Von Søren Kierkegaard
Wenn historisch nach der Wahrheit des Christentums gefragt wird, zeigt sich gleich die heilige Schrift als ein entscheidendes Aktenstück, und es gilt historisch-kritisch die Schrift zu sichern. Man behandelt da die Zugehörigkeit der einzelnen Schriften zum Kanon, ihre Authentie, Integrität, die Glaubwürdigkeit der Verfasser und man setzt eine dogmatische Garantie: die Inspiration.
Man hört zuweilen Unstudierte oder halbstudierte oder aufgeblasene Genies über die kritische Arbeit an den Schriften des Altertums höhnen, man hört über die Sorgfalt des gelehrten Forschers bei dem Unbedeutendsten töricht spotten, während es gerade seine Ehre ist, daß er wissenschaftlich nichts für unbedeutend ansieht. Nein, die gelehrte Philologie ist ganz in ihrem Recht — aber von der gelehrten kritischen Theologie bekommt man dagegen keinen reinen Eindruck. Ihr ganzes Streben leidet an einer gewissen bewußten oder unbewußten Doppelheit. Es sieht beständig aus, als sollte aus dieser Kritik plötzlich etwas für den Glauben herauskommen, etwas, was diesen angeht. Darin liegt die Mißlichkeit. wenn ein Philologe z. B. eine Schrift von Cicero herausgibt, wenn sein Ingenium und seine durch Eisenfleiß erworbene Vertrautheit mit dem Altertum seinem entdeckenden Takt hilft die Schwierigkeiten zu entfernen, in der Verwirrung der Lesarten dem Gedankengange den Weg zu bahnen, so kann man sich ruhig der Bewunderung hingeben; denn wenn er fertig ist, so folgt daraus nichts anderes als das Bewundernswerte, daß durch seine Kunst und Tüchtigkeit eine Schrift des Altertums in der zuverlässigsten Gestalt zustande gebracht ist. Keineswegs dagegen, daß ich nun auf diese Schrift meine ewige Seligkeit bauen soll; denn für meine ewige Seligkeit, ja das gestehe ich, ist sein erstaunlicher Scharfsinn mir zu wenig; ja ich gestehe, meine Bewunderung wäre nicht froh, sondern mißmutig, wenn ich glaubte, er hätte so etwas im Sinn. Aber gerade so tut die gelehrte kritische Theologie. Wenn sie fertig ist, und bis dahin hält sie uns in Spannung mit dieser Aussicht vor Augen, dann schließt sie: also kannst du nun deine ewige Seligkeit auf diese Schriften bauen. Der, welcher gläubig die Inspiration annimmt, er muß konsequent jede kritische Erwägung, sie sei nun für oder wider, für eine Mißlichkeit, eine Art Anfechtung ansehen; und der, welcher ohne im Glauben zu stehen sich in die kritischen Erwägungen hinauswagt, kann doch unmöglich die Inspiration aus diesen wollen hervorgehen lassen. Wen interessiert denn eigentlich das Ganze?
Der Widerspruch wird nicht gemerkt, weil die Sache rein objektiv behandelt wird; ja dann ist er auch nicht da, wenn der Forscher selbst vergißt, was er hinter den Ohren hat, außer soweit er einmal dazwischen sich selbst lyrisch damit zu der Arbeit ermuntert oder lyrisch mit Beredsamkeit polemisiert. Laßt einen hinzutreten, laßt ihn mit unendlichem persönlichen Interesse in Leidenschaft seine ewige Seligkeit an das Resultat, an das erwartete Resultat knüpfen wollen: er sieht leicht, daß da kein Resultat ist und keins zu erwarten, und der Widerspruch wird ihn zur Verzweiflung bringen. Bloß Luthers Verwerfung des Jakobusbriefes ist genug, ihn zur Verzweiflung zu bringen. Bei einem unendlichen Interesse für eine ewige Seligkeit ist ein Punkt von Wichtigkeit, von unendlicher Wichtigkeit, oder umgekehrt: die Verzweiflung über den Widerspruch wird ihn gerade lehren, daß sich auf dem Wege nicht durchdringen läßt.
