Amt und Ordination — unüberholbare Strukturen?
Von Wilfried Joest
Dieses Referat muß sich darauf beschränken, einige Thesen zu entfalten, zu erklären und so eben als Thesen zur Diskussion zu stellen. Sie ausführlich zu begründen, auf die literarisch geführte Diskussion einzugehen und den vielen Fragen genauer nachzugehen, die sich daran anschließen können, ist in der kurzen Zeit, die zur Verfügung steht, nicht möglich. Was die exegetische Begründung des Standpunktes angeht, der in diesen Thesen sich ausspricht, und sein Verhältnis zur reformatorischen Theologie, so weiß ich mich mit den Referenten, die vor mir gesprochen haben, im wesentlichen eins und kann im Grunde nur das zusammenfassen, was sich schon aus ihren Referaten an grundsätzlichen Einsichten ergab.
Es ist klar, daß das Verständnis der Ordination von dem Verständnis abhängig ist, das man von dem „Amt“ (oder den „Ämtern“) in der Kirche hat. Darum soll in einem ersten Teil zur Frage des Amtes, in einem zweiten zur Frage der Ordination gesprochen werden. Beide Fragen sind heute sehr stark in Bewegung geraten. Strukturelle Veränderungen verschiedenster Art werden gefordert, empfohlen, diskutiert, auch ausprobiert, von niemand a limine und auf der ganzen Linie abgelehnt, von manchen aber doch an gewissen neuralgischen Punkten abgelehnt — und zwar dann in der Regel mit dem Hinweis auf das Unüberholbare der göttlichen Stiftung. Darum stellen wir die Frage des Amtes wie die der Ordination unter den Gesichtspunkt: unüberholbare Strukturen?
I. Zur Frage des Amtes
These 1: Der Auftrag, das Evangelium zu verkündigen, ist mit dem Evangelium selbst unüberholbar von Gott gegeben. Zum Verkündigen des Evangeliums gehört der Vollzug von Taufe und Abendmahl. Die Verkündigung des Evangeliums geschieht nicht ausschließlich, aber unverzichtbar auch und regelmäßig in der gottesdienstlichen Versammlung der Gemeinde.
Diese erste These darf hoffen, etwas auszusprechen, worin evangelische Christen sich bei aller Verschiedenheit ihrer theologischen Richtungen im allgemeinen und ihrer Gedanken über Amt und Ordination im besonderen einig sein können. Wenn hier etwas unüberholbar vorgegeben und unverzichtbar aufgegeben ist, dann ist es der Auftrag, das Evangelium zu verkündigen. Mit dem Evangelium selbst ist dieser Auftrag von Gott gegeben, von Jesus Christus ausgesprochen: „Wie mich der Vater gesendet hat, so sende ich euch.“ Die Kirche kann aus diesem Auftrag nicht austreten. Sie kann auch das Evangelium in seinem Inhalt nicht verändernd überholen, sie kann es nur verstehbar auslegen wollen. Der Auftrag schließt also in sich, daß das Evangelium „rein gepredigt“, in seiner Identität mit sich selbst weitergegeben werde. Was das an Problematik in sich trägt im theologischen Streit um die Frage, was denn noch als Auslegung des „unverfälschten“ Evangeliums gelten dürfe und was nicht, das ist hier nicht zu erörtern. Im Verständnis des Auftrags der Weitergabe selbst jedenfalls sollte Übereinstimmung möglich sein. Niemand kann mit bewußter Absicht ein „anderes Evangelium“ aufbringen wollen.
Mit dem unüberholbaren Auftrag, das Evangelium zu verkündigen, ist verbunden der Auftrag, zu taufen und das Abendmahl zu vollziehen. Taufe und Abendmahl sind von dem Herrn gegeben und geboten als Vollzugsweisen des verkündigten Evangeliums[1]. Darum sollen sie in innerer Übereinstimmung mit dem Sinn des Evangeliums vollzogen werden und gehören so in den unüberholbaren Auftrag hinein. Die Kirche kann nicht aufhören, zu taufen und das Abendmahl zu halten, sowenig sie aufhören kann, das Evangelium zu verkündigen.
