Welthafte Wirklichkeit in ihrer Begründung in Gott
Versuch einer offenbarungstheologischen Neuinterpretation der Transzendentalienmetaphysik. Gottes Offenbarung in Jesus Christus als Ermöglichung des Vertrauens zu einer menschlichen Welt
Von Friedrich Mildenberger
In seinem aufsehenerregenden Referat auf der Weltkirchenkonferenz in Nairobi 1975 verglich Charles Birch unsere Welt mit einer Titanic auf Kollisionskurs.
Vor uns liegt ein Eisberg, dessen Spitze aus dem Wasser herausragt. Ich meine damit die Verschlechterung der Umwelt durch Rohstoffverknappung, Umweltverschmutzung und als Folge dessen die Verschlechterung der Lebensqualität Den großen unsichtbaren Teil des Eisbergs bilden die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen und die geistige Desorientierung über den Sinn des Lebens. Nur ein Kurswechsel kann ein Unglück verhüten (epd-Dokumentation 1/1976, 35).
Für die hier notwendige Neuorientierung nimmt Birch auch die Theologie in Anspruch. Sie „könnte eine wichtige Rolle in der Zukunft spielen, wenn mehr Theologen bereit wären, wiederum kritisch und furchtlos über die Natur nachzudenken. Teil dieser Aufgabe ist in meinen Augen die Wiederentdeckung der fundamentalen Einheit der menschlichen Welt … Ich würde sogar meinen, daß die Einheit der ganzen Schöpfung im Lichte des christlichen Menschenbildes wiederzuentdecken ist. Dies setzt eine radikale Neuinterpretation des Verhältnisses von Natur und Mensch voraus“ (a.a.O. 44). Ich versuche dieser Herausforderung an die Theologie wenigstens in der Intention nachzukommen. Das allerdings nicht in der von Birch selbst vorgeschlagenen Richtung, das Ganze der Wirklichkeit als Gottperson im Prozeß ihrer Verwirklichung zu denken. Denn ein solcher Entwurf von Wirklichkeit trifft weder mit dem wissenschaftlichen Modell von Natur zusammen, auf dem unsere Technik beruht und das so unser Handeln prägt. Noch hat er genügend Kräfte des Widerspruchs gegen solches Handeln in sich, vermag nicht zu mehr als zu einer esoterischen Empfindung der Einheit und einer Moral der Sympathie zu führen. Die Neubesinnung über unser Verhältnis zur Natur sollte vielmehr stärker im Einklang mit der Tradition des christlichen Glaubensdenkens geschehen. Deshalb geht es nicht bloß um eine Analyse des problematischen Verhältnisses zur Natur, in das wir hineingeraten sind. Auch die Richtung, in der es weitergehen könnte, soll wenigstens angedeutet werden.
Ich gliedere meine Ausführungen in 5 Abschnitte. Zunächst nenne ich einige Aspekte unseres problematischen Naturverhältnisses. Dann verweise ich als auf ein Kontrastmodell auf die scholastische Seinsmetaphysik mit ihrer Lehre von den Transzendentalien, den durchgehenden Bestimmungen alles Seienden in seinem Sein. Das ist eine Denkgestalt, die in der thomistischen Richtung der katholischen Philosophie und Theologie bis heute lebendig ist. Eine mögliche Neuorientierung kann freilich nicht in der Übernahme dieses scholastischen Modells von Ontologie geschehen. Darum sollen die hier vorgegebenen Denkanstöße dazu helfen, daß wir die in der Schrift bezeugte Offenbarung Gottes in Jesus Christus als gegenwärtige Orientierung besser vornehmen lernen. Schließlich aber muß gefragt werden, wie ein hier zu gewinnendes Verstehen in die gegenwärtige Situation hinein wirksam werden kann.
1.
Der Sprachgebrauch signalisiert die Krise. Zwei biologische Fachtermini dringen in den letzten Jahren immer mehr in unserem allgemeinen Sprachgebrauch vor: „Streß“ und „Ökologie“ bzw. der adjektivische Ausdruck „ökologisch“. Streß ist der individuelle, die ökologische Krise der gesellschaftliche Aspekt unseres gestörten Naturverhältnisses (wobei die Aspekte natürlich nur unterschieden, aber keineswegs geschieden werden können). Gewiß ist mit dem Reden von Streß oder Ökologie noch kein waches Krisenbewußtsein gegeben. Aber steigendes Unbehagen und damit auch eine steigende Aufmerksamkeit können wir nicht nur bei uns selbst beobachten.
Streß als viel beklagte Dauererscheinung deutet an, daß unser Verhältnis zur Natur in Gestalt unserer Leiblichkeit gestört ist. Unser Leben belastet diesen Leib mit mehr Reizen, als er ohne Schwierigkeit verarbeiten kann. Wir sind als leibhafte Menschen z. B. nicht an den Lärm angepaßt, in den unsere technische Zivilisation uns ständig eintaucht. Das macht krank, stört, verstört uns, läßt uns nicht mehr voll zur Regeneration kommen. Die ökologische Krise, auch als Umweltkrise bezeichnet, zeigt ein durch menschliche Eingriffe hervorgerufenes Ungleichgewicht der Biosphäre, das die Dauer des Menschseins selbst bedroht. Ökologie wird damit zur Bezeichnung einer Aufgabe, die vom Menschen verantwortlich wahrzunehmen ist, zu einem Teilgebiet der Ethik.