Und doch ist es so hingegangen. Eine Generation nach der andern ist ins Grab gegangen; neue Schwierigkeiten sind entstanden, sind besiegt, und neue Schwierigkeiten sind entstanden. Als Erbe ist von Generation zu Generation die Illusion fortgegangen, daß die Methode die richtige ist, aber daß es den gelehrten Forschern noch nicht geglückt ist usw. Alle scheinen sich wohl zu befinden, sie werden mehr und mehr objektiv. Die persönliche unendliche Interessiertheit (welche die Möglichkeit des Glaubens und demnächst der Glaube, die Form der ewigen Seligkeit und danach die Seligkeit ist) verschwindet mehr und mehr, weil die Entscheidung ausgeschoben wird und aufgeschoben wird, als ob sie geradenwegs aus dem Ergebnis der gelehrten Forschung sich ergäbe. Das will sagen: das Problem tritt gar nicht hervor; man ist zu objektiv geworden um eine ewige Seligkeit zu haben; denn sie ist gerade nur da für die unendliche persönliche Interessiertheit, und man gibt sie aus, um objektiv zu werden, sie läßt man sich abnarren von der Objektivität! Durch die Geistlichen, die dann und wann Gelehrsamkeit verraten, bekommt die Gemeinde etwas davon zu erfahren. Die „gläubige Gemeinde“ wird zuletzt bloß eine Titulatur, denn die Gemeinde wird ja objektiv schon allein, indem sie auf die Geistlichen sieht und entgegensieht einem ungeheuren Ergebnis! Nun stürzt ein Feind gegen das Christentum vor. Er ist dialektisch ebenso wohl unterrichtet wie die Forscher und die pfuschende Gemeinde. Er greift ein Buch, eine Reihe von Büchern an. Augenblicklich stürzt der gelehrte Rettungschor herbei usw.
Damit dem Dialektischen sein Recht geschehen kann, laß uns erst das eine und dann das andere annehmen.
Also ich nehme an, daß es glückt, von der Bibel zu beweisen, was jemals ein gelehrter Theologe in seinem glücklichen Augenblick von der Bibel zu beweisen wünschen konnte. Diese Bücher gehören zum Kanon, nicht andere, sie sind authentisch, sind vollständig, die Verfasser sind glaubwürdig — man kann gut sagen, es ist als wäre jeder Buchstabe inspiriert. (Mehr kann man da nicht sagen, denn die Inspiration ist ja Gegenstand des Glaubens, ist qualitativ dialektisch, nicht durch ein Quantitieren zu erreichen.) Ferner, es ist nicht eine Spur von Widerspruch in den heiligen Schriften. Denn laß uns hypothetisch vorsichtig sein, verlautet bloß ein Wort von so etwas, so führt die philologisch-kritische Ruhelosigkeit gleich auf Abwege. Überhaupt ist es nur die diätetische Vorsicht, das versagen jeder gelehrten Zwischenbemerkung, die eins zwei drei zu einer hundertjährigen Parenthese werden könnte, was hier nötig ist, damit die Zache leicht und höchst einfach sein kann. — Also angenommen, alles wäre hinsichtlich der heiligen Schrift in seiner Ordnung — was dann? Ist dann der, welcher nicht Glauben hat, dem Glauben einen einzigen Schritt näher gekommen? Nein, nicht einen einzigen. Denn der Glaube ergibt sich nicht direkt aus einer wissenschaftlichen Erwägung; im Gegenteil, man verliert in dieser Objektivität das persönliche Interesse in Leidenschaft, welche die Bedingung des Glaubens ist, das ubisque et nusquam, worin der Glaube entstehen kann. — hat der, welcher Glauben hatte, etwas an Glaubenskraft und Stärke gewonnen? Nein, nicht das Allermindeste; eher ist er in diesem weitläufigen wissen, in dieser Gewißheit, die vor der Mr des Glaubens liegt und nach ihm begehrt, so gefahrvoll gestellt, daß er viel Anstrengung brauchen wird, viel Furcht und Zittern, um nicht in Anfechtung zu fallen und wissen mit Glauben zu verwechseln, während der Glaube bisher in der Unwissenheit einen nützlichen Zuchtmeister gehabt hat, würde er in der Gewißheit seinen gefährlichsten Feind haben, wird nämlich die Leidenschaft fortgenommen, so ist der Glaube nicht mehr da, und Gewißheit und Leidenschaft vertragen sich nicht. Laß dies eine Parallele beleuchten, wer glaubt, daß es einen Gott gibt und eine Vorsehung, hat es leichter, den Glauben zu bewahren, leichter, den Glauben bestimmt zu fassen (und nicht eine Einbildung) in einer unvollkommenen Welt, wo die Leidenschaft wach gehalten wird, als in einer uneingeschränkt vollkommenen Welt. In solcher ist nämlich der Glaube undenkbar. Deshalb wird auch gelehrt, daß in der Ewigkeit der Glaube abgeschafft ist. — welches Glück da, daß diese gewünschte Hypothese, der kritischen Theologie schönster Wunsch, eine Unmöglichkeit ist, weil selbst die vollkommenste Verwirklichung doch nur eine Annäherung werden kann. Und wieder welches Glück für die Männer der Wissenschaft, daß der Fehler keineswegs bei ihnen liegt, wenn alle Engel sich zusammentäten, sie könnten doch nur eine Annäherung zustande bringen, weil bei historischem Wissen eine Annäherung die einzige Gewißheit ist—aber auch zu wenig, um darauf eine ewige Seligkeit zu bauen.