Verkündigung des Evangeliums kann geschehen von Mensch zu Mensch, im persönlichen Gespräch. Sie kann geschehen durch einen Christen, der als Missionar zu einer Schar von Nichtchristen redet. Sie kann aber nicht nur da geschehen, sondern muß auch und immer wieder geschehen in der Versammlung der Gemeinde unter dem Wort ihres Herrn. Auch die Versammlung der Gemeinde ist ein Element, das von dem Auftrag, das Evangelium zu predigen, nicht ablösbar ist, weil die Gemeinde nur aus dieser Predigt leben und Gemeinde bleiben kann. Selbstverständlich ist damit nicht gemeint, daß der Sonntagsgottesdienst in den uns gewohnten Formen eine unüberholbare Struktur sei. Auch ist nicht gemeint, daß dann, wenn außerhalb des Gottesdienstes der Gemeinde Verkündigung des Evangeliums geschieht, weniger oder weniger Vollmächtiges geschieht als im Gottesdienst. Aber das Zeugnis von Einzelnen und Gruppen lebt davon, daß auch und immer wieder die Versammlung der Gemeinde unter dem Wort des Evangeliums geschieht. Um der Verkündigung des Evangeliums willen kann die Kirche nicht aufhören, als Gemeinde zum Gottesdienst zusammenzukommen.
These 2: Der Auftrag, das Evangelium zu verkündigen, ist der Gemeinde in allen ihren Gliedern gegeben. Das schließt nicht aus, sondern ein, daß einzelnen Gliedern der Gemeinde besondere Gaben und Dienste an der Erfüllung dieses allen gegebenen Auftrags besonders anvertraut sind. Das rechte Verhältnis der besonderen Dienste zueinander und zu der Teilhabe der übrigen Glieder der Gemeinde an dem allen gegebenen Auftrag ist aber nicht Exklusivität, sondern Gegenseitigkeit und Zusammenwirken.
Die zweite These wendet sich der Frage zu: Wem ist dieser unüberholbare Auftrag gegeben? Dem „Amt der Kirche“? Der Gemeinde? Hier betreten wir bereits das Gebiet divergierender Auffassungen.
Man wird ohne Zögern zu antworten haben: Der Auftrag, das Evangelium zu verkündigen, ist der Gemeinde als ganzer und allen ihren Gliedern gegeben. Aus der neutestamentlichen Grundbezeugung des Evangeliums und der Gemeinde, die durch das Evangelium geschaffen wird, geht dies so klar hervor, daß gesagt werden darf: Auch diese Einsicht ist unüberholbar. Sie kann nicht in Frage gestellt werden. In der Gemeinde des neuen Bundes ist der Geist nicht mehr auf ein vermittelndes Priester- und Prophetentum beschränkt. Allen wird jetzt die eschatologische Gabe des Geistes zugesprochen nach dem Joelwort, das an Pfingsten sich erfüllte (Acta 2,17 ff.). Allen gilt: „Ihr seid die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, damit ihr die Güte dessen verkündigt, der euch aus der Finsternis herausgerufen hat“ (1.Petr 2,9). Jedem Glaubenden verheißt Jesus: „Die Werke, die ich tue, wird er auch tun“ (Joh 14,12). Es ist auch kein Anlaß und kein Recht ersichtlich, das Wort der Sendung „wer euch hört, der hört mich“ (Lk 10,16) nur für einen bestimmten Kreis von Amtsträgem, oder nur für diese mit ungeteilter Vollmacht, gelten zu lassen. Es gehört zum Neuen des Evangeliums, daß auf einer ganz grundsätzlichen Ebene der Unterschied von Priestern und Nichtpriestern aufgehoben ist, ebenso wie der von Mann und Prau, Herr und Sklave. Sie sind alle einer in Christus, auch und gerade im „geistlichen“ Handeln.
Man wird dann allerdings auch zu sagen haben: Damit die Gemeinde den Auftrag, das Evangelium zu verkündigen, ausüben kann, bedarf sie besonderer Dienste, die von dazu geistlich begabten und berufenen Gliedern in ihrer Mitte übernommen werden; und besondere Begabungen und Berufungen zu solchen besonderen Diensten werden in ihrer Mitte auch gegeben. Und man wird dies nicht nur als eine aus Zweckmäßigkeitserwägungen erfolgende Übertragung von Rechten der Allgemeinheit auf einzelne anzusehen haben, die das übernehmen, was dann die andern nicht mehr zu tun brauchen, sondern als ein Wirken und Berufen des Herrn inmitten der Gemeinde: „Er hat gegeben die einen zu Aposteln, die andern zu Propheten, andere zu Evangelisten…“ (Eph 4,11). Der Geist des Herrn, der allen gegeben wird, gibt auch die Gabe zu besonderem Dienst und weckt die Bereitschaft, ihn zu übernehmen.
