Von Paul Schempp
33 Da sprach Jesus zu ihnen: Ich bin noch eine kleine Zeit bei euch, und dann gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat. 34 Ihr werdet mich suchen, und nicht finden; und wo ich bin, könnet ihr nicht hin kommen. 35 Da sprachen die Juden untereinander: Wo will dieser hin gehen, daß wir ihn nicht finden sollen? Will er zu den Zerstreuten unter den Griechen gehen und die Griechen lehren? 36 Was ist das für eine Rede, daß er sagte: »Ihr werdet mich suchen, und nicht finden; und wo ich bin, da könnet ihr nicht hin kommen«? 37 Aber am letzten Tage des Festes, der am herrlichsten war, trat Jesus auf, rief und sprach: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! 38 Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von des Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen. 39 Das sagte er aber von dem Geist, welchen empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der heilige Geist war noch nicht da, denn Jesus war noch nicht verklärt. (Johannes 7,33-39, Luther 1912)
Als Jesus ein halbes Jahr vor seinem Tode während des großen Herbst- und Weinlesefestes, des Laubhüttenfestes, in Jerusalem war, da entstand in manchen, die ihn hörten und seine Wunder sahen, die Frage: ist er nicht vielleicht doch der verheißene Christus, der Retter und Herr Israels? Die, die so fragten, waren sicher einfältige Leutchen, die nicht von vornherein ihre feste Ansicht und Meinung über den kommenden Heiland hatten, die nicht von vornherein ihre Ansprüche stellten: so und so muß er auftreten; das und das muß er tun, er muß die Steuern abschaffen, er muß uns Bauern und Handwerkern helfen; er muß mir zu meinem Recht verhelfen, er muß neues Leben in die Kirche bringen, er muß streng durchfahren oder muß alle begeistern und mitreißen, er muß gar Krankheit und Tod abschaffen oder was alles sonst von einem Retter und Führer erwartet wurde; sie wußten einfach: Ein Heiland ist uns von Gott verheißen, einer, der wirklich alles recht macht und dem man blindlings vertrauen kann. Sie fragten nur: könnte der da, dieser Jesus, es nicht vielleicht sein? Sie waren noch nicht sicher, sie wagten nicht, sich offen zu ihm zu bekennen. Der unseren Worten vorangehende Text sagt: das Volk „murmelte“ von Jesus solches, nämlich, ob er nicht etwa der Christus wäre. Da gab es ja die sachverständigen Herren, die gelehrten Kenner der Schrift, die Führer der Kirche, die tonangebenden Geistlichen; ehe die ihr Urteil nicht abgaben, war man vorsichtig; man könnte Schwierigkeiten bekommen. Lieber abwarten, wie sich die Dinge entwickeln, es hat ja noch Zeit, sich für oder gegen ihn zu erklären — nur ja nicht sich von vornherein festlegen! Nicht wahr, ganz so wie es heute noch ist, gerade in der Kirche: vorsichtig zuwarten, wohin sich der Sieg neigt und dann auf einmal hat man schon immer die Meinung der Siegreichen vertreten. Aber gerade wegen dieser Unentschiedenheit und klugen Vorsicht auch derer, die noch ein offenes Ohr und ein fragendes Herz für Jesus hatten, ist dann die Entscheidung des ganzen Volkes gegen Jesus ausgefallen.