So nehme ich das Gegenteil an, daß es den Feinden geglückt ist, von der Schrift zu beweisen, was sie wünschen, so gewiß, daß es den hitzigsten Wunsch des giftigsten Feindes übertrifft — was dann? Hat der Feind damit das Christentum abgeschafft? Keineswegs, hat er dem Gläubigen geschadet? Keineswegs, nicht das Allermindeste. Hat er sich selbst das Recht gewonnen, von der Verantwortlichkeit dafür, daß er nicht glaubt, befreit zu sein? Keineswegs, weil nämlich diese Bücher nicht von diesen Verfassern sind, nicht authentisch, nicht vollständig, nicht inspiriert (dies kann jedoch nicht bewiesen werden, da es Gegenstand des Glaubens ist), daraus folgt ja nicht, daß diese Verfasser nicht dagewesen sind und vor allem nicht, daß Christus nicht dagewesen ist. Insofern steht es dem Gläubigen noch ebenso frei, es anzunehmen, ebenso frei, laß uns dies wohl beachten; denn wenn er es auf Grund eines Beweises annähme, wäre er im Begriff den Glauben aufzugeben, kommt es jemals so weit, so wird der Glaube immer einige Schuld haben, da er selbst anfing, dem Unglauben den Sieg in die Hände zu spielen, indem er selbst beweisen wollte, hier liegt der Knoten, und ich werde wieder zu der gelehrten Theologie zurückgeführt. Um wessen willen wird der Beweis geführt? Der Glaube braucht ihn nicht, ja er muß ihn als seinen Feind ansehen. Dagegen wenn der Glaube beginnt, sich vor sich selbst zu schämen, wie wenn eine Liebende nicht genug hat an der Liebe, sondern sich versteckt des Geliebten schämt und das gut gemacht haben muß damit, daß er etwas Ausgezeichnetes ist, also wenn der Glaube beginnt, die Leidenschaft zu verlieren, also wenn der Glaube aufhört Glaube zu sein, da tut der Beweis not, um bürgerliche Achtung bei dem Unglauben zu genießen, was auf diesem Punkte durch Verwechslung der Kategorien von geistlichen Rednern in rhetorischen Dummheiten geleistet ist, ach laß uns davon nicht reden. Die Eitelkeit des Glaubens (ein modernes Surrogat — wie können die glauben, die Ehre voneinander nehmen, Johannes 5,44) will und kann natürlich nicht das Martyrium des Glaubens tragen, und ein eigentlicher Glaubensvortrag ist vielleicht der Vortrag, der ant seltensten in ganz Europa gehört wird. Die Spekulation hat alles, alles, alles verstanden! Der geistliche Redner hält doch etwas zurück, er gesteht, daß er noch nicht alles verstanden hat, er gesteht, daß er strebt (armer Bursch, das ist eine Verwechslung der Kategorien!). „Ob da jemand ist, der alles verstanden hat,“ sagt er, „so gestehe ich (ach, er ist beschämt, und merkt nicht, daß er Ironie gegen die andern brauchen sollte), „daß ich es nicht verstanden habe, nicht alles beweisen kann, und wir Geringeren (ach, er fühlt seine Geringheit an einer sehr unrichtigen stelle) müssen uns mit dem Glauben begnügen.“ Arme mißkannte höchste Leidenschaft, Glaube, daß du dich mit einem solchen Verteidiger begnügen mußt; armer geistlicher Bursch, der nicht richtig in der Wissenschaft mit fortkommen kann, aber der dafür den Glauben hat, den Glauben, der Fischer zu Aposteln machte, den Glauben, der Berge versetzen kann — wenn man ihn hat!