Es darf dann aber auch nicht übersehen werden: „Er hat sie gegeben“ — gerade nicht, um das zu übernehmen, was die andern dann nicht zu tun brauchen, sondern (Eph 4,12): „…damit die Heiligen zugerüstet werden zum Werk des Dienstes“. Die besonderen Dienste sollen also dem allgemeinen Priestertum zur Aktivierung helfen; sie sollen die übrigen Glieder der Gemeinde mitnehmen in ihren Dienst; und diese wiederum sollen die besonderen Dienste umgeben und ihre Aktivität mitwirkend vervielfachen und weitertragen. Das rechtliche Modell oder Ideal der sauberen Kompetenzabgrenzung dürfte ganz und gar nicht brauchbar sein, um das lebendige Verhältnis der besonderen Charismen zur Tätigkeit der Gemeinde im ganzen zu erfassen; noch viel weniger das Modell eines Gegenüber von solchen, die führen und solchen, die lediglich geführt werden. Jedenfalls ist das neutestamentliche Vorbild der Gemeinde nicht das einseitige Gegenüber eines in irgendeinem Sinne exklusiven Amtes zu „Laien“, sondern das Zusammenwirken und die gegenseitige Dienstbarkeit besonderer Dienste untereinander, und wiederum der besonderen Dienste und des sie umgebenden und mitwirkend begleitenden allgemeinen Priestertums aller Glaubenden. Man wird hiervon nicht sagen können: Dieses Vorbild ist eben nur das Bild der paulinischen Anfangsgemeinden, die sich so nicht halten konnten und die wir so nicht nachahmen können. Sondern es ist das Bild der Gemeinde des neuen Bundes, wie sie durch das Evangelium grundsätzlich als die Gemeinde der Geisterfüllten begründet ist.
Gewiß: auch Paulus sagt, daß nicht jederzeit alle alles tun sollen in der Gemeinde (1. Kor 12,4 ff.). Dies ist auch hier nicht gemeint. Aber wenn man 1. Kor 12 weiter und im Zusammenhang liest, dann sagt Paulus, daß jeder das Seine, das ihm Gegebene tun kann und tun soll als Glied des einen Leibes, der als ganzer in dem einen Geist lebendig ist zu dem geistlichen Werk, in dem der unüberholbare Auftrag sich erfüllt. Was Paulus genau nicht sagt, das ist dies, daß es unter diesen Gliedern mit ihren verschiedenen Gaben und Diensten eine Gruppe gäbe, deren Tun in einem qualitativ höheren Sinne geistlich und vollmächtig wäre als das der übrigen.
These 3: Das „proprium“ der besonderen Dienste gegenüber der Teilhabe der übrigen Glieder der Gemeinde an dem allen gegebenen Auftrag ist nicht darin zu suchen, daß bestimmte geistliche Tätigkeiten als solche den Trägern besonderer Dienste vorbehalten wären und nur von ihnen vollmächtig vollzogen werden könnten. Es ist vielmehr in dem Verantwortungsbereich zu sehen, in dem sie diese Tätigkeiten wahrnehmen: nämlich an der Gemeinde als ganzer.
