Jürgen Roloff, Ein Buch, das aus dem Rahmen fällt. Die Apostelgeschichte: „Die Kirche ist Werk und Wirkung des Heili­gen Geistes. Er ist bleibend in ihr gegenwärtig, er­füllt ihre Lebensvollzüge, gibt ihr die Richtung ih­res Weges vor und geleitet sie auf diesem.“

Ein Buch, das aus dem Rahmen fällt. Die Apostelgeschichte: Ihr Ziel, ihre Eigenart, ihre Tendenzen

Von Jürgen Roloff

Gemeinhin wird Eusebius von Caesarea (geb. vor 264/265, gest. 339 oder 340) als „Vater der Kirchengeschichte“ bezeichnet. Das erste kirchengeschichtliche Werk stammt jedoch vom Evangelisten Lukas, der sich schon im Vorwort zu seinem Evangeli­um als Theologe und Historiker zeigt. Sein zweites Werk, die Apostelgeschichte, nimmt im Neuen Testament eine Sonderstellung ein. Jürgen Roloff gibt eine Einführung in die Schrift und erläutert ihre Eigenart.

Bereits der Blick auf Reihenfolge und Anord­nung der neutestamentlichen Schriften kann uns die Sonderstellung der Apostelgeschichte (=Apostelgeschichte) bewusst machen. Sie steht zwischen den Evange­lien und den Briefen des Paulus, ohne einem die­ser beiden Bereiche direkt zuzugehören. Mit den Evangelien scheint sie zwar äußerlich dadurch verbunden zu sein, dass sie wie diese ein er­zählendes Buch ist. Aber sie hat eine andere The­matik als diese: Sie handelt nicht von Botschaft und Weg Jesu von Nazaret, sondern von der An­fangsge­schichte der Kirche und ihrem Weg von „Jerusalem“ über „ganz Judäa und Samarien“ bis an die „Grenzen der „Erde“ (1,8) bzw. – wie das konkret in ihrem Abschluss zum Ausdruck kommt – bis nach Rom (28,30f). Zweifellos stammt sie aus der Feder desselben Verfassers wie das dritte Evan­gelium, den die altkirchliche Überlieferung Lukas nennt, und gibt sich in ihrem Proömium als des­sen Fortsetzung zu erkennen (1,1f); aber sie folgt nicht unmittelbar nach diesem, sondern ist durch ihre Stellung vom kanonischen Vier-Evangelien-Kanon deutlich abgerückt. Aber auch die Stellung der Apostelgeschichte zu den paulinischen Briefen ist nicht ganz einfach zu bestimmen. Zwar gibt es gute Gründe für die Annahme, dass sie ihre Aufnahme in den neutestamentlichen Kanon ihrem inhaltlichen Be­zug auf den großen Heidenapostel verdankt: Sie dürfte in der frühen Kirche als Kommentar zu den Paulusbriefen gelesen worden sein. Formal ist sie jedoch kein Brief, sondern eine Erzählung, die kei­neswegs Paulus als alleinigen Gegenstand hat, son­dern sehr viel weiter ausgreift; und überdies lässt sich das, was sie über den Apostel erzählt, in man­cher Hinsicht nur schwer mit dem zur Deckung bringen, was sich aus dessen Briefen entnehmen lässt.

