Hans-Georg Gadamer über Rudolf Bultmanns Griechisch-Runde in Marburg: „Pünktlich um 8.15 Uhr begannen wir und lasen bis Schlag elf Uhr. Bultmann war ein strenger Mann. Dann erst begann die Nachsitzung. Rauchen durfte man vorher, nur dass Bultmann keine Zigaretten liebte, sondern schwarze Brasil oder Pfeife, und nur für Schlier hatte er aus besonderer Nach­sicht die sogenannten Schwächlingszigarren, die mit einem blonden Deckblatt versehen waren.“

Über Rudolf Bultmanns Griechisch-Runde in Marburg

Von Hans-Georg Gadamer

Bultmann war nicht nur ein scharfer Theologe, sondern auch ein leidenschaftlicher Humanist, und das führte uns schon früh in anderer Weise zusammen. Es ist die berühmte Bultmannsche Graeca, der ich 15 Jahre lang angehört habe. Sie fand jeden Donnerstag, wenn ich mich nicht irre, in Bultmanns Wohnung statt. Heinrich Schlier, Gerhard Krüger, ich selber, später Günther Bomkamm und Erich Dinkler bildeten die kleine Gruppe, die mit Rudolf Bultmann die Klassiker der griechischen Literatur las. Es war keine gelehrte Arbeit. Einer wurde verurteilt, eine deutsche Übersetzung vorzulesen, und die anderen folgten am griechischen Text. Tausende von Seiten haben wir auf diese Weise gelesen. Manchmal entwickelte sich eine Diskussion, die weitere Ausblicke ergab. Aber Bultmann rief uns immer wieder zur Ordnung und zum Fortfahren in der Lektüre. Ob es nun die griechische Tragödie oder die Komödie war, ob ein Kirchenvater oder Homer, ob ein Histo­riker oder ein Redner, wir durcheilten die ganze antike Welt, 15 Jahre lang wöchentlich einen Abend. Das wurde von Bult­mann mit Strenge und mit Beharrlichkeit festgehalten, Woche für Woche. Pünktlich um 8.15 Uhr begannen wir und lasen bis Schlag elf Uhr. Bultmann war ein strenger Mann. Dann erst begann die Nachsitzung. Rauchen durfte man vorher, nur daß Bultmann keine Zigaretten liebte, sondern schwarze Brasil oder Pfeife, und nur für Schlier hatte er aus besonderer Nach­sicht die sogenannten Schwächlingszigarren, die mit einem blonden Deckblatt versehen waren. Aber, wie gesagt, um 11 Uhr gab es etwas zu trinken, meist Wein. Man vergaß aber nie, daß man in einem sparsamen Hause war: wenn die Flasche rundherum ausgeschenkt war, legte sie Bultmann noch einmal hin und goß sich nach einigen Minuten nachträglich noch die wenigen Tropfen ein, die sich dann in der Beuge der Flasche gesammelt hatten. Der heitere Teil, der damit begonnen hatte, zerfiel in zwei Teile, den höheren akademischen Klatsch und das Erzählen von Witzen. Wie ersterer sehr boshaft, durften die letzteren sehr deftig sein, und vor allem Günther Born­kamm feierte mit seiner Erzählgabe wahre Triumphe. Bult­mann notierte die Witze, die ihm dessen würdig schienen, und in späteren Jahren griff er, auch in diesem Punkte das Urbild eines echten Gelehrten, auf den seit langem angesammelten Vorrat schmunzelnd zurück. Eines Tages war der erste Band seiner gesammelten Witze gefüllt, und wir hatten die Aufgabe, einen Mottowitz für den zweiten Band vorzuschlagen, was auch geschah. Fünfzehn Jahre dieser inneren Geselligkeit waren es, als ich im Jahre 1938 oder 1939 Marburg verließ — und ich habe vielleicht nichts so sehr vermißt wie diesen Freundeskreis und diese Form seines Lebens.

Quelle: Hans-Georg Gadamer, Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, Frankfurt a.M.: Klostermann, 1977, S. 37-39.

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