Von „besonderen Diensten“ harten wir nun immerhin gesprochen. Damit tritt die oft gestellte Frage auf: Was ist denn nun das „Besondere“, das „proprium“ besonderen Dienstes in der Gemeinde gegenüber dem Dienst, zu dem alle ihre Glieder berufen sind, wenn es nicht in einer besonderen und höheren geistlichen Qualität und Vollmacht liegen kann?[2]
Mir scheint es nicht möglich, dieses „Besondere“ so zu bestimmen, daß man inhaltlich irgendwelche Tätigkeiten herausnimmt, die dem Auftrag, das Evangelium zu verkündigen, zugehören, und sagt: diese Tätigkeiten sind als solche den Trägern besonderer Dienste allein vorbehalten und stehen den übrigen Gliedern nicht zu. Die Verkündigung des Wortes? Sie geschieht von der Kanzel; aber sie soll doch auch in dem persönlichen Zeugnis geschehen, zu dem jedes Glied berufen ist — und hat sie da dann, wenn sie geschieht, einen geringeren Grad der Vollmacht? Das Lossprechen von Sünde? Es geschieht in allgemeiner und persönlicher Beichte durch den Pfarrer, aber es kann doch auch in der persönlichen Aussprache zwischen Bruder und Bruder und ohne agendarische Absolutionsformel geschehen — und wenn es da geschieht: ist es dann weniger gewiß? Das Wachen über der Reinheit des Evangeliums, das Beurteilen von Lehre und Irrlehre — gewiß ist das, schon im Neuen Testament, der Sorge besonderer Dienste in der Gemeinde besonders aufgetragen. Aber schon Paulus nimmt für diese geistliche Urteilsfähigkeit ebenso die ganze Gemeinde, alle Glieder in Anspruch, kraft des pneuma, das ihnen wirksam gegeben ist. Und können wir die Möglichkeit ausschließen, daß in dieser Sache andere Glieder der Gemeinde einmal die bessere geistliche Urteilsfähigkeit haben als die Träger besonderen Dienstes, und diese zurechtweisen müssen? Das Spenden der Taufe und des Abendmahls? Im ganzen Neuen Testament wird nichts davon sichtbar, daß die Spendung der Sakramente grundsätzlich einer besonderen Gruppe in der Gemeinde Vorbehalten ist und nur in ihren Händen wirksam ist. Wie kann in unserer Kirche immer noch gefragt werden, ob man denn wirklich gewiß sein dürfe, das wahre Sakrament des Herrn zu empfangen, wenn es einmal nicht von einem ordinierten Pfarrer gereicht wird? Die geistliche Leitung der Gemeinde? Die Kirche wird geistlich durch das Wort des Evangeliums regiert — so Luther. Wenn aber alle, besondere Dienste und der sie umgebende und mitwirkende Dienst des allgemeinen Priestertums, dazu zusammen-dienen sollen, daß dieses Wort laut wird, so werden sie ja alle an diesem Regiert-werden der Kirche beteiligt, und zwar dienend beteiligt. Aber hat nicht doch Paulus für den berufenen Apostel eine besondere Führungsautorität in Anspruch genommen? Er hat es. Aber auch er hat diese Autorität in letzter Instanz nicht dem Apostolat als Stand und Personenkreis, sondern dem Evangelium zugesprochen (Gal 1,8). Im übrigen: wo ist unter uns ein Amt, das als solches die Autorität der apostolischen Erstzeugen dieses Evangeliums fortsetzen könnte? Die apostolische Zeugenautorität wird unter uns durch das apostolische Zeugnis des Neuen Testamentes vertreten, vor dem wir alle Hörende sind, ohne daß es unter uns einen Stand gäbe, dem garantiert ist: Er hört recht, und er allein übermittelt den übrigen das rechte Verstehen des Wortes. Indem alle Hörende dieses Wortes werden und dabei auch aufeinander hören, regiert das Wort die Gemeinde — nicht ein besonderes Amt.
Wir sehen nur eine Möglichkeit, das „proprium“ des besonderen Dienstes gegenüber den Tätigkeiten des allgemeinen Priestertums zu formulieren.
Wenn es hier ein proprium gibt, dann liegt es in dem Verantwortungsbereich, in dem solcher Dienst wahrgenommen wird: Träger besonderer Dienste sind beauftragt, an der Gemeinde als ganzer und in Verantwortung für die Einheit und das Leben der Gemeinde als ganzer zu tun, was jedes Glied der Gemeinde grundsätzlich auch tun kann und in seinem persönlichen Bereich je nach Gabe und Situation auch tun soll. Aber man kann meines Erachtens auch dies nicht in einem exklusiven Sinne verstehen, sondern muß auch hier den Gesichtspunkt der Gegenseitigkeit und des Zusammenwirkens der Glieder des geistlichen Leibes und ihrer Dienste im Auge behalten: den Trägern besonderer Dienste ist die ganze Gemeinde als Verantwortungsbereich zugewiesen — aber das Tun der andern Glieder ist aus der Verantwortung für die Gemeinde, ihre Einheit und ihr Leben, nicht entlassen. Die Träger besonderer Dienste sollen in ihrem Dienst erweckend vorangehen für den Dienst aller — aber damit ist nicht ausgeschlossen, daß ihnen solches, was von anderen Gliedern kraft des Priestertums aller geschieht, auch umgekehrt zur Erweckung, ja zur kritischen Zurechtweisung dienen kann. So will es also auch hier nicht gelingen, ein wirklich exklusives proprium der besonderen Dienste herauszustellen. Das könnte ein Hinweis darauf sein, daß die Frage nach dem proprium überhaupt eigentlich falsch gestellt ist, jedenfalls dann, wenn sie meint: Was ist uns besonders vorbehalten, und nicht nur: Was ist uns besonders auf getragen.