Die Wurzeln der Krise in unserem Naturverhältnis, die sich hier anmeldet, liegen tief in unserer Anthropologie und Ontologie. Mit Appellen, die hier ein verantwortliches Handeln fordern, ist darum wenig gewonnen, so notwendig und richtig sie auch sein mögen. Denn sie machen den Gegensatz des wollenden und denkenden Ich zu der Leibhaftigkeit seiner Bedürfnisse wie seines Lebensvollzugs erst recht fest, wo es nötig wäre, daß wir vertrauend mit dieser Leibhaftigkeit in ihrer Welt Übereinkommen. Freilich verlangt auch die Analyse, mit der wir uns hier befassen, solche reflektierte Distanzierung von der Unmittelbarkeit des Lebensvollzugs. Aber sie zielt darauf, nicht einen Dualismus von Geist und Natur, von Wollen und Bedürfnis nur wieder in die notwendige Balance zu bringen. Sie will vielmehr verschüttete Momente solcher Unmittelbarkeit entdecken und von hier aus Ansätze zu einer heilsamen Neuorientierung gewinnen.
Mit diesen Überlegungen deute ich schon an, daß ich die Krise, die uns beschäftigt, im Dualismus sehe, in dem sich das reflektierende hat, daß es die Einheit mit sich selbst zu verlieren droht, sich zerstörend gegen sich selbst wendet. Das ist nicht nur ein individueller, sondern ein die Gesellschaft bestimmender Vorgang. Dualismus hat es ja immer schon gegeben, und die Möglichkeit individueller Selbstzerstörung im Suizid ist ein ethisch seit der Antike diskutiertes Thema. Was die gegenwärtige Situation so bedrängend macht, ist aber dies, daß der Dualismus zudem in eine hohe Form von Abstraktion geraten ist, die zu einer Aufspaltung gerade auch des Geistes, des Subjektseins bzw. der Subjektivität des Menschen geführt hat.
Kennzeichnend dafür ist, daß Welt bzw. Natur in einer konsequenten Reduktion auf meßbare und beherrschbare Gegenständlichkeit erfaßt wird. Als abgekürztes Signal für solche Reduktion mag die kartesianische Unterscheidung von res cogitans und res extensa stehen (deren commercium ja eine bis heute nicht aufgehellte Aporie dieses Modells von Wirklichkeit ist): Das Bewußtsein erfaßt Welt als Ausdehnung, also quantifizierbar. Es berechnet Naturvorgänge, baut sie im Experiment nach und stellt sie in der technischen Apparatur für eine möglichen Einsatz bereit – in einer breiten Skala von Anwendungsmöglichkeiten von der handlichen Energie Elektrizität, ohne deren Dienste wir kaum mehr die einfachsten Verrichtungen bewältigen, bis hin zu der lastenden Bedrohung einer totalen Zerstörung unserer Menschenwelt durch die Wasserstoffbombe.
Diese Reduktion welthafter Wirklichkeit auf quantifizierbare Gegenständlichkeit ist ein außerordentlich erfolgreiches Modell geworden, das unsere Welt in den letzten Jahrhunderten und Jahrzehnten in einem kaum vorstellbaren Maß verändert und uns Möglichkeiten erschlossen hat, von denen frühere Generationen kaum träumen konnten. Ich brauche dazu nur an unsere Möglichkeit des Reisens zu erinnern: Wie rasch lassen sich heute Entfernungen überwinden! Doch Streß wie ökologische Krise – um die eingangs genannten Stichworte wieder aufzunehmen – werfen die Frage auf, ob dieses erfolgreiche Modell ein für unser Menschsein auf die Dauer zuträgliches Modell bleiben kann. Ich will diese Frage durch drei Teilanfragen noch etwas vertiefen und konkretisieren.
Erstens fragt es sich, ob wir Menschen unsere Freiheit so im Gegensatz zur Natur gewinnen können, daß wir nur dort frei sind, wo die Natur – das ist jetzt die quantifizierte Gegenständlichkeit sich unserem Willen fügt. Vom Pathos solcher Freiheit lebt die Ich-Philosophie des jungen Fichte, und darin ist er zum Propheten unserer technischen Zeit geworden. Ich führe dazu einen charakteristischen Passus aus dem System der Sittenlehre (1798) an:
Die Selbständigkeit, unser letztes Ziel, besteht … darin, daß alles abhängig ist von mir, und ich nicht abhängig von irgendetwas; daß in meiner ganzen Sinnenwelt geschieht, was ich will, schlechthin und bloß dadurch, daß ich es will, gleich wie es in meinem Leibe, dem Anfangspunkt meiner absoluten Kausalität, geschieht. Die Welt muß mir werden, was mir mein Leib ist. Nun ist dieses Ziel zwar unerreichbar, aber ich soll mich ihm doch stets annähern, also alles in der Sinnenwelt bearbeiten, daß es Mittel werde zur Erreichung dieses Endzwecks (WW Medicus II, 623).