Die objektive Betrachtung hat ihr Bestehen von Generation zu Generation gerade dadurch, daß die Menschen mehr und mehr objektiv werden, immer weniger unendlich interessiert in Leidenschaft. Unter der Voraussetzung, daß man auf diesem Wege den Beweis für die Wahrheit des Christentums zu suchen fortführe, würde das Merkwürdige zuletzt eintreten, daß gerade, wenn man mit dem Beweise für seine Wahrheit fertig wäre, es aufgehört hätte etwas Gegenwärtiges zu sein; in dem Grade wäre es etwas historisches geworden, daß es etwas vergangenes wäre, dessen Wahrheit, nämlich dessen historische Wahrheit nun zur Zuverlässigkeit gebracht wäre. Auf diese Weise könnte die bekümmerte Prophezeiung Lukas 18,8, in Erfüllung gehen: doch, wenn des Menschen Lohn kommt, ob er wohl Glauben finden wird auf Erden?
Je mehr der Betrachter objektiv wird, desto weniger baut er eine ewige Seligkeit, nämlich seine ewige Seligkeit auf seine Stellung zu den Betrachtungen, denn von einer ewigen Seligkeit ist nur die Bede für die in Leidenschaft unendlich interessierte Persönlichkeit. (Objektiv versteht sich da der Betrachter (er sei nun ein forschender Gelehrter oder ein pfuschendes Gemeindeglied) in folgender Abschiedsrede an des Lebens Grenze: da ich jung war, wurden die und die Bücher bezweifelt, nun hat man ihre Echtheit bewiesen, aber nun hat man freilich wieder in der letzten Zeit Zweifel an einigen Büchern erhoben, welche man früher niemals bezweifelt hat. Aber es wird gewiß noch ein Gelehrter kommen usw.
(Abschließende Nachschrift 1, Kap. 1.)
Jak. 1, 23. So jemand ist ein Hörer des Wortes und nicht ein Täter, der ist gleich einem Manne, der sein leibliches Angesicht im Spiegel beschaut.
— Das Wort Gottes ist ja der Spiegel, aber, aber — o unübersehbare Weitläufigkeit! wie viel gehört im strengeren Sinne zum „Worte Gottes“, welche Bücher sind echt, sind sie auch von den Aposteln, und sind diese auch glaubwürdig, haben sie alles selbst gesehen, oder vielleicht verschiedenes doch nur von andern gehört? Und nun die Lesarten, 30.000 verschiedene Lesarten! Und dann dieser Zusammenlauf und dies Gedränge von Meinungen, von gelehrten und ungelehrten Meinungen darüber, wie die einzelne Stelle zu verstehen, sei — nicht wahr, das sieht etwas weitläufig aus! Das Wort Gottes ist der Spiegel — ich soll, wenn ich lese oder höre, mich im Spiegel sehen: aber sieh, die Geschichte mit dem Spiegel verwirrt sich so, daß ich wohl nie dazu komme, mich zu spiegeln — wenigstens nicht, wenn ich den Weg einschlage. Fast könnte man versucht werden anzunehmen, daß hier ein Teil menschlicher Arglist mit im Spiele wäre (ach, und wahr ist es, wir Menschen sind gegenüber Gott und dem Göttlichen und der gottesfürchtigen Wahrheit so arglistig; es verhält sich gar nicht so, wie wir wohl zueinander sprechen, daß wir so gerne den Willen Gottes tun wollen, wenn wir ihn nur erfahren könnten) fast könnte man versucht werden anzunehmen, daß dies Arglist sei, daß wir Menschen nicht gern daran wollen, uns in jenem Spiegel zu sehen, und daß wir darum alles dies erfunden haben, was droht den Spiegel unbrauchbar zu machen, dies alles, was wir dann mit dem lobpreisenden Namen gelehrten und gründlichen und ernstlichen Forschens und Sinnens ehren.