These 4: Die institutionelle Struktur, in der die Wahrnehmung der besonderen Dienste in der Gemeinde geordnet wird, ist nicht durch göttliche Stiftung unüberholbar festgelegt, sondern der Christenheit zu verantwortlicher Abwandlung freigegeben. Verantwortlich ist die Abwandlung dann, wenn sie vor dem Auftrag der unverfälschten Verkündigung des Evangeliums verantwortet wird und danach fragt, wie ihr unter gegebenen Verhältnissen am besten gedient werden kann. „Das“ geistliche Amt in der Form des der Gemeinde und den übrigen besonderen Diensten gegenüber- und vorangestellten Pfarramtes ist eine geschichtlich gewachsene Struktur; es kann aber nicht als eine von Jesus Christus selbst unüberholbar gestiftete Struktur verstanden werden.
Diese These wäre dann mißverstanden, wenn unter der Freiheit zur Abwandlung ein beliebiges und willkürliches Experimentieren verstanden würde. Gemeint ist eine Freiheit, die an die Erfüllung eines Auftrags gebunden ist und in geistlicher Verantwortung gegenüber diesem Auftrag wahrgenommen wird. Ihre Wahrnehmung steht nicht unter der Frage: Was gefällt uns gegenwärtig am besten; sie steht unter der Frage: Wie, mit Hilfe welcher Struktur formen, kann einer wirksamen Verkündigung des Evangeliums unter gegebenen Verhältnissen am besten gedient werden? Zu den gegebenen Verhältnissen gehören nicht zuletzt die Verhältnisse und Strukturen der Gesellschaft, in der die christliche Gemeinde jeweils lebt und in die hinein sie ihren unverzichtbaren Auftrag auszurichten hat.
Ihre Begründung darf diese These darin sehen, daß im Neuen Testament in der Tat keine durch eine Anordnung Jesu Christi festgelegte Struktur der Dienste begegnet, sondern eine Mehrheit verschiedener Strukturen. Wir gehen dabei allerdings davon aus, daß die Sendung bzw. die verschiedenen Sendungen der Jünger, von denen die Evangelien berichten, nicht als die Stiftung „des“ geistlichen Amtes bzw. „des“ Amtes der Kirche durch Jesus Christus selbst in Anspruch genommen werden können; wohl aber als die Begründung des der ganzen Gemeinde gegebenen Auftrags, das Evangelium zu verkünden, an den sich mit dem Pfarrer zusammen jedes ihrer Glieder halten darf für alles, was es im Dienst dieses Auftrags tut und erleidet. Das scheint uns durch die im neutestamentlichen Referat dieser Studienwoche vorgetragenen Darlegungen hinreichend begründet zu sein.
Wir sind also nicht in der Lage, in der Weise, wie wir heute die Dienste in der Gemeinde ordnen, ein im Neuen Testament gegebenes göttliches Strukturgesetz befolgen zu müssen. Wir müssen nicht ein Kollegium mit genau denjenigen „Ämtern“ einführen, die im Neuen Testament gelegentlich (aber auch schon verschieden) aufgezählt werden. Aber auch das eine Pfarramt, dem je Gemeinde alle übrigen Dienste (wenn sie sich überhaupt entfalten) untergeordnet werden, ist keine göttlich gestiftete Struktur. Es ist eine geschichtlich gewachsene Struktur. Man kann fragen, ob sie nicht zu gewissen Zeiten tatsächlich das unter damaligen „gegebenen Verhältnissen“ nötige und beste war, wenn der unüberholbare Auftrag durchgetragen werden sollte. Aber man wird nicht sagen können, daß die „monarchische“ Struktur des Pfarramtes, so wie es geworden ist, eine besonders sprechende Ausformung der Gemeinde als des lebendigen geistlichen Leibes ist in der Gegenseitigkeit und dem Zusammenwirken des Dienstes seiner Glieder. Noch weniger kann man sagen, daß gerade unter den heute gegebenen Verhältnissen ein „monarchisch“ strukturiertes Amt eine besonders werbende und zum Evangelium passende Form der Gemeindeordnung wäre.