Es braucht nicht erst die Perversion dieser Devise „Arbeit macht frei!“ durch deren Verwendung als Inschrift am Lagertor des KZs Dachau, um uns heute deren Problematik klar zu machen. Hier ist der Gegensatz von Bewußtsein und Natur ausgesprochen, der sich ja zuerst gegen die Natur des Menschen selbst, seine Leibhaftigkeit, wenden muß. Dabei ist nicht von ungefähr in der Schwebe gelassen, ob dieses Ich in seinem Gegensatz zur Natur, das sich da in das Nicht-Ich hineinarbeitet, das individuelle Ich oder die Ichheit als ein Kollektiv ist. Wer soll eigentlich die so zu gewinnende Freiheit erfahren und genießen? Wir nehmen doch alle soviel als möglich von solchem Genuß vorweg, ohne zu fragen, auf wessen Kosten das eigentlich geht.
Zweitens gehört zu solcher Reduktion von Gegenständlichkeit auch die Reduktion der erkennenden und handelnden Subjekte. Zwar ist uns der moralische Appell geläufig, nach dem Menschsein selbst in seinem Eigenwert gelten soll. So etwa in der Formulierung, die Kant seinem kategorischen Imperativ gibt:
Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 66f. WW Weischedel IV, 61).
Doch ist solche Moral ohnmächtig, wo es um den Betrieb unserer Technischen Welt geht. Denn die Subjekte des Erkennens und Handelns sind grundsätzlich austauschbar. (Auch der geniale Erfinder macht da keine Ausnahme. Hat er seinen Einfall realisiert, braucht man ihn nicht mehr.) Die Zeit des Menschenlebens und die Zeit der technischen Welt kommen nicht mehr überein. Zwar sind es lebendige Menschen, die ihre Zeit in den Betrieb dieser technischen Welt hineingeben (und dafür als Gegenleistung einen Anteil an angeeigneter Natur, an technischer Möglichkeit, bekommen). Aber diese Zeit wird damit abstrakt, der Besonderheit des individuellen Lebensschicksals soweit als möglich entkleidet. In dieser Zeit ist allein wichtig, daß der Mensch sich in die vorprogrammierten Abläufe einpaßt, daß er seine Funktionen (in Wiederholung, aber genauso in wissenschaftlicher und technischer Innovation) sachgemäß ausführt. Eine besondere emotionale Bewegtheit, Trauer oder auch Freude, könnte da nur stören. Hier braucht es den „ausgeglichenen“ Menschen. Wo bleibt dabei dann die Individualität des Menschen, in der er unvertauschbar er selbst ist und sein darf? Sie gerät in den Bereich des Privaten, was sich z.B. darin zeigt, daß Religion, aber auch sexuelle Betätigung (mit Ausnahme vielleicht noch des generativen Verhaltens) zur Privatsache erklärt und als solche respektiert wird. Theologie hat sich dem weithin eingepaßt. Das zeigt sich, um bei unserer Thematik zu bleiben, daran, daß Welt als Schöpfung über diese private Subjektivität vermittelt gedacht wird, während man die gegenständliche Welt aus ihrer unmittelbaren Beziehung zu Gott entlassen hat. Schleiermacher hat hier wie so oft den Weg gebahnt, den die moderne Theologie seither geht.
Drittens resultiert aus dieser Reduktion der gegenständlichen Wirklichkeit, der die Reduktion der erkennenden und handelnden Subjekte entspricht, auch eine Gespaltenheit der Verantwortlichkeit. Der „sachliche Mensch“ (Dietrich von Oppen), der in die technische Welt paßt, erfüllt verantwortlich die ihm hier zukommenden Funktionen. Solche Verantwortlichkeit ist eine hohe Tugend. Ohne sie könnte unsere technische Welt nicht bestehen. Wir sind alle in solche Verantwortlichkeit eingeübt, nicht nur in der technisierten Arbeitswelt, sondern z.B. wenn wir als Kraftfahrer am Straßenverkehr teilnehmen. Aber solche Verantwortlichkeit ist eine Verantwortlichkeit der Mittel, nicht der Zwecke. Wer aber verantwortet die Zwecke? (Für Adolf Eichmann war es eine moralische Katastrophe, daß er, der seiner Verantwortlichkeit der Mittel korrekt nachgekommen war in der perfekten Organisation der Judendeportationen, nun auch für die Zwecke, denen er diente, verantwortlich gemacht wurde.) Neben diese sachliche Verantwortung nun eine personale Verantwortlichkeit zu stellen, in der der Mensch seinem Mitmenschen zu begegnen hat, ist eine geläufige theologische Auskunft. Aber sie ist nicht zureichend wo es um die Problematik der Zwecke unserer technischen Welt geht, den großen, unsichtbaren Teil des Eisbergs, von dem Charles Birch redete, also die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen unserer modernen Welt. Eben darum ist der Appell zur Verantwortung ohnmächtig, solange solche Verantwortung keinen Ort hat – sie ist ja weder die sachliche Verantwortung der Mittel, die die Zwecke nicht erreicht und darum nur stabilisierend wirkt, noch die personale Verantwortung, die sich dem Menschen zuwendet, aber die technische Welt nicht verändert.