Der Titel des Buches

Die Überschrift, die das Buch im griechischen Text trägt, „Taten (praxeis) der Apostel“ kann nicht zum Verständnis seiner Eigenart helfen. Wie die Überschriften aller neutestamentlichen Schrif­ten ist sie erst im zweiten Jahrhundert hinzugefügt worden und erweist sich in ihren beiden Teilen als irreführend. Weder nämlich hat das Buch allzuviel gemeinsam mit jener in der Frühzeit der Kirche sich ausbildenden Literaturgattung, die von „Taten“, d.h. von Wundern einzelner Apostel und Gottes­männer handelte, noch lässt sich die Thematik im Sinne seines Verfassers auf die „Apostel“ eingren­zen, da – mit Ausnahme des Petrus und Johannes – die „Zwölf“ des vorösterlichen Jüngerkreises Je­su, die nach Lukas’ Überzeugung allein Apostel waren (1,21f), eine eher marginale Rolle spielen, während die eigentlichen Protagonisten, Barna­bas, Stephanus, Jakobus und – vor allem – Paulus, dem mehr als die Hälfte des Buches gewidmet ist, von ihm nicht zu den Aposteln im strengen Wort­sinn gerechnet werden. Aufschlüsse über Gattung, literarische Eigenart und schriftstellerisches Ziel lassen sich darum nur aus ihrer kritischen Ana­lyse im Rahmen der uns zugänglichen übrigen Zeugnisse der Geschichte des Urchristentums so­wie aus dem literarischen Vergleich mit anderem zeitgenössischen Schrifttum gewinnen.

Verfasserschaft und literarische Eigenart

Die Identität des Verfassers mit dem des dritten Evangeliums steht für die neuere Forschung außer Frage. Aber wie lässt sich der Zusammenhang zwi­schen seinen beiden Büchern des näheren be­stimmen? In der älteren Forschung war die An­nahme verbreitet, die Apostelgeschichte sei als direkte Fortset­zung des Lukasevangeliums verfasst worden, ja sie bilde sogar den erst nachträglich abgetrennten und zu einem eigenen Buch gemachten zweiten Teil eines ursprünglich einheitlichen Werkes. Das wur­de Anlass zu einem schwerwiegenden theologi­schen Vorwurf, der die neuere Diskussion um die Apostelgeschichte belastet hat: Lukas historisiere die Jesusgeschichte, indem er sie auf eine Ebene mit der Ge­schichte der Kirche stelle, und begehe damit „ei­ne Taktlosigkeit von welthistorischen Dimensio­nen“ (F. Overbeck). Doch erweist sich die sachli­che Voraussetzung dieses Vorwurfs aufgrund formaler und inhaltlicher Beobachtungen als brüchig. Das dritte Evangelium folgt gattungs­mäßig dem von Markus übernommenen Modell der Evangelienschrift, auch wenn der Verfasser sehr viel stärker als die anderen Evangelisten das ihm von der hellenistischen Historiographie vor­gegebene Instrumentarium benutzt. Sein Ende, die Himmelfahrtsszene (Lk 24,50-53), hat deut­lich Abschlusscharakter. Dieselbe Szene wird am Beginn der Apostelgeschichte wiederholt, nunmehr allerdings so variiert, dass sie als Eröffnung und Angabe des Themas des neuen Buches zu dienen vermag (1,1-11). Dieses Thema ist die in der Geschichte Jesu begründete, vom Wirken des Heiligen bestimmte Geschichte des Gottesvolkes, der Kirche. Diese Geschichte verläuft in mehreren Etappen: Der An­fangszeit in Jerusalem (2,1-5,42) folgt die Aus­breitung der Kirche „in Judäa und Samaria“, also bis hin zu den äußersten Rändern des Judentums (6,1-9,31); Gründung und Wachstum der Ge­meinde von Antiochia (9,32-15,35) bedeuten den Beginn der Mission unter den Völkern; mit der Mission des Paulus in Kleinasien und Griechen­land (15,36-19,20) beginnt sodann die weltweite Ausbreitung der Kirche; diese erreicht mit dem al­le Widerstände und Gefahren überwindenden Weg des Paulus in die Welthauptstadt Rom ihren bedeutsamen Zielpunkt (19,21-28,31).