Damit soll nicht die Meinung vertreten werden, daß man heute das Pfarramt überhaupt entbehren könne. Sein Träger wird auch in Zukunft einen unverzichtbaren Dienst behalten. Er wird inmitten anderer Dienste, deren Entfaltung dringend notwendig ist, in erster Linie Verantwortung haben für die Einheit der Gemeinde, die Koordination und das Zusammenwirken der verschiedenen Dienste in ihr; für die Verkündigung und Ordnung des Gemeindegottesdienstes; damit auch für die Spendung der Sakramente, die als solche gottesdienstliches Handeln der Gemeinde als ganzer sind[3]. Es sollte aber im Sinn dessen, was zu These 2 und 3 gesagt wurde, unterstrichen werden: „inmitten“, und „in erster Linie“. Wir verstehen alle die eben genannten Funktionen als dem Pfarrer besonders aufgetragen; aber keine von ihnen, auch nicht die öffentliche und gottesdienstliche Wortverkündigung und die Darreichung der Sakramente, als ihm in dem Sinne exklusiv Vorbehalten, daß nicht andere Glieder der Gemeinde darin mit ihm Zusammenwirken und ihn gegebenenfalls darin auch vertreten könnten. Der Pfarrer sollte in seinem Handeln in und an der Gemeinde nicht allein, sondern mit den Trägern anderer besonderer Dienste zusammen verantwortlich sein; und dies wiederum so, daß auch die besonderen Dienste zusammen nicht eine exklusive Führungsaristokratie bilden, sondern dem Mittun und Mitreden auch anderer Glieder der Gemeinde bewußt Ermutigung geben.
II. Zur Frage der Ordination
Die Thesen dieses zweiten Teiles werden von der grundsätzlichen Auffassung der Frage des Amtes her, die soeben dargelegt wurde, nicht ebenso ausführlicher Erläuterungen bedürfen.
These 5: Daß denen, die einen besonderen Dienst an der Gemeinde übernehmen, eine ausdrückliche und gottesdienstliche, mit Gebet vollzogene Bevollmächtigung zuteil wird, ist zwar nicht kraft göttlicher Setzung unüberholbar gefordert. Es ist aber recht und sachgemäß, dies zu tun und es auch in Zukunft nicht zu unterlassen.
Im Neuen Testament wird der Vorgang solcher Bevollmächtigung gelegentlich berichtet, aber nicht als bindend und gleichförmig eingesetzte Stiftung für alle Gemeinden sichtbar. Mit Taufe und Eucharistie ist er in dieser Hinsicht keineswegs vergleichbar. Daß er aber auch heute als eine redite und dem Sinn des besonderen Dienstes an der Gemeinde entsprechende Ordnung verstanden und geübt werden kann, ist nicht zu bezweifeln und wird auch im allgemeinen nicht bestritten.
These 6: Die Frage, ob Gott oder ob die Gemeinde zu besonderem Dienst beruft und bevollmächtigt, ist falsch gestellt. Gott tut es durch vocatio interna, Charisma und durch den Mund von Menschen. Die Gemeinde tut es, indem sie in der ausdrücklichen Bevollmächtigungshandlung diesen Ruf Gottes ausdrückt, anerkennt und zuspricht.
In vergangenen und heutigen Auseinandersetzungen über die Ordination wird oft die Frage diskutiert, ob dieser Vorgang als ein besonderes Handeln Gottes bzw. Jesu Christi an dem Ordinierten zu verstehen sei oder als eine Übertragung von Rechten und Pflichten durch die Gemeinde an den Ordinierten, der sie nunmehr in der Wahrnehmung dieser Rechte und Pflichten gleichsam vertreten soll. Wer beruft und bevollmächtigt: Gott, oder die Gemeinde?
Diese Alternative ist falsch gestellt.
