Vorwort zu Johann Reuschs Zehn deutsche Psalmen Davids (1551)
Von Philipp Melanchthon
Obwohl viele Menschen in solcher Blindheit verharren, dass sie die Zeugnisse, die Gott in der Natur über sich selbst hinterlassen hat – durch die man erkennen soll, dass Gott existiert und dass er gerecht ist und als Richter handeln will – nicht wahrnehmen und betrachten wollen, sondern wie die Zyklopen und Epikureer blind bleiben, sollten doch alle sittlichen Menschen, die Gott nicht verachten, diese Zeugnisse oft betrachten, sich daran erinnern und sich dadurch zu Gotteserkenntnis und zu vielen guten Gedanken anregen lassen. Es gibt so viele dieser Zeugnisse, dass ich sie in diesem Schriftstück nicht alle aufzählen will. Der heilige Paulus sagt in Apostelgeschichte 17, Gott habe so klare Zeugnisse von sich in der Natur hinterlassen, dass man seine Gegenwart so deutlich spüren könne, als würde man ihn mit den Händen greifen. Schau dich nur selbst an und betrachte dieses sichere und unwiderlegbare Zeugnis: Da uns dieses Licht eingepflanzt ist, dass wir von Natur aus verstehen, was Ordnung, Unterscheidung zwischen Tugend und Untugend, und was eine ewige, unveränderliche Gerechtigkeit ist, und dass wir in uns selbst die Strafe für Untugend gewiss spüren, müssen wir anerkennen, dass der Mensch und andere Geschöpfe von einem Wesen geschaffen wurden, das weise und gerecht ist, und das seine Ordnung in die Natur eingepflanzt hat. Dieses Zeugnis ist allgemein und unwiderlegbar und dient sittlichen Menschen zur nützlichen Erinnerung.
Doch darüber hinaus hat Gott sich noch deutlicher durch besondere Zeichen offenbart, wie zum Beispiel durch die Auferweckung von Toten. Diese Offenbarungen sollen wir Christen ebenfalls betrachten. Was jedoch die natürlichen Zeichen betrifft, so gibt es auch einen Unterschied, den Gott gemacht hat: Freude und Angst im Herzen. Denn Gott hat die Angst dazu bestimmt, das Böse in uns zu bestrafen. Freude soll das Leben sein, und ein gutes Gewissen bringt Freude. Weiterhin hat Gott zur Freude und zum Klagen wunderbare Unterschiede im Gesang angeordnet, die öffentlich Gottes Ordnung sind und viele Geheimnisse in sich bergen. Nun spüren alle Menschen, die nicht wahnsinnig sind, dass der richtige Gesang dem Herzen Freude und andere tiefe Emotionen bringt, wozu er auch von Gott geordnet wurde. Er stärkt daher das Gebet, und deshalb ist der Gesang von Anfang an in der wahren Kirche Gottes durch Gottes Willen und Hilfe immer erhalten geblieben, damit die Worte im Gebet tiefer ins Herz dringen. Auch bleibt jede Lehre viel fester im Gedächtnis, wenn sie in den Gesang gefasst ist. Darum ist es Gottes Wille, dass die Musik erhalten bleibt, und junge Menschen sollen sich darin üben und diese schöne Freude, die von Gott geordnet ist, verstehen lernen. Besonders lobenswert ist es, wenn man die Musik zur Stärkung des Gebets nutzt, wie oft gottesfürchtige Menschen in tiefer Betrübnis, wenn sie Zuflucht bei Gott suchen, ihren Kummer in schönen Gesängen ausdrücken, sei es „Aus der Tiefe rufe ich“ von Josquin, „Aus tiefer Not“ von Dr. Luther, „Wär Gott nicht mit uns diese Zeit“ von Dr. Wolfgang Heinitz, „Herr, handle nicht nach unseren Sünden“ oder „Wir aber wollen uns rühmen im Kreuz“. So ist dieser Psalm, in dem die Kirche um ein seliges Regiment bittet, in eine liebliche Melodie gefasst.
Wer nun bedenkt, dass eine gute Regierung gewiss Gottes Gabe ist, und dass Unfrieden und Zerrüttung gerechter Regierungen den größten Schaden, die Zerstörung von Eltern und Kindern, die Vernichtung der Religion und aller guten Zucht und Künste und schließlich Verwüstung mit sich bringen – wie es jetzt in Asien und Griechenland fast vollständig wüst ist oder als Pferdestall der Türken dient –, der sollte diesen Psalm oft singen und darüber nachdenken und Gott von Herzen um eine gnädige und selige Regierung bitten. Denn er will darum gebeten werden, er will, dass wir erkennen, dass er das menschliche Geschlecht erhält, damit das Erbe seines Sohnes Jesus Christus gesammelt und bewahrt wird. Und er will, dass wir ihm in Demut, ein jeder in seinem Stand, bei der Erhaltung guter Regierung dienen, und nicht, dass ein jeder seinen unordentlichen Lüsten folgt. Der Türke steht vor der Tür, und es gibt weitere Unruhen vor unseren Augen. Deshalb haben wir großen Anlass, zu Gott zu schreien, und alle Christen sollten diese große Not ernsthaft in Angriff nehmen.
Gegeben zu Wittenberg am Tag der heiligen Engel.
Vorwort von Philipp Melanchthon zu Johann Reuschs „Zehn deutsche Psalmen Davids samt einem schönen Gebet aus dem Propheten Jeremia, für vier Stimmen gesetzt“ (Wittenberg: Georg Rhau Erben, 1551/52).