Als Fazit aus diesem ersten analytischen Teil formuliere ich: Der Mensch, wie er sich heute versteht, fragt sich, ob er wirklich in die Welt passe, und ob seine Welt, die Natur, die ihn hervorgebracht hat, ihn noch ertrage. Er mißtraut der vergewaltigten Natur und sich selbst, zu Recht, wenn er die Folgen seines Tuns ausrechnet. Wir Christen können uns von dieser Haltung nicht distanzieren; wir gehören mit unserer Religion wie mit unserer Ethik hinein in diese moderne Welt.
2.
Es hilft wenig, nur immer auf diese Problematik zu starren. Darum halte ich es für angebracht, ein anderes Weltmodell aufzusuchen – nahe genug, so daß wir es nachempfinden können, und doch so weit weg, daß es als eine andere Möglichkeit kenntlich wird, die uns an Vergessenes erinnern kann, und mögliche Alternativen anzeigt. Dazu also der Hinweis auf die abendländische Seinsmetaphysik mit ihrem Kernstück in der Lehre von den Transzendentalien, den durchgehenden Seinsbestimmungen in allem Seienden. Es kann sich hier natürlich nur um ein paar knappe Andeutungen handeln, die weder die historischen Zusammenhänge noch die sachlichen Differenzen in der Ausformung dieser Lehre berücksichtigen. Es muß für unsere Zwecke genügen, die Grundgedanken zu erfassen und darin das Vertrauen in die menschliche Welt wahrzunehmen. Denn gerade weil sich Menschsein hier in das Ganze eingefügt und einbezogen erkennt, kann es dem, was ist vertrauend begegnen.
Was sind nun diese transzendentalen Seinsbestimmungen? Ich versuche das wiederzugeben in Anlehnung an Thomas von Aquins Darlegungen in den Quaestiones disputatae de Veritate. Schon der Einsatz des Denkens ist hier gegenüber der Moderne charakteristisch unterschieden: Der Anfang des Erkennens, „das, was der Verstand als erstes erfaßt, sozusagen das bekannteste (quasi notissimum), und auf das er alle Gedanken zurückführt, ist Seiendes“ (De ver. q. 1 a. 1c). Dieses Denken fängt nicht wie der kartesianische Zweifel oder die kantische Erkenntniskritik erst einmal bei sich selber an. Est ist von vornherein bei den Dingen; daß da etwas ist, das ist der selbstverständliche Ausgangspunkt. Von hier aus kann man dann in zwei Richtungen weitergehen. Entweder es wird dieses Etwas, das da ist, nun nach seinen modi essendi klassifiziert, den Weisen, wie es ist, un den möglichen Aussagen über diese unterschiedlichen modi. Dazu bedient man sich der Kategorien.
Oder, und das ist für unsere Überlegungen von besonderer Wichtigkeit, man sucht die Bestimmungen auf, die für jedes Seiende zutreffen, die in ihrer Anwendungsmöglichkeit also nicht eingeschränkt sind. Weil sie durch alles hindurchgehen, was ist, heißen sie transcendentalia. Solche Bestimmungen gibt es in Hinsicht auf das Seiende, sofern es in sich selbst ist, oder aber, sofern es auf anderes Seiendes bezogen ist. In sich selbst gehört zu der positiven Bestimmtheit jedes Seienden, daß es nicht nur überhaupt ist, sondern ein bestimmtes Etwas ist, res. Damit wird bezeichnet, was etwas ist, seine quidditas oder essentia. Zugleich gilt in dieser Hinsicht, daß es nicht vielerlei ist, sondern eben unum als ein ens indivisum.
In Hinsicht auf seine Beziehung zu anderem Seiendem gilt einmal, daß es kenntlich unterschieden ist von solchem anderen, ein aliquid, nämlich aliud quid. Das Etwas, was da ist, ist also immer schon etwas in seiner Bestimmtheit, in der es sich von anderem in dessen Bestimmtheit unterscheidet. Die Dinge, bei denen erkennendes Menschsein selbstverständlich immer schon ist, wenn es sich auf sich selber besinnt, bilden eine in sich selbst gegliederte und geordnete Welt.
Nun ist aber die Beziehung von Seiendem zu anderem Seienden nicht nur die, daß es sich in seiner besonderen Bestimmtheit von anderer Bestimmtheit unterscheidet. Es gibt auch die Beziehung, in der es mit anderem Seiendem übereinkommt. Dazu aber braucht es etwas, das geschaffen ist, mit jedem Seienden übereinzukommen (convenire cum omni ente). Das aber ist die anima, quae quodammodo est omnia. Anima läßt sich in diesem Zusammenhang schlecht übersetzen. Es ist nicht einfach Seele oder Geist, aber auch nicht Bewußtsein. Es ist Menschsein in seinem Innen, indem es seiner selbst inne wird. In diesem Innen des Menschen ist die Welt in bestimmter Hinsicht noch einmal, eben in der Übereinkunft jedes Seienden mit diesem Innen des Menschseins.
In diesem Innen aber ist Kraft des Erkennens und des Strebens. Die Übereinkunft des Seienden mit dem Streben drückt der Name bonum aus. … Die Übereinkunft des Seienden mit dem Intellekt drückt der Name verum aus. (De ver. q. 1 a. 1c)
Das Innen des Menschen und die Welt der Dinge sind einander also in der Weise zugeordnet, daß die Dinge das Erkennen bestimmen – „jede Erkenntnis wird ja verwirklicht durch die Angleichung (assimilatio) des Erkennenden an die erkannte Sache“ – und daß andererseits das Streben dieses Innen auf die Dinge zielt, da sie ja bonum sind.