Mein Zuhörer, wie hoch hältst du das Wort Gottes? Sage nun nicht, du hieltest es so hoch, daß kein Ausdruck es bezeichnen könne; denn man kann auch in so hohen Ausdrücken reden, daß man gar nichts sagt. Laß uns daher, damit wir zu etwas kommen, ein einfaches menschliches Verhältnis nehmen; hältst du Gottes Wort höher, um so viel besser.
Denke dir einen Liebenden, der von der Geliebten einen Brief empfangen hat — so teuer wie dieser Brief dem Geliebten ist, nehme ich an, daß dir das Wort Gottes sei; wie der Liebende diesen Brief liest, nehme ich an, daß du liest und meinst so Gottes Wort lesen zu müssen.
Doch vielleicht sagst du, „ja, aber die heilige Schrift ist in einer fremden Sprache geschrieben.“ Es sind doch wohl eigentlich die Gelehrten, welche die heilige Schrift in der Grundsprache zu lesen brauchen; aber willst du nicht anders, willst du daran festhalten, daß du die Schrift in der Grundsprache lesen müßtest: nun wohl, wir können gut bei dem Briefe der Geliebten bleiben, wir fügen nur eine kleine Bestimmung hinzu.
Ich nehme daher an, daß der Brief von der Geliebten in einer Sprache geschrieben sei, die der Liebende nicht versteht; und es ist keiner an dem Ort, der ihm denselben übersetzen könnte und vielleicht würde er nicht einmal solche Hilfe wünschen, um nicht einen Fremden in seine Geheimnisse einzuweihen, was tut er? Er nimmt ein Wörterbuch, begibt sich daran, den Brief durchzubuchstabieren, schlägt jedes Wort auf, um eine Übersetzung zustande zu bringen. Laß uns annehmen, daß ein Bekannter zu ihm hereinkommt, während er mit dieser Arbeit beschäftigt ist. Er weiß, daß dieser Brief gekommen ist; indem er auf den Tisch hinblickt, sieht er ihn daliegen und sagt: „Nun, du sitzest und liest den Brief, den du von deiner Geliebten bekommen hast“ — was meinst du, daß der andere sagen wird? Er antwortet: „Du bist von Sinnen! Glaubst du, das heiße einen Brief von der Geliebten lesen! Nein, mein Freund, ich sitze hier in Mühe und saurem Schweiß, um mit Hilfe des Wörterbuchs ihn zu übersetzen; mitunter bin ich nahe daran, vor Ungeduld zu vergehen, das Blut steigt mir zu Kopfe, daß ich das Wörterbuch auf die Diele werfen möchte — und das nennst du lesen, willst du meiner spotten! Nein, bald bin ich, Gott sei Dank, mit der Übersetzung fertig, und dann, ja dann, dann will ich daran, den Brief von der Geliebten zu lesen, das ist etwas ganz anderes — doch, mit wem rede ich … Dummer Mensch, geh mir aus den Augen, ich mag dich nicht sehen, weil du darauf verfallen konntest, in dem Grade mich und die Geliebte zu beleidigen, daß du das einen Brief von ihr lesen nanntest! Und doch, bleibe, bleibe, du weißt wohl, es ist nur mein Scherz, ja, ich sähe es sogar sehr gerne, daß du bliebest, aber aufrichtig gesprochen, ich habe jetzt keine Zeit, es ist noch etwas übrig zu übersetzen, und mich verlangt mit solcher Ungeduld danach, zum Lesen zu kommen — darum sei nicht böse, aber geh, daß ich fertig werde.“
Also der Liebende macht bei dem Brief von der Geliebten einen Unterschied zwischen Lesen und Lesen, zwischen dem Lesen mit Wörterbuch und dem Lesen des Briefes von der Geliebten. Das Blut steigt ihm zu Kopf vor Ungeduld, wenn er sitzt und sich abmüht bei dem Lesen mit dem Wörterbuch, er wird wie rasend, da sein Freund es wagt, dies gelehrte Lesen ein Lesen des Briefes der Geliebten zu nennen. Nun ist er fertig mit der Übersetzung — nun liest er den Brief der Geliebten. Er betrachtet diese ganze, wenn du so willst, gelehrte Vorarbeit als ein notwendiges Übel, um dazu zu kommen, den Brief der Geliebten zu lesen.