Was lässt sich aber nun über die Person des Ver­fassers – den wir mit der altkirchlichen Tradition Lukas nennen wollen – sagen? Es gibt nach wie vor gute Gründe, die von dieser Tradition vorge­nommene Identifikation mit Lukas, dem „gelieb­ten Arzt“ (Kol 4,14; vgl. Phlm 24; 2Tim 4,11), kri­tisch in Frage zu stellen, auch wenn in der For­schung neuerdings eine größere Zuversicht in die­ser Hinsicht Raum gewinnt. Zur Skepsis mahnen nach wie vor einige schwerwiegende Fehler an zentralen Punkten der Biografie des Paulus. So wäre es schwer verständlich, dass ein unmittelba­rer Mitarbeiter des Paulus diesem den für sein Selbstverständnis zentralen Aposteltitel vorenthalten haben könnte, sowie auch, dass er – gegen dessen ausdrückliches Selbstzeugnis, dass ihm beim Apostelkonzil über die Verpflichtung zur Kol­lekte für Jerusalem hinaus „nichts auferlegt wor­den sei“ (Gal 2,6) – von einer Akzeptanz des Apo­steldekrets durch Paulus berichtet hätte (15,23-29). Auch sonst finden sich in der Apostelgeschichte mehrfach Aussagen, die sich mit den autobiografischen An­gaben der Paulusbriefe nicht in Einklang bringen lassen. Sie mit Gedächtnisfehlern des Lukas zu er­klären oder damit, dass er nur zeitweise in der Ge­meinschaft des Paulus gewesen sei, bleibt letztlich unbefriedigend. Wie dem auch sei – unberührt da­von sollte die Feststellung bleiben, dass Lukas sich als Anhänger und Parteigänger des Paulus ver­stand und mit der Abfassung der Apostelgeschichte dessen theologisches und kirchliches Programm verteidigen und interpretieren wollte. Dafür spricht schon al­lein der äußere Umfang der Paulusdarstellung. Mit einigem Recht könnte man die Apostelgeschichte als „die Geschichte des Apostels Paulus mit Pro­legomena bezeichnen“ (J. Jervell).

Zu diskutieren bleibt die Frage, inwieweit die­ser programmatische Paulinismus seinem Gegen­stand wirklich gerecht wird. Denn Lukas scheint in Distanz zu stehen zu der Theologie des Paulus in seinen großen Briefen. Deren Rechtfertigungs­botschaft findet bei ihm ebensowenig ein ange­messenes Echo wie deren gesetzeskritische Argu­mentation. Paulus erscheint in seiner Darstellung vorwiegend als Missionar und Gemeindegründer in einem stark jüdisch geprägten Umfeld. Wird al­so Paulus nicht durch Lukas nivelliert und ana­chronistisch zum Vertreter einer die Unterschiede zwischen Juden- und Heidenchristentum eineb­nenden großkirchlichen Einheitstheologie ge­macht? Erweist sich Lukas damit nicht als Vertre­ter jener dritten christlichen Generation, die sich in dem für sie selbstverständlich gewordenen Hei­denchristentum häuslich eingerichtet hat und die darum den urchristlichen Anfängen mit ihren Spannungen und Konflikten – und damit auch der Theologie des Paulus – ohne wirkliches Verständ­nis begegnet?

Diese Fragen wären berechtigt, wenn Lukas, wie früher weithin als selbstverständlich ange­nommen worden ist, ein von judenchristlichen Denkweisen und Traditionen nicht berührter Hei­denchrist gewesen wäre. Aber in der Forschung der letzten Jahre verdichtet sich die Vermutung zur Gewissheit: Lukas hatte eine große Nähe zum Ju­denchristentum. Wenn er nicht selbst hellenisti­scher Judenchrist war oder aus dem Kreis der „Gottesfürchtigen“ – der dem Judentum naheste­henden Heiden – entstammte, so lebte er zumin­dest in einer Gemeinde mit starkem judenchristli­chem Einschlag, etwa in Rom, das in seiner Dar­stellung eine so gewichtige Rolle spielt, oder in Antiochia. Auch dürfte er noch der zweiten christ­lichen Generation angehört haben und in einer Zeit geschrieben haben, in der das Judenchristen­tum noch eine durchaus lebendige Kraft war. Für diese Sichtweise sprechen unter anderem das In­teresse an jüdischen Wörtern, Begriffen und Bräu­chen, die Hervorhebung des Umstandes, dass in Jesus die dem Volk Israel gegebenen Heilsver­heißungen erfüllt sind (Lk 2,29-32; 4,21), das stark jüdisch geprägte Messiasbild sowie – vor allem – die Darstellung des Paulus als dessen, der als dem Glauben seiner Väter treuer Jude (Apostelgeschichte 21,23-26), ja als Pharisäer (Apostelgeschichte 22,6) zum Apostel der Heiden geworden ist.