Soweit die Ableitung der transzendentalen Seinsbestimmungen in diesem Text des Thomas von Aquin. Er zählt hier fünf solche Bestimmungen auf, res, unum, aliquid, bonum, verum. In der Schultradition haben sich freilich nur die drei Bestimmungen unum, verum, bonum gehalten, zu denen gelegentlich, aus dem bonum abgespalten, noch das pulchrum, schön, hinzutritt.
Nun ist freilich im Verstehen dieses metaphysischen Denkens erst ein allererster Anfang gemacht, wo wir so diese Seinsbestimmungen nachdenken, zusammen dann mit dem Axiom, daß sie untereinander austauschbar sind – ens et verum convertuntur, ens et bonum convertun- tur, was ja dann auch zur Austauschbarkeit des bonum und des verum führen müßte. Wichtiger noch als die Geltung dieses Axioms ist die Hinordnung des hier vorgelegten Seinsentwurfes auf Gott. Wahr sind die Dinge in ihrer Beziehung auf ein Innen. Darum scheint es so, als ob ihre Wahrheit nur uneigentlich genommen sei, solange sie nicht auf einen menschlichen Intellekt gewirkt und ihn sich angeglichen haben. Doch ist diese Wahrheit, in der die Dinge sich den menschlichen Intellekt angleichen, also auf das menschliche Innen aktiv einwirken, nur der eine, nachfolgende Aspekt ihrer Beziehung auf ein Innen. Sie sind ja aus dem Intellekt Gottes hervorgegangen, der seinerseits die Dinge sich angeglichen hat – intellectus divinus est mensurans non mensuratus.
Die welthafte Wirklichkeit – res naturalis – wird also, zwischen zwei Intellekten aufgestellt, gemäß ihrer Angleichung an beide wahr genannt; gemäß ihrer Angleichung an den göttlichen Intellekt heißt sie wahr, insoweit sie das verwirklicht, wozu sie durch den göttlichen Intellekt bestimmt ist… Gemäß ihrer Angleichung an den menschlichen Intellekt heißt die Wirklichkeit wahr, insoweit sie dazu geschaffen ist, eine wahre Würdigung (aestimatio) ihrer selbst hervorzubringen (De ver. q. 1 a. 2c).
Entsprechendes gilt von der Hinordnung des erstrebten Guten auf Gott als den finis principalis. In allem Seienden, sofern es das Gute, den Sinn seines Seins, Verwirklicht, ist Streben auf Gott hin, appetere Deum. Denn aller Seinssinn lebt von dem ersten, ursprünglichen Guten, von Gott. Doch tritt hier nun wieder die besondere Rolle des Menschseins hervor, das seines auf Gott hin strebenden Innen bewußt ist: Es kann die secundarii fines, den Sinns kreatürlicher Seinsverwirklichung, in seiner Bestimmtheit von Gott her erfassen.
„Darum ist das Streben der vernünftigen Kreatur nicht recht, außer es zielt ausdrücklich auf Gott selbst…“ (De ver. q. 22 a. 2c).
In der welthaften Wirklichkeit begegnet also Menschsein Gott in dem Innen, der anima und ihrem intelligere und appetere, das aber zugleich sein Draußen in eben den Dingen hat, mit denen es erkennend und wollend umgeht. Menschsein ist dabei hineingedacht in den Kreis des Seins, gehört ganz dazu. Es kann der Menschlichkeit, der Menschgemäßheit der Dinge vertrauen, weil die auf das Menschsein zukommen. Sie müssen nicht erst für das Menschsein zurechtgemacht werden. Etwa so, daß Naturvorgänge so weit reduziert werden, bis man zu Hypothesen kommt, die eine Prognose des Verlaufs erlauben und also auch falsifizierbar sind. Dann kann man ja vereinbaren, daß solche Hypothesen bis auf weiteres als bewährt, als wahr gelten können. Oder so, daß man sie als technische Möglichkeiten herstellt die dann als Güter für den Verbrauch bereitstehen – das kann man dann gut nennen. Gewiß, ich übertreibe jetzt nach beiden Seiten, in der Verklärung des scholastischen Seinsdenkens wie in der Schilderung des modernen Umgangs mit den Dingen. Aber mindestens darüber kann kein Zweifel bestehen: Wahrheit wie Güte eignen für unser modernes Bewußtsein nicht der Natur als solcher. Sie können allenfalls als Bestimmungen der durch den Menschen erkennend und handelnd angeeigneten Natur gelten. Sie werden von außen an die Dinge herangetragen. Darum kann hier nicht mehr von der convenientia, dem Einklang dessen, was ist, mit dem menschlichen Innen, der anima, die Rede sein.
Daß man noch heute, gerade angesichts der Ratlosigkeit, in die das moderne Weltverhalten geraten ist, sich bei dieser Philosophia perennis Rat erhofft, leuchtet ein. Ich will aber wenigstens drei Gründe nennen, warum ich hier keinen Ausweg, sondern nur, wie ich eingangs bemerkte, eine Orientierungshilfe sehe.