Gott beruft durch vocatio interna, durch Geistesgaben und auch durch den Mund von Menschen: und zwar nicht nur durch den Mund derer, die in der Handlung selbst die ausdrückliche Bevollmächtigung agendarisch vollziehen, sondern auch durch den Mund solcher Menschen, die — vielleicht schon lange vorher — einen jungen Menschen zur Übernahme dieses Dienstes ermutigt haben. Gott beruft auch durch den Mund des Pfarrers, der ein Gemeindeglied auffordert: Hilf mir und übernimm diesen besonderen Dienst. Du hast die Gaben dazu.
Und auch die Gemeinde beruft und bevollmächtigt. Sie tut es, indem sie in der ausdrücklichen Bevollmächtigungshandlung einem Glied ihrer selbst solchen Ruf Gottes zuspricht und es als zu besonderem Dienst an ihr gerufen annimmt und anerkennt.
Die Vorstellung, als sei der Auftrag Gottes nur der Gemeinde als ganzer gegeben, und als delegiere sie nunmehr in einem lediglich menschlichen Auftragsverfahren und aus Zweckmäßigkeitsgründen die ihr eignenden Rechte und Pflichten ab (die sie dann nicht mehr wahrzunehmen braucht), ist eine Verzeichnung des Vorgangs. Diese Vorstellung wird heute kaum noch in solcher Zuspitzung vertreten und war vielleicht auch, wo sie früher vertreten wurde, in solcher Zuspitzung nicht gemeint. Gott ruft die Gemeinde als ganze; Gott ruft aber auch in ihrer Mitte einzelne zu besonderem Dienst. Und die Gemeinde delegiert nicht etwas ab, sondern sie nimmt diesen besonderen Dienst an — gerade nicht um ihrerseits dann von ihm „entlastet“ zu sein, sondern um mit ihm zusammenzuwirken. (Auch das Delegationsmodell lebt zu sehr von der Vorstellung abgrenzbarer Kompetenzen und ihrer sauberen Verteilung).
Noch abwegiger aber ist die Vorstellung, nur durch ordinierte Amtsträger (und insofern nicht durch die Gemeinde) werde „das“ Amt der Kirche weitergegeben, weil nur sie dazu bevollmächtigt seien und weil nur der, der das Charisma besitze, es weiterleiten könne. Nach allem, was zur Frage des Amtes gesagt wurde, braucht die Ablehnung dieser Vorstellung wohl nicht noch begründet zu werden.
These 7: Was in den beiden vorstehenden Thesen gesagt wurde, gilt nicht nur für das Pfarramt, auf das der Begriff der „Ordination“ herkömmlich beschränkt wird, sondern grundsätzlich ebenso für jeden besonderen Dienst, zu dem Glieder der Gemeinde berufen und bevollmächtigt werden.
Es ist kein durchschlagender theologischer Grund zu finden, warum im Blick auf Berufung und Bevollmächtigung ein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem Pfarramt und anderen besonderen Diensten zu machen wäre. Was wir als „proprium“ besonderer Dienste neben dem, wozu jeder Christ durch die Taufe schon berufen und ordiniert ist, gefunden haben: nämlich daß sie Dienste an der Gemeinde als ganzer sind, gilt ja für sie alle gemeinsam. Es gilt mutatis mutandis auch für den Katecheten, den Ältesten, den Diakon usw. Das Argument, das für eine prinzipielle Sonderstellung der Ordination zum Pfarramt oft angeführt wird: Daß dieser Dienst im Unterschied zu anderen als Hauptberuf und nicht auf Zeit, sondern für das ganze Leben übernommen werde, ist wenig überzeugend. Denn dasselbe gilt unter heutigen Verhältnissen auch für manche anderen kirchlichen Dienste, z.B. Diakone; und die Kirche kann künftig unter Verhältnissen leben müssen, in denen es auch für die Pfarrer nicht mehr überall gelten kann. Der existenzielle Ernst der Indienstnahme durch Gott aber — wie sollte er nur für die Berufung zum Pfarramt und nicht ebenso auch für andere geistlichen Dienste gelten!
These 8: Die institutionelle Vollzugsform der Bevollmächtigung ist an keine unüberholbare Struktur gebunden, sondern ebenso und im selben Sinne zu verantwortlicher Abwandlung freigegeben wie die Struktur der besonderen Dienste selbst.