Eine theologische Geschichtsdarstellung

Es gab und gibt unterschiedliche Versuche, die Gattung der Apostelgeschichte zu bestimmen. So hat die „Tübin­ger Schule“ um E Chr. Baur im 19. Jahrhundert in ihr eine propagandistische „Tendenzschrift“ gese­hen, die dazu gedacht war, ihre Leser gezielt mit einer bestimmten Sicht des Christentums zu in­doktrinieren. Andere hielten sie für eine Verteidi­gungsschrift, die die staatlichen Autoritäten des römischen Imperiums von der politischen Unge­fährlichkeit des Christentums überzeugen sollte, für eine idealisierende biografische Studie über Paulus mit ausführlicher Einleitung oder auch schlicht für einen sich mehr oder weniger bewus­st über die geschichtlichen Tatsachen hinwegset­zenden historischen Roman. Demgegenüber hat sich zu Recht die Meinung durchgesetzt, dass wir es mit einem Werk zu tun haben, das der Aufgabe der Geschichtsschreibung genüge tun wollte. Seiner Gattung nach lässt es sich wohl am ehesten als historische Monographie bezeichnen, als ein Werk also, das aus dem weiten Bereich der Ge­schichte einer Epoche ein bestimmtes Thema her­ausgreift, um es eingehend zu behandeln, nämlich das der Kirche und ihrer Entwicklung. Im Sinn des Lukas war diese Beschränkung weder willkürlich, noch unsachgemäß, ging es für ihn dabei doch um das zentrale, für die Epoche entscheidende Thema schlechthin. Denn mit der Kirche trat das im Alten Testament bezeugte Handeln Gottes in der Ge­schichte in sein letztes, entscheidendes Stadium.

Lukas erweist sich, gemessen an den Kriterien professioneller Historiographie seiner Zeit, als durchaus kompetenter Geschichtsschreiber. Er be­herrscht ein kultiviertes literarisches Griechisch, das er freilich nur gelegentlich (so im Prolog seines Evangeliums, Lk 1,1-4) gezielt einsetzt, um im übrigen eine gepflegte, sich nicht selten zu litera­rischer Eleganz aufschwingende Fachprosa zu schreiben. Er verbindet Einzelvorgänge, die an verschiedenen Orten und Zeiten spielen, zu einem kontinuierlichen geschichtlichen Ablauf. Höhe­punkte markiert er durch besonders markante Darstellung. Dabei gelingt es ihm, schon durch die Wahl seiner sprachlichen Mittel Atmosphäre und Stimmung einer Szene lebendig werden zu lassen. Zwischen den verschiedenen Szenen blendet er immer wieder Summarien (z.B. 2,41-47; 4,32-35; 5,12-16) ein, die das für den Leser Wesentliche zu­sammenfassen und die großen Linien hervortreten lassen. Bewusst wechselt er den inneren Rhyth­mus seines Erzählens. Wenn sich in den von den Anfängen der Jerusalemer Gemeinde handelnden Kapiteln 2-5 der erzählerische Ablauf kaum von der Stelle bewegt, so will er mit dieser scheinba­ren Monotonie ein Zustandsbild der Kirche geben und damit seinen Lesern die bleibende Normativi­tät des Anfangs vor Augen führen. Das steht in wirkungsvollem Kontrast zu dem in Kap. 6 ein­setzenden vorwärtsdrängenden Rhythmus. Wenn hier in rasch folgenden knappen Szenen ver­schiedene Orte (Jerusalem, Samaria, Damaskus, Cäsarea, Antiochia) und Akteure ins Blickfeld kommen, so soll damit die Dynamik einer unauf­haltsamen Expansion verdeutlicht werden.