Einmal ist hier der Dualismus schon angelegt, der dann in seiner kartesischen Form in die gegenwärtige Krise hineingeführt hat. Gewiß ist hier Innen, die anima, noch nicht in der Weise vom Draußen, der leibhaften Wirklichkeit, isoliert, wie in dem modernen Bewußtsein und seiner Gegenstellung zur res extenso. Aber diese anima geht durch die Dinge hindurch auf Gott – Geist zu Geist. Ich kann jetzt die Lebensgestalt der vita religiosa, die zu solchem Denken gehört, die es hervorgebracht hat, nicht noch mit zur Interpretation heranziehen, nenne nur das Stichwort. Die Abwertung des Natürlichen, desssen man sich nur bedient, um zum geistigen Genuß zu kommen, (vgl. die von Augustin ausgehende ungeheuer wirksame Unterscheidung des uti und des frui) zeigt doch auch die Nähe, in der wir zu diesem Denken stehen.
Zweitens verschwindet auch in diesem ontologischen Konzept die Zeit. Gewiß nicht so, daß anima und anima austauschbar würde. Dazu ist die Verhaftung dieses Menschseins im Kreis des Seins zu stark. Aber diese Zeit, in der das Denken bei den Dingen ist (De ver. q. 1 a. 5), ist nun doch so sehr bestimmt durch die zeitlose göttliche Wahrheit, daß die Zeit dort Zurückbleiben muß, wo es nur noch um die zeitlose Dauer der fruitio Dei geht (De ver. q. 22 a. 2 ad 4). Die Wahrheit und Güte der geschaffenen Dinge in ihrer Zeit darf nicht bestehen. Sie geht in Gott, ihrem Ursprung und Ziel, unter.
Drittens beeindruckt zwar die Harmonie, in der hier Gott, Welt und Mensch gedacht werden. Aber ist diese Harmonie nicht doch erkauft durch ein Absehen von dem faktischen Widerspruch, in dem der Kreis des Seins, der hier entworfen wird, durchbrochen ist durch Unwahrheit und das Böse, die Welt nicht sein lassen, was sie sein soll?
Um die Kritik zusammenzufassen: Das hier in seiner klassischen Gestalt vorgetragene metaphysische Weltmodell mit seinem von der Kontemplation her entworfenen Dualismus ist überholt worden durch die Aktivität des modernen Dualismus. Dieses überholte Modell holt unser Menschsein nicht mehr ins Vertrauen auf die menschliche Welt zurück. Aber es kann uns zeigen, was der Anspruch an ein Denken ist, das solches Vertrauen begründen möchte: Es darf sich nicht einlassen auf den modernen Dualismus von Wert und Sein, der Wahrheit und Güte in das menschliche Subjekt zurücknimmt und damit die Macht des Bewußtseins über die Dinge behauptet. Es muß sich vielmehr dem, was ist und sich geltend macht, stellen – nicht nur dem Mitmenschen, sondern aller welthaften Wirklichkeit (das ist immer schon Welt des Menschen und für den Menschen, nie die „unberührte“ Natur).
3.
Wir stellen uns dem, was ist, so, daß wir die Schrift befragen. Das möchte ich unter Offenbarungstheologie verstehen. Dabei setze ich jetzt als zugestanden voraus, daß die ganze Schrift als Christus-zeugnis zu verstehen ist, und daß dieses Christuszeugnis wieder seine Mitte hat im Zeugnis von der Auferweckung des Gekreuzigten. Hier müssen wir mit unseren Überlegungen einsetzen, wenn wir theologische Aussagen zur Begründung welthafter Wirklichkeit in Gott versuchen wollen.
Dabei soll uns die Orientierung an der scholastischen Seinsmetaphysik einen ersten Hinweis zum Ansatz des Verstehens geben: Wir wollen das, was Auferweckung des Gekreuzigten heißen kann, nicht sofort in das glaubende Bewußtsein hereinholen, etwa mit der geläufigen Formel, das Zeugnis von der Auferweckung Jesu sei der Ausdruck für die Heilsbedeutung seines Kreuzestodes. Wenn wir hören, daß Gott den gekreuzigten Jesus auferweckt hat, bleiben wir nicht bei uns, lassen uns vielmehr zu diesem auferweckten Gekreuzigten hinholen. Wie immer wir dann genauer bestimmen wollen, was wir unter Auferweckung bzw. Auferstehung verstehen: da ist jedenfalls die Behauptung, daß etwas, das vergangen ist, Zukunft hat (die ontologische Zielsetzung unserer Überlegungen fordert diese abstrakte Sprechweise).
Wir müssen dann allerdings dieses vergangene Etwas, dessen Zukunft da behauptet wird, sofort inhaltlich bestimmen. Nicht nur, indem wir wie das christologische Dogma von der mit Gott selbst persönlich geeinten wahren Menschheit Jesu Christi reden. Das wäre noch zu abstrakt gesprochen. Der Gekreuzigte ist auferweckt. Bildhaft vorgestellt: der Auferweckte trägt die Wundmale an seinem verklärten Leib. Oder anders gesagt: das vergangene Geschehen, der Lebenszusammenhang des Jesus von Nazareth ist es, dem durch Gott Zukunft gewährt ist. Der durch Gott auferweckte Jesus ist nicht nur der wiederbelebte Körper, der Leichnam, der aus dem Grab verschwunden ist und nun irgendwo eine dauernde Existenz führt. So zu denken wäre eine unangemessene Vorstellungsweise, die die diesem Vergangenen gewährte Zukunft nur so denkt, wie die Zukunft, die jeder von uns erfahrungsgemäß noch vor sich hat – nur daß dann dem Auferstandenen eine unendlich lange dauernde Zukunft zuerkannt wird, während keiner von uns wissen kann, wie lange sein Leben noch dauert. Der durch Gott auferweckte Jesus Christus ist der Mensch mit seiner Zeit, mit dem, was er gehandelt hat diá toû sōmatos, bei Leibesleben, wie das Paulus von uns allen im Blick auf das uns bevorstehende Gericht durch eben diesen Christus sagt (2 Kor 5, 10).