Auch diese These wird im Zusammenhang der bisherigen Ausführungen keiner besonderen Begründung mehr bedürfen. Statt dessen einige abschließende Bemerkungen zu dem, was an bisherigen Vollzugsformen etwa geändert werden könnte.
a) Die Handauflegung bei der Bevollmächtigungshandlung ist, wenn sie recht verstanden wird, sinnvoll, aber nicht unabdingbar. Für die Frage, ob sie beizubehalten ist oder nicht, kann dem Evangelium keine unüberholbar bindende Weisung entnommen werden. Diese Frage steht also einer im Sinn von These 4 verantwortlichen Entscheidung offen. Gerade wenn die Handauflegung als unabdingbares Strukturelement behandelt wird, kann sie zu einem falschen Verständnis des Bevollmächtigungsgeschehens Anlaß geben (als werde genau in diesem Augenblick und nur durch diesen Akt das Charisma, der „geistliche Charakter“ übertragen, und zwar von Amtsträger zu Amtsträger und auf keinem anderen Wege). Das würde außerdem bedeuten, das Evangelium mit einem anderen Gesetz verquicken als dem, dessen Predigt unablösbar mit ihm zusammengehört. Diese Erwägung gilt übrigens ganz allgemein, wo immer Strukturfragen der Kirche zu unüberholbaren Gesetzen stilisiert werden.
b) Die Ordination sollte in der Gemeindeversammlung geschehen, und zwar am besten in einem Gottesdienst derjenigen Gemeinde, in der der zu Ordinierende den Dienst übernimmt. Dasselbe gilt für die Bevollmächtigung zu anderen Diensten, jedenfalls soweit sie auf eine bestimmte Gemeinde bezogen sind.
c) Es wäre wünschenswert, wenn diejenigen, die bei der Ordination eines Pfarrers assistieren, nicht ebenfalls Ordinierte, sondern andere Glieder der Gemeinde wären. Wenn Handauflegung geübt wird, könnte gerade dies einem falschen Verständnis der Handauflegung und des durch sie übertragenen Amtes entgegenwirken.
d) Ein qualitativer Unterschied zwischen der Ordination zum Pfarramt und der Einführung in andere besondere Dienste sollte im Sinne von These 7 nicht betont werden. Das könnte vielleicht so geschehen, daß man auch für das Pfarramt von der absoluten Ordination auf Lebenszeit übergeht zu einer relativen Ordination bzw. Installation zu jeweiligem konkreten Dienst. Auch terminologisch sollte der Unterschied nicht betont werden: Entweder sollte auch die Bevollmächtigung zu anderen Diensten „Ordination“ heißen, oder auch die zum Pfarramt „Einsegnung“, „Bevollmächtigung“, oder wie immer. Übrigens ist relative Ordination auch im Anfang der Reformation bekanntlich geübt worden, in der württembergischen Kirche sogar bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts.
Ich hoffe, es konnte deutlich werden, daß es diesen Ausführungen nicht darauf ankam, den Dienst des Pfarrers zu einer Sache minderen Gewichtes und Ernstes herabzusetzen. Unser Wunsch ist im Gegenteil, daß er mit gleichem Ernst und womöglich mit größerer Freude und Freiheit getan werden kann, als es vielleicht in den heutigen Bedrängnissen oft geschieht. Wir meinen, der Weg in die Gemeinschaft des Zusammenwirkens und der Gegenseitigkeit der Dienste in der Gemeinde kann auch für den Pfarrer ein Weg sein, der ihm für seinen eigenen Dienst Befreiung und Freude bringt.
Quelle: Kerygma und Dogma 17 (1971), S. 75-85.
[1] Wir meinen, daß dies gesagt werden darf trotz der besonders die Taufe betreffenden historischen Problematik einer Einsetzung durch den irdischen Jesus. Näheres hierzu bei E. Schlink, Die Lehre von der Taufe (1969), 26 ff., und neuerdings bei U. Kühn, Die Taufe, Sakrament des Glaubens, KuD 1970, S. 295 f.
[2] Mit Bedacht wird hier noch nicht sogleich nach dem „proprium“ des Pfarramts, sondern nach dem besonderen Dienstes überhaupt gefragt. Denn das Verhältnis des Pfarramts in seiner geschichtlich gewordenen Form zu anderen Diensten bleibt noch zu klären.
[3] Für das Abendmahl ist das evident; aber auch für die Taufe würde man diesen Gesichtspunkt m.E. begründen können.