Auch darin entspricht Lukas den Anforderun­gen antiker Geschichtsschreibung, dass er durch chronologische Zwischenbemerkungen (z.B. 11,27; 12,1; 18,1; 19,8; 24,1) die zeitliche Zu­ordnung der berichteten Ereignisse erleichtert, so­wie dass er Anfang und Ende seines Werkes be­sonders sorgfältig gestaltet hat.

Der Stil

Von hellenistischen Geschichtsschreibern (Kleitarch, Livius, Curtius Rufus) hat Lukas sein bevorzugtes Darstellungsmittel Übernomen, den dramatischen Episodenstil. Er benutzt lebendig gestaltete Einzelepisoden, um den Lesern be­stimmte Aussagen, Programme und Thesen nahe zu bringen, die, über die jeweilige Episode hin­ausreichend, Zustände und Entwicklungen be­leuchten. Die Episode gewinnt paradigmatische Bedeutung für einen weitergehenden Zusammen­hang (z. B. 14,8-18; 16,16-40; 17,16-33; 19,23- 40). Von besonderer Bedeutung sind dabei die von den zentralen Personen gehaltenen Reden. Lukas hat sie durchweg selbst komponiert, und er folgte damit ebenfalls der Praxis zeitgenössischer Histo­riker. Ebensowenig wie diesen ging es ihm um die Reproduktion authentischen Wortlautes. Allein darauf kam es an, den Lesern ein typisches Beispiel dafür zu liefern, wie damals in. bestimmten Situa­tionen und Konstellationen – also etwa gegenüber palästinischen Juden (2,14-41) oder gebildeten Heiden (17,22-31) – geredet und gepredigt wor­den ist.

Gelernt hat Lukas von klassischen hellenisti­schen Autoren ferner die Technik der sprachlichen Anlehnung an das geistige Klima des Dargestell­ten. Und zwar war es die Sprache der griechi­schen Bibel, der Septuaginta, die er auf weiten Strecken seines Buches nachahmte. Er wollte da­mit das in der Anfangszeit der Kirche gesprochene Wort „an der Autorität der Heiligen Schrift parti­zipieren lassen“ (E. Plümacher), um so dieses Wort an den Ort zu stellen, der ihm seiner Überzeugung nach zukam. Es war dies eine Entscheidung von programmatischer theologischer Bedeutung, mit der Lukas seine Absicht bekundete, die Tradition biblischer Geschichtsschreibung weiterzuführen.

Tendenzen

Gegen den Charakter der Apostelgeschichte als Geschichts­werk spricht weder der Mangel an Vollständigkeit des Stoffes noch der Verzicht auf distanzierte Ob­jektivität. Ganz allgemein gilt: Objektive Ge­schichtsschreibung in der Weise, dass, unter Ver­zicht auf jede Deutung, nur das dargestellt wird, was sich tatsächlich zugetragen hat, kann es nicht geben. Denn bereits in der Auswertung und Ge­wichtung der dargestellten Vorgänge, in der Wahl der sprachlichen Darstellungsmittel, im Aufzeigen von Zusammenhängen vollzieht sich jeweils Ge­schichtsdeu­tung. Geschichtsschreibung ist not­wendig immer tendenziös, indem sie dem Leser zu einer bestimmten Sicht der Vorgänge führen will. Das gilt erst recht von dem in der Antike ver­breiteten Typus der „tragischen Geschichtsschrei­bung“, der sich auch die Apostelgeschichte zuordnen lässt. Ihr war es darum zu tun war, die Gefühle der Leser an­zusprechen, sie zum Miterleben und Mitleiden zu motivieren.

Der Geschichtsschreiber Lukas ist durchaus tendenziös; er will den Lesern ein bestimmtes Ver­ständnis der dargestellten Vorgänge vermitteln. Wichtig sind ihm dabei insbesondere die folgen­den Punkte:

1. Die Kirche steht in einem unmittelbaren Zu­sammenhang mit Israel. Sie ist das durch Gottes Heilshandeln gesammelte, von seinen Verheißun­gen geleitete Volk Gottes, das durch Jesus, seinen Messias, endzeitlich erneuert und durch das Hin­zukommen der zum Glauben gekommenen Heiden erweitert worden ist. Lukas betont darum zunächst den großen Erfolg der Evangeliumsverkündigung in Jerusalem und Judäa: Die Er­neuerung Israels hat also bereits stattgefunden. Sie ist die Vorbedingung für die dann erfolgende Heidenmission. Lukas verschweigt aber nicht das Problem der den Glauben an Jesus nicht anneh­menden Juden (28,17-28).