Das macht unserem Denken Schwierigkeiten, das die Zeit als ein unaufhörliches Verfließen vorstellt, bei dem sich kein Augenblick zurückholen laßt. Doch hier sehen wir uns – immer im Blick auf den auferweckten Gekreuzigten – zum Umdenken genötigt. Was geschehen ist, als er in Galiläa auf dem Berg die Menge lehrte, als er die Dämonen austrieb und Kranke heilte, als er mit dem Zöllner Zachäus und seinesgleichen das Mahl feierte, als er unter dem Jubelruf der Menge in Jerusalem seinen messianischen Einzug hielt, als er den Tempel reinigte und denen, die an der Auferstehung der Toten zweifelten, das Maul stopfte, als er in Gethsemane um den Einklang in Gottes Willen rang, als er auf Golgatha den gräßlichen und qualvollen Tod starb, das ist nicht vorbei, nur noch gewesen. Das bleibt, hat Zukunft. Das ist schwer zu denken. Vielleicht kann uns die Feier des Abendmahles hier einen Ansatz des Verstehens geben: „So oft ihr dieses Brot eßt und diesen Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt“ (1 Kor 11, 26). Das Geschehen ist da verbunden mit Brot und Wein, mit Leib und Blut, und ist so Gegenwart.
Ziehen wir eine ontologische Folgerung: Dieses Vergangene, dem Gott Zukunft gewährt hat in der Auferweckung des Gekreuzigten, ist nicht in der Abstraktheit einer Washeit, einer quidditas, zu beschreiben. Seine Zeit, das Geschehen seines Lebens, gehört mit zu seiner Wirklichkeit, in der er Zukunft hat. Darin ist diese Wirklichkeit ganz in ihrem Sein, ein unum, um hier an dieses transcendentale zu erinnern. Dabei ist freilich zu beachten: Wir reden nicht von jedem Seienden wie die Seinsmetaphysik. Wir bestimmen vielmehr, was das Sein Jesu Christi ausmacht.
Gerade weil zu Jesu Washeit das Geschehen, die gefüllte Zeit, mit dazugehört, haben wir nun einzugehen auf dieses Lebenswerk Jesu. Wieder setze ich als zugestanden voraus, daß diese Lebenswerk bestimmt gewesen ist durch das kommende Gottesreich. Das dann freilich in einer Jesus eigentümlichen Weise. Die Erwartung des kommenden Gottesreiches teilte er ja mit vielen seiner Zeitgenossen. Doch hat er die Verbindung von dem jetzt, wo noch nicht Reich Gottes ist, zu dem dann, wenn das Reich gekommen ist, anders bestimmt, als das gemeinhin geschah (und geschieht!). Für ihn ist jetzt nicht Zeit der Bereitung, in der einer sich durch sein Tun die Anwartschaft auf das künftige Heil erwirbt oder auch verspielt. Wo so gedacht wird, da bleibt es bei der klaren Unterscheidung der Zeiten: Jetzt ist die Zeit des menschlichen Tuns der Bereitung, dann kommt die Zeit des göttlichen Tuns der Vergeltung. Für Jesus bestimmt nicht dieser Zusammenhang von menschlicher Bereitung jetzt und göttlicher Vergeltung dann die Verbindung seiner Gegenwart hin zum kommenden Reich. Diese Verbindung ist vielmehr die, daß der Not jetzt dann Abhilfe werden soll. Dazu erinnere ich jetzt statt vieler Beispiele nur an die Seligpreisungen in ihrer Fassung bei Lukas wie bei Matthäus: Die sind zu preisen, die jetzt in Not sind, weil ihnen Hilfe zuteilwerden wird. Makárioi hoi ptōchoí, hoti humétera estin hē basileía toû theoû – Heil euch Armen, denn euer ist das Reich Gottes (Luk 6, 20).
Wieder erinnere ich an die Denkstruktur der scholastischen Seinsmetaphysik. Da kommen die Dinge mit ihrer Wahrheit in das Innen, die menschliche anima, und gleichen sich diese an, so, wie sie selbst aus der Wahrheit des Innen Gottes hervorgegangen sind. Wahrheit ist im Innen Jesu, wo die Not der Menschen es anrührt – Idōn dè toùs ochlous esplangnísthē perì autōn – „als er das Volk sah, jammerte ihn desselben; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben“ (Mat 9, 36). Sie ist aber auch dort, wo er im Heiligen Geist frohlockt:
Ich preise Dich, Vater und Herr Himmels und der Erde, daß Du solches den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart. Ja, Vater, so war es wohlgefällig vor Dir. Es ist mir alles übergeben von meinem Vater. Und niemand weiß, wer der Sohn sei, denn nur der Vater: noch wer der Vater sei, denn nur der Sohn und wem es der Sohn will offenbaren (Luk 10, 21f).