Die Herren von Jerusalem waren ja auch klug: sie hatten ihre festen Anschauungen vom Messias: der mußte in erster Linie sie anerkennen und ihr Lob singen und wie ein aus der Fremde heimgekehrter König den Herren den Dank aussprechen, daß sie inzwischen alles so gut verwaltet und in Ordnung gehalten haben. Aber über Jesus war ihr Urteil fertig: der ist auf keinen Fall der Messias, der kann es nicht sein, und dann muß die Schrift heran und den Beweis liefern: er ist ja aus Galiläa und nicht aus Bethlehem, wie sie nachher dem Nikodemus triumphierend einwenden. Als sie hören, daß man im Volk auch nur von der Möglichkeit sprach, er könnte der Messias sein, da schicken sie bewaffnete Knechte aus, um Jesus verhaften und verhören zu lassen. Was wird jetzt geschehen? Wird jetzt eine Entscheidung eintreten? Wird das Volk jetzt zu Christus stehen oder rasch umfallen und schweigen? Wird Jesus sich an das Volk wenden und sich verteidigen? Nein, nichts von alle, dem, es fällt keine Entscheidung; Jesus bleibt allein und unangetastet und fährt in ruhiger Überlegenheit zu predigen fort. Aber es ist ein tiefer Schmerz und ein tiefer Ernst in seinen Worten. „Ich bin noch eine kleine Zeit bei euch.“ Ohne Spott, aber in unangreifbarer Sicherheit will er damit sagen: gemach, gemach, ihr Herren; eure Zeit ist noch nicht da. Solange mein Vater mich nicht in eure Hände gibt, helfen eure Haftbefehle und Schwerter und Drohungen nichts. Ihr möchtet mich los sein, und ich bleib noch da; aber bald wird es umgekehrt sein: da werde ich gehen und ihr werdet mich suchen und nicht finden! wie mögen die Umstehenden gebangt und gezittert haben, als sie die Knechte der Hohepriester kommen sahen! werden sie Hand an ihn legen? Und er steht in furchtloser Hoheit da und Übersicht absichtlich, was sie mit ihm vorhaben. Jesus weiß ja wohl, daß bald die Zeit kommen wird, wo er in die Hände der Übeltäter überantwortet wird, aber er redet nicht vom Sterben, sondern vom Hingehen zu dem, der ihn gesandt hat. Nicht mein, sondern euer Unglück, nicht mein, sondern euer Verderben wird es sein, wenn ihr euer Ziel erreicht habt und mich los geworden seid. Er warnt sie damit heimlich: es wird die Zeit kommen, wo ihr froh wäret, wenn ihr mich hättet. Wir wissen, wie furchtbar sich sein Wort erfüllt hat, wie Feuer und Schwert über Jerusalem kam und alle Opfer und Gebete umsonst waren, wie dieses Judenvolk heimatlos und verhasst worden ist und umsonst seit Jahrtausenden den verheißenen Retter sucht, wie wenig war doch Jesus für sich selbst besorgt und wie tief bewegt ihn der Schmerz für sein Volk. O, wenn schon unser Herz tief verwundet wird, wenn unsre menschliche Liebe Abweisung erfährt, wie wehe muss es Jesus getan haben, daß sie seine göttliche Liebe, die Rettung zum ewigen Leben, ausschlagen! Ihre Antwort ist spöttische Sicherheit: wo will er denn hingehen? Glaubst du, wir fänden dich nicht, wenn wir nur wollten, auch wenn du ins Ausland gehst? Hast du etwa schon genug von uns? Willst dein Glück bei den Juden in der Fremde suchen? Nur zu, ein schöner Christus, der davonläuft, wie bös haben sie ihn mißverstanden und doch ist auch ihr Wort in Erfüllung gegangen, freilich anders als sie dachten: Christus hat sich ein neues Volk unter den Heiden gesammelt, nachdem ihn das eigene zu seinem eigenen Unheil verworfen hatte.