2. Die Kirche ist Werk und Wirkung des Heili­gen Geistes. Er ist bleibend in ihr gegenwärtig, er­füllt ihre Lebensvollzüge, gibt ihr die Richtung ih­res Weges vor und geleitet sie auf diesem. In Wen­de- und Entscheidungssituationen greift der Geist unmittelbar ein, setzt Menschen in Bewegung und bewirkt Neues: so die missionarische Hinwen­dung zu Nichtjuden (10,9-16; 10,44), die volle Ge­meinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen (15,28) und den missionarischen Überschritt des Paulus nach Europa (16,9f). Darum übt Lukas äußerste Zurückhaltung bei der Darstellung kirch­licher Konflikte (z.B. 6,1-6; 11,1ff; 15,39f; 21,18-25) und schweigt über kirchliche Gruppen und Entwicklungen abseits der von ihm ins Zentrum gerückten, durch Petrus und Paulus repräsentier­ten kirchlichen Hauptlinie. Beides nämlich würde dem Bild einer eindeutigen, geradlinigen Führung der Kirche durch den Geist widerstreiten.

3. Der vom Geist bestimmte Weg der Kirche führt von Jerusalem, dem Ort der Erneuerung und endzeitlichen Sammlung Israels, nach Rom, dem Zentrum der antiken Welt. Dort ist ihr jetzt die Möglichkeit geöffnet, die Heilsbotschaft allen Menschen, Juden und Heiden, zu verkündigen. Und zwar war es Paulus, der als Werkzeug des Geistes der Kirche diesen Weg gebahnt hat. Ihn, den Träger ihres jüdischen Erbes und zugleich den Promotor der Mission unter den Heiden, will Lu­kas der Kirche als weiter ihren Weg bestimmende Leitfigur vor Augen stellen (20,17-38).

4. Die Kirche war von ihren ersten Anfängen an gegenüber dem Imperium und dessen Vertretern loyal, und diese sind ihr umgekehrt auch durch­wegs fair und vorurteilslos begegnet. Lukas will dadurch die Leser ihrerseits zu Vertrauen gegen­über den staatlichen Behörden motivieren.

Verarbeitete Quellen und Materialien

Unzweifelhaft hat Lukas vielfältige Quellen und Materialien herangezogen. Deren exakte Identifi­kation ist jedoch schwierig, da er sie weitgehend in seinen eigenen Sprachduktus umgeschmolzen hat. Die schriftlichen Quellen waren naturgemäß begrenzt. Einiges spricht dafür, dass er seiner Dar­stellung der antiochenischen Mission (13-14) einen aus Antiochia stammenden Missionsbericht zu Grunde gelegt hat. Ähnlich wird man den so­genannten „Wir-Bericht“ über die große Paulus- Mission in Kleinasien und Griechenland (16,10- 17; 20,5-15; 21,1-18) auf ein Wege- und Stationenverzeichnis von Paulusmitarbeitern zurück­führen. Von einem Paulusbegleiter mag auch das Grundgerüst des Berichts über Haft (21,27-36) und Romreise des Paulus (27,1-44) stammen. Das meiste verarbeitete Material dürfte aus der zur Abfassungszeit noch reichlich sprudelnden Quelle mündlicher Tradition stammen: Dazu gehörten Gründungstraditionen von Gemeinden sowie Personallegenden über Apostel und bedeutende Gestalten der Frühzeit. Vor allem aber hat Lukas den in den paulinischen Gemeinden vorhandenen reichen Fundus von Erinnerungen an das Wirken des Paulus ausgewertet.

Quelle: Bibel und Kirche 55, 2/2000, S. 62-67.

Hier der Text als pdf.

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