Die Wahrheit, die in solchen Worten aus dem Innen Jesu heraus aufscheint, ist nicht einfach offenkundig, eine zeitentnommene Unverborgenheit des Wesens, wie sie die großen griechischen Philosophen und in ihrer Folge doch auch die christlichen Seinsdenker suchten und gefunden zu haben meinten. Diese Wahrheit ist eine verborgene Wahrheit, weil zu der jetzigen Not die zukünftige Abhilfe mit dazugehört. Sie hält die Zeiten zusammen, sieht darum mehr, als der Augenblick zeigt. Wieder muß ich dabei vor einer zu raschen Verallgemeinerung warnen: es geht hier um die Wahrheit Jesu, nicht um Wahrheit allgemein (freilich eine Wahrheit, in der es sich mitteilt, den nēpioi, den Unmündigen, in dem eben genannten Wort).
Weil bei Jesus klar ist: nicht menschliche Bereitung, die eben darum auf göttliche Vergeltung rechnen kann, bildet die Verbindung vom jetzt hin zum kommenden Reich, sondern diese Verbindung ist gegeben in der Not jetzt, der dann Abhilfe werden wird, darum kann es auch nicht bei der säuberlichen Unterscheidung der Zeiten bleiben: jetzt ist die Zeit der menschlichen Bereitung, in der das zukünftige Heil gewonnen oder verspielt wird, dann ist die Zeit der göttlichen Vergeltung, in der er vollstreckt, was die Menschen sich jetzt selbst zugezogen haben. So sieht das zwar bis in unsere gängigen christlichen Glaubensvorstellungen hinein aus. Aber bei Jesus ist es anders. Da schieben sich die Zeiten, jetzt als die Zeit des menschlichen Handelns und dann als die Zeit der Heilsverwirklichung durch Gott, ineinander. Jetzt, wo Not nach Abhilfe schreit, kann einer doch nicht einfach vorbeigehen, wie der Priester und der Levi vorbeigingen an dem, der auf der Straße von Jerusalem hinab nach Jericho unter die Räuber gefallen war. Not, die jetzt nach Abhilfe schreit, kann ermächtigen dazu, jetzt schon das dann, die Zeit der Heilsverwirklichung Gottes in Anspruch zu nehmen. So tut das Jesus, wenn er Sünden vergibt, wenn er Kranke heilt, wenn er mit den Zöllnern und Sündern deren Teilhabe am Reich Gottes feiert. Er tut das im klaren Bewußtsein dessen, daß hier er, der Mensch, das Heil des Gottesreiches vorwegnimmt, an Gottes Stelle handelt, die Ermächtigung wahrnimmt, in seiner Menschenzeit zu tun, was Gott tut, und darin seine Menschenzeit zur Zeit Gottes zu machen: „Wenn ich aber durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen“ (Luk 11, 20).
Noch einmal verweise ich hier auf die Seinsmetaphysik, die wir als Orientierungshilfe zu unserem Fragen beiziehen wollten: Da bewegt die Wahrheit des Seienden das Innen, gleicht es sich an, und eben darin weckt sie den appetitus, das Streben, das sich auf dieses Seiende als das Gute richtet. Sehen wir zu, wie die Wahrheit von Jesus wahrgenommen wird, indem er die gegenwärtige Not mit der zukünftigen Abhilfe zusammennimmt, dann begreifen wir auch, wie das Gute Jesu darin besteht, diese Zukunft herbeizuziehen, indem er der Not abhilft. Ich setze dazu, damit das nicht zu pauschal klingt: Indem er ihm begegnender Not dort im Namen Gottes abhilft, wo er dazu ermächtigt wird. Das ist nicht jederzeit so. So konnte er in seiner Heimatstadt Nazareth „nicht eine einzige Tat tun; nur wenigen Kranken legte er die Hände auf und heilte sie. Und er verwunderte sich ihres Unglaubens“ (Mk 6, 5f). Wie die Wahrheit, die von den Jesus begegnenden Menschen her sein Innen sich Angleicht, zu dem, was jetzt ist, die Zukunft des Reiches, der göttlichen Heilsverwirklichung hinzunimmt, so bringt das Gute, in dem er sich aus diesem Innen heraus den Menschen wiederum zuwendet, diese Zukunft, die Zeit Gottes, jetzt schon zum Vorschein.
Wir denken Jesus Christus nach, wenn wir nach dem fragen, was ist. Ich weiß wohl, daß das angesichts der bedrängenden Fragen unserer gegenwärtigen Situation wie ein unnötiger Umweg aussieht, fast noch weiter ab von dem, was uns bedrängt, als die scholastische Seinsmetaphysik, von der ich mir Hinweise zum Erfassen Jesu Christi gerade in der Bestimmtheit seines Seins geben lasse. Es verlangt Aufmerksamkeit des Nachdenkens, wenn ich nun auch noch dazu auffordere, auf das zu achten, was aus dem Axiom der Konvertibilität der transzendentalen Seinsbestimmungen bei dieser Betrachtungsweise wird.