Laß uns nicht zu früh das Bild aufgeben. Laß uns annehmen, dieser Brief der Geliebten enthielte nicht bloß, wie solche Briefe gewöhnlich, den Ausdruck eines Gefühls, sondern es wäre ein Wunsch darin ausgesprochen, etwas, wovon die Geliebte wünschte, daß der Liebende es tun sollte. Laß uns annehmen, es wäre viel, was von ihm gefordert würde, sehr viel, es wäre guter Grund vorhanden, würde jeder Dritte sagen, sich zu bedenken: aber der Liebende — in derselben Stunde flugs davon, um den Wunsch der Geliebten zu erfüllen!
Laß uns annehmen, daß die Geliebten nach einiger Zeit zusammenträfen, und die Geliebte sagte: „Aber, Lieber, das hatte ich ja gar nicht von dir verlangt, du mußt das Wort verkehrt verstanden oder verkehrt übersetzt haben“ — glaubst du, es würde den Liebenden nun verdrießen, daß er, statt in derselben Stunde gleich zu eilen dem Wunsche nachzukommen, nicht zuerst sich einige Bedenken gemacht hätte und dann vielleicht noch ein paar Wörterbücher zu Rate gezogen, dann mehr Bedenken bekommen, und dann vielleicht das Wort richtig übersetzt hätte und also frei gewesen wäre — glaubst du, dies sein Verfahren würde ihn verdrießen, glaubst du, er wird der Geliebten weniger gefallen? Denke dir ein Kind, recht ein solches, welches man einen wackeren und tüchtigen Schüler nennt; nachdem der Lehrer ihnen eines Tages die Lektion für den nächsten Tag aufgegeben hat, sagt er, laßt mich nun sehen, daß ihr eure Sache morgen gut könnt. Auf unseren wackeren Schüler macht dies einen tiefen Eindruck. Er kommt von der Schule nach Hause — flugs an die Arbeit! Aber er hat nicht ganz genau gehört, wieviel ihnen aufgegeben ist; was tut er? Diese Ermahnung des Lehrers ist es, die auf ihn Eindruck gemacht hat, er lernt wohl doppelt soviel, als ihm, wie es sich zeigt, wirklich aufgegeben ist: glaubst du, der Lehrer wird ihn weniger gern haben, weil er eine doppelt so große Lektion ganz ausgezeichnet weiß? Denke dir einen anderen Schüler: er hörte auch des Lehrers Ermahnung, er hat auch nicht genau zugehört, wieviel ihnen aufgegeben ist. Als er nach Hause kam, sagte er: ich muß erst erfahren, wieviel uns aufgegeben ist. So ging er denn zu einem seiner Kameraden; der war nicht zu Hause, dagegen kam er ins Gespräch mit einem älteren Bruder desselben — und so kam er nach geraumer Zeit nach Hause, und da war die Zeit vergangen, und aus dem Arbeiten wurde gar nichts!
Also der Liebende machte einen Unterschied bei dem Brief der Geliebten zwischen Lesen und Lesen; ferner meinte er es mit dem Briefe so, daß, wenn ein Wunsch in dem Briefe ausgesprochen war, er sogleich anfangen müßte ihn zu erfüllen, und daß nicht eine Sekunde zu verlieren wäre.
