaulich vorstellen.

V

Der hier vorgelegte Auswahlband bietet einen repräsen­tativen Querschnitt so gearteter Texte, thematisch ausge­richtet auf die Gegenwart und Entfaltung des Christus-Mysteriums im Jahr der Kirche. Weit über den engeren Rahmen sakramentaler Handlungen hinaus hat Casel den Mysteriengedanken nämlich auf die gesamte Liturgie der Kirche, besonders auch auf das »Festmysterium« bezogen. Darin folgt er wiederum dem umfassenden Verständnis von »Mysterium« in der Alten Kirche und schlägt zugleich eine Brücke zum ähnlich breiten Ansatz des Mysteriendenkens in den Kirchen des Ostens. Das Jahr der Kirche versteht er daher als ein einziges, ganzheitliches Mysterium – als Vergegenwärtigung des einen und stets ganzen Christusgeschehens an jedem Sonntag und Festtag, in jeder Fest-Zeit, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten. Sein theologi­sches Gewicht und auch seinen besonderen Reiz gewinnt Casels Auslegung der verschiedenen Zeiten und Feste des Kirchenjahres nicht zuletzt durch seine nachdrückliche Behauptung, im Kirchenjahr gebe es letztlich »nichts Neues, sondern immer dasselbe«. Daß mit dieser Erinne­rung an das unteilbar Ganze des einen Christusgeschehens, das umfassende Christus-Mysterium, keineswegs Monoto­nie und Spannungslosigkeit zur Charakteristik seiner Aus­legung des Kirchenjahres werden, daß vielmehr die wech­selseitige Verschränkung der verschiedenen Festgehalte (Weihnachten im Licht des Kreuzes, Ostern im Zeichen der Epiphanie usw.) das Jahr der Kirche neu und besser verste­hen hilft, zeigen die folgenden Texte immer wieder.

Sie stellen zugleich die erstaunliche Frische und ungebro­chene Leistungsfähigkeit gerade jener Aspekte von Casels Mysterientheologie unter Beweis, die in ihrer Bedeutung meist unterschätzt und bei deren Beschreibung kaum beachtet werden. Daß die tragenden Grundideen und maß­geblichen Einsichten Casels – gerade in ihrer unmittelbaren Zeitnähe und trotz mancher Einseitigkeit – bis in die Gegenwart hinein aktuell und wegweisend bleiben, sollte dabei außer Zweifel stehen. Wer die Zeichen der Zeit genau zu lesen und zu deuten imstande ist, wird im geistigen, politi­schen und kirchlichen Leben der Gegenwart vielfältige Parallelen zu jenen Jahren entdecken, in die der entschei­dende Aufbruch und die Anfänge von Casels theologischem Denken zurückreichen. Der Mut zu neuer Begegnung mit den Fragen der Zeit und die Vorgabe richtungsweisender Perspektiven sind von Kirche und Theologie am Ende des 20. Jahrhunderts ebenso gefragt wie an dessen Beginn.

Der Blick zurück auf die Ursprünge kirchlicher und theologischer Erneuerung bei Odo Casel darf daher nicht selbstzufrieden bei dem stehenbleiben, was nach vielen Kämpfen und Auseinandersetzungen heute als selbstver­ständlicher Besitz des Glaubenslebens gilt. In der Beschäfti­gung mit diesem beständigen Mahner und Reformer ist jener prophetische Impetus wahrzunehmen, der über seine Zeit hinausreicht und in der Gegenwart neue Wege weist, indem er die Zeichen der Zeit zu deuten hilft.

Quelle: Odo Casel, Gegenwart des Christus-Mysteriums. Ausgewählte Texte zum Kirchenjahr, Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag, 1986, S. 9-20.

Hier der Text als pdf.

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