Man kann diese Geschichte nicht hören und lesen ohne die bange Frage, ob sie sich nicht heute an uns, an unsrer Kirche wiederholt. Ist auch für uns die kleine Zeit angebrochen oder geht gar schon ihrem Ende zu, da Christus noch unter uns ist in seinem Wort und Sakrament? Zweierlei steht fest: einmal: das Evangelium ist eine Wanderpredigt, es geht durch die Zeiten und Länder und Kirchen und Gemeinden und ist nirgends für immer sesshaft. Christus lässt sich — außer dem Einen Mal! — nicht im Guten und nicht im Bösen verhaften und festhalten; wo er nicht Glauben und Gehorsam und gemeinsamen Dienst findet, da geht er und lässt auch die Kirchen, die sich christlich nennen, in Wahn und Verblendung zurück. Die ganze Bibel ist ein dauernder Zuruf: greif zu, solange das Heil angeboten wird, kauf, solange der Markt ist; suchet den Herrn, solange er zu finden ist, rufet ihn an, solange er nahe ist! Heute, so ihr seine Stimme höret, so verstocket eure Herzen nicht. O, die Kirchengeschichte ist eine Geschichte voll versäumter Zeiten und Gelegenheiten. Christus ruft immer wieder: es ist Zeit! und das Echo des Satans heißt immer wieder: es hat Zeit! Wenn irgendwo ein Freibier angeboten wird, da springt man herzu und hat Angst, man könnte zu spät kommen und es gehe bald zur Neige —, wenn aber Christus sich selber, Leben und Seligkeit und den ganzen Himmel anbietet, dann hat’s keine Eile. Aber es könnte auch unsrer Kirche, es könnte mir und dir gelten: ich bin noch eine kleine Zeit bei euch und dann wird’s zu spät sein und ihr werdet mich suchen, viel von mir reden und fragen, predigen und Bücher schreiben, aber ihr werdet mich doch nicht finden, werdet mich suchen bei falschen Predigern, in euren Einbildungen, in eurer Andacht und Frömmigkeit, in der Bibel sogar und doch nicht finden! Denn ich bin nicht euer Ehrenbürger und Stammgast und das Evangelium ist keine Adresse an den Himmel, die man in die Schublade legen kann, bis man sie gelegentlich braucht. Und das andere steht auch fest: Christus ist heute im Aufbruch. Unzählige haben ihm schon den Abschied gegeben und noch mehr sehen gleichgültig zu, wie seine Botschaft langsam und heimlich als rückständig und veraltet oder als volksfremd der Verachtung anheimfällt. oder auch offen umgefälscht wird in allerlei zeitgemäße und brauchbare Phrasen und selbstgemachte Programme. Das Wort von der Sünde des Menschen und von der Gnade in Christus, von Gericht und ewigem Leben ist natürlich unbequem in der Öffentlichkeit. Es soll zur Privaterbauung im Winkel noch zugelassen sein, aber herrschen, nein, das dürfen nur noch Menschen, nicht Christus. Da darf man wohl fragen: ist unsre Frist bald abgelaufen, wird Gottes Wort weiterziehen und eine tote, selbstsichere Kirche zurücklassen, deren Gottesdienste wie leerlaufende Maschinen sind? Ist vielleicht gar schon die Zeit angebrochen, da man Christus umsonst sucht? An der Kirche wird heute viel herumgedoktert und man möchte sie gern lebendig und stark und einflußreich haben. An der Organisation fehlt’s, sagt der eine; an der zeitgemäßen Predigt, der andre; am rechten Singen, der dritte; an der Mitarbeit der Männer, der vierte; an der biblischen Schulung, der fünfte; an der Jugenderziehung, der sechste; am Zusammenhalt usw. Ja, ja, es fehlt hinten und vorne, oben und unten, bei den Pfarrern und den Gemeinden, aber es könnte auch noch viel schlimmer sein: Christus könnte uns fehlen; daher könnte alle Not und aller Streit kommen, weil die Kirche selber ihn nicht mehr ganz und ausschließlich zum Herrn machen und haben will und ihr Vertrauen und ihre Botschaft ganz auf ihn richten will; weil auch sie immer heimlich sich selber meint und nicht diesen gnädigen Herrn, der Heil und Leben mit sich bringt. Es geht uns ja in der Kirche so wie einem, der sein Haus umbaut und je mehr er baut, desto mehr Schäden treten zu Tage und er muß immer mehr abreißen und wäre froh, er hätte gleich anfangs alles eingerissen und neu gebaut, wir sollten uns zur Regel machen, bei allen Schäden in unsrem Leben, in der Gemeinde und in der Kirche sogleich die letzte Frage zu stellen: kommt’s nicht daher, daß Christus fehlt, daß das Haus keinen Eckstein mehr hat und wir an ihm vorbeigelaufen sind, als er uns sagte: ich bin noch eine kleine Zeit da, laßt mir den Oberbefehl und stellt mein Wort nicht länger in die Ecke; ich heile den Hauptschaden, ich mache das Herz gesund und fröhlich, dann wird das Übrige auch allmählich heilen und ihr sollt in meinem Reich ein neues, ewiges Leben in Unschuld und Seligkeit haben.