Nun denke an das Wort Gottes, wenn du das Wort Gottes gelehrt liest mit Wörterbuch usw., so liest du nicht das Wort Gottes — erinnere dich an den Liebenden, der sagte: „Das heißt nicht, den Brief der Geliebten lesen.“ Bist du nun ein Gelehrter, so hüte dich doch ja, daß du nicht über all diesem gelehrten Lesen (was nicht Gottes Wort lesen heißt) vergissest, das Wort Gottes zu lesen. Bist du nicht gelehrt, o beneide jenen nicht, freue dich, daß du gleich dazu kommen kannst, das Wort Gottes zu lesen! Und ist da nun ein Wunsch, ein Gebot, ein Befehl, so erinnere dich an den Liebenden! — Flugs von dannen, um danach zu tun! „Aber, sagst du vielleicht, es sind so viele dunkle Stellen in der heiligen Schrift, ganze Bücher, die fast wie Rätsel sind.“ Hierauf würde ich antworten: wenn ich mich auf diese Einwendung einlassen sollte, müßte sie von einem gemacht werden, dessen Leben ausdrückte, daß er genau allen den Stellen nachgekommen wäre, die leicht zu verstehen sind; ist das der Fall mit dir? Denn so würde der Liebende es mit dem Briefe machen, wenn dunkle Stellen, aber auch deutlich ausgesprochene wünsche in ihm wären; er würde sagen: „ich muß flugs dem Wunsche nachkommen, dann will ich sehen, was mit den dunklen Stellen wird; aber wie könnte ich mich wohl hinsetzen und über die dunklen Stellen grübeln und den Wunsch unerfüllt lassen, den Wunsch, den ich deutlich verstand!“ Das heißt, wenn du das Wort Gottes liest: was dich verpflichtet, sind nicht die dunklen Stellen, sondern das was du verstehst, und dem hast du augenblicklich nachzukommen. wäre es nur eine einzige Stelle, die du in der ganzen heiligen Schrift verstündest, so hast du zuerst das zu tun; aber nicht hast du dich erst hinzusetzen und über die dunkeln Stellen zu grübeln. Gottes Wort ist dir gegeben, daß du danach handeln sollst, nicht dazu, daß du dich üben sollst, dunkle Stellen zu erklären. Liest du das Wort Gottes nicht so, daß du bedenkst, daß das geringste, was du davon verstehst, dich augenblicklich verpflichtet danach zu tun, so liest du nicht das Wort Gottes. So meinte der Liebende: „wenn ich statt augenblicklich zu der Erfüllung des Wunsches zu eilen, den ich verstehe, mich hinsetzen will und über das grübeln, was ich nicht verstehe, so lese ich nicht den Vries der Geliebten. Ich kann mit gutem Gewissen vor die Geliebte hintreten und sagen: es waren einige dunkle Stellen in deinem Briefe, bei denen habe ich gesagt: kommt Zeit, kommt Rat; aber es war ein Wunsch da, den ich verstand, den habe ich augenblicklich erfüllt. Dagegen kann ich nicht mit gutem Gewissen vor sie hintreten und sagen: es waren einige dunkle Stellen in deinem Briefe, die ich nicht verstand, über die setzte ich mich hin zu grübeln und von deinem Wunsche, den ich wohl verstand, sagte ich: kommt Zeit, kommt Rat.“ — Aber vielleicht fürchtest du, daß es dir mit dem Worte Gottes gehen möchte, wie es dem Liebenden mit dem Briefe ging, daß du (doch diese Furcht ist gegenüber der Forderung Gottes gewiß unbegründet), daß du zuviel tun möchtest, daß du bei dem Rufschlagen in noch einem Wörterbuch sehen würdest, daß doch nicht so viel gefordert wäre: o, mein Freund, mißfiel dies denn der Geliebten, daß der Liebende dazu gekommen war, zu viel zu tun? Und was meinst du, würde der Liebende davon sagen, eine solche Furcht zu nähren? Er würde sagen: „wer eine solche Furcht nährt, daß er zu viel tue, der liest nicht den Brief der Geliebten“; und ich werde sagen: der liest auch nicht das Wort Gottes.
Lassen wir dies Bild mit dem Brief der Geliebten noch nicht fahren. Als er saß und damit beschäftigt war, denselben mit Hilfe eines Wörterbuchs zu übersetzen, wurde er gestört, indem ein Bekannter zu ihm kam. Er wurde ungeduldig, „aber“, würde er gewiß sagen, „bloß weil ich aufgehalten wurde, denn sonst war es einerlei, ich las ja damals den Brief nicht. Ja, wäre jemand zu mir gekommen, während ich saß und den Brief las, das wäre etwas ganz anderes, das wäre eine Störung gewesen. Doch dagegen will ich mich schon sichern; ehe ich damit anfange, schließe ich meine Mr zu und bin nicht zu Hause. Denn ich will allein sein, ungestört mit dem Brief allein; bin ich das nicht, so lese ich auch den Brief der Geliebten nicht.“
Er will allein sein, ungestört mit dem Brief allein; — „sonst,“ sagt er, „lese ich nicht den Brief der Geliebten.“
Und so mit dem Worte Gottes; wer nicht mit dem Worte Gottes allein ist, der liest nicht Gottes Wort.