Jesus hat die kleine Frist, die er noch in Jerusalem war, aus- genützt: trotzdem sie ihm nach dem Leben trachteten, ist er am Haupttage des Herbstfestes, da es am fröhlichsten zuging, da sich die Masten im Tempelhof drängten, am Tag, da man feierlich die Wasserspende am Altar darbrachte — da ist er aufgetreten und hat laut gerufen, ja geschrieen: „Wen da dürstet, der komme und trinke!“ Sie hatten keinen Durst, sie feierten ja ein kirchliches Fest und fühlten sich wieder einmal durchaus wohl und zufrieden, so wie wir alle, wenn der Leib seine Pflege hat und die Seele sich abfindet mit dem eigenen Los. Wo ist der Durstige, der nach Gott schreit wie der Hirsch nach frischem Wasser, wo ist das elende, verängstigte, geschlagene, ausgedörrte Herz und Gewissen, das sich vorkommt wie in einer Wüste in diesem Leben, das den Zorn Gottes fühlt und um sich und in sich nur die verzehrenden Glutwünsche und Leidenschaften und Irrungen und Wirrungen? In unserem leiblichen Dasein und unsrer Arbeit ist es uns selbstverständlich, daß man immer wieder durstig wird und zum Brunnen oder in den Keller gehen muß, aber in unsrem inneren Leben, da sind wir die reinsten Hunger- und Durstkünstler und merken gar nicht, wie trocken und unfruchtbar doch unsre Seele ist. Dürstet dich’s nicht nach Vergebung, nach göttlichem, kräftigem, vollem Leben, nach Reinheit und Güte und Liebe und Freiheit, nach Eintracht und Sicherheit, so hörst du auch Christi Ruf nicht. Aber es könnte doch sein, daß gerade heute dich etwas bedrückt und beängstigt, daß gerade in der Kirche, gerade im Umgang mit der Schrift dir die ganze Armut und Verworrenheit deines Lebens und Herzens klar wird, daß gerade vor Gottes Gesetz: „du sollst heilig sein und vollkommen!“ der Durst erwacht nach einem neuen Leben, nach einem neuen, gewissen Geist, nach einem neuen Herzen. Da hör: Christus ruft. Komm zu ihm: Er hält dich nicht zum Narren; er hält, was er verspricht; er bringt Licht in deine Nacht und Trost in deinen Kummer und Hoffnung in deinen Zweifel und du sollst auch ein Wunder erleben, an dem du merken kannst, ob Er dir wirklich lebendiges Wasser gibt. Du sollst soviel haben, daß du weitergeben kannst, daß von dir — ohne daß du’s selber merkst — Liebe und Güte ausstrahlt, daß du anderen Zeugnis geben kannst von diesem Brunnquell aller Gaben und Gnaden. „Von dem Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen!“ Wer glaubt, wer nur ein wenig Vertrauen ihm schenkt, hat schon einen Überfluß für andere, hat einen Blick für die Leiden und Nöte des Nächsten und ein Geschick, zu helfen und mitzuteilen. Wer an ihn glaubt! Wer von uns kann so von sich bezeugen: von ihm haben wir alle genommen Gnade um Gnade!? Aber die Einladung ist noch da und wir wollen froh sein, wenn wir recht durstig sind nach ihm und seinem Reich. Vielleicht ist in deinem Durst schon ein Anfang oder noch ein Rest von Glauben und für den Glauben ist er immer da, für den Glauben hat er immer Zeit und allmächtigen willen, das Werk und die Verheißung seines Vaters zu erfüllen: „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein!“ Amen.
Quelle: Predigten aus Württemberg, Theologische Existenz heute 38, München: Chr. Kaiser, 1936, S. 27-32.