Mit dem Worte Gottes allein! Mein Zuhörer, laß mich hier ein Bekenntnis über mich selbst ablegen: ich wage noch nicht recht, mit dem Worte Gottes allein zu sein, so daß kein 5innenbetrug sich unterschiebt. Und erlaube mir dann eins zu sagen: ich habe niemals jemand gesehen, von dem ich glauben durfte, daß er Mut und Aufrichtigkeit genug hatte, um mit dem Worte Gottes allein zu sein, so daß kein, gar kein Sinnenbetrug sich dazwischenschiebt.
Daß dies Alleinsein mit dem Worte Gottes eine gefährliche Zache ist, das ist auch stillschweigend zugestanden gerade von den tüchtigeren Menschen. Es war vielleicht einer (ein tüchtigerer, ein ernsterer Mensch, ob wir auch nicht seinen Beschluß loben können) der zu sich selber sagte: „ich tauge nicht dazu, etwas halb zu tun — und dieses Buch, das Wort Gottes, ist ein äußerst gefährliches Buch für mich, und es ist ein herrschsüchtiges Buch, gibt man ihm nur einen Finger, so nimmt es die ganze Hand, gibt man ihm die ganze Hand, so nimmt es den ganzen Mann und wandelt vielleicht plötzlich mein ganzes Leben um nach einem ungeheuren Maßstabe. Nein, ohne mir (was ich verabscheue) ohne mir ein einziges spottendes oder herabsetzendes Wort über dieses Buch zu erlauben: ich lege es beiseite, ich will nicht mit demselben allein sein/ wir billigen das nicht, aber es ist doch immerhin etwas darin, was wir billigen, eine gewisse Redlichkeit.
Aber man kann sich auch auf eine ganz andere Weise gegen das Wort Gottes wehren, darauf trotzen, daß man sehr wohl wagt mit demselben allein zu sein, was doch nicht wahr ist. Denn nimm die heilige Schrift — schließe deine Tür, aber dann nimm zehn Wörterbücher, fünfundzwanzig Auslegungen: dann kannst du es ebenso ruhig und ungeniert lesen, wie du die Zeitung liest. Fällt es dir dann, wunderlich genug, ein, gerade wenn du am allerbesten sitzest und eine Stelle liest, zu fragen: habe ich dies getan, handle ich danach (es ist natürlich in einem zerstreuten Augenblicke, wo du nicht in gewöhnlichem Ernst gesammelt bist, daß du auf so etwas verfällst), so ist die Gefahr doch nicht so groß. Denn sieh, vielleicht sind da verschiedene Lesarten, und vielleicht ist jetzt gerade eine neue Handschrift gefunden und dann ist Aussicht auf neue Lesarten, und vielleicht sind fünf Ausleger der einen Meinung und sieben der andern, und zwei haben eine merkwürdige Meinung, und drei schwanken oder haben gar keine Meinung, und „ich selbst bin nicht ganz mit mir einig über den Sinn dieser Stelle, oder um meine Meinung zu sagen, ich bin derselben Meinung wie die drei Schwankenden, die keine Meinung haben“ usw. Ein solcher kommt dann nicht in dieselbe Verlegenheit wie ich: entweder gleich nach dem Worte tun oder doch ein demütigendes Geständnis ablegen zu müssen. Nein, er ist ruhig, er sagt: „es ist von meiner Seite nichts im Wege, ich will schon danach tun — wenn es nur erst mit der Lesart in Ordnung gebracht wird und die Ausleger einigermaßen einig werden.“
Aha! Damit hat es nämlich gewiß gute Wege. Dagegen erreicht der Mann, daß es ungewiß bleibt, ob der Fehler in ihm steckt, daß er nicht Lust hat, Fleisch und Blut zu verleugnen und nach dem willen Gottes zu tun. O trauriger Mißbrauch der Gelehrsamkeit, o daß es den Menschen so leicht gemacht wird, so sich selbst zu betrügen!
(Zur Selbstprüfung, Deichert, Erlangen.)
Quelle: Sören Kierkegaard, ausgewählt und bevorwortet von Albert Bärthold, Hamburg: Agentur des Rauhen Hauses, 1906, S. 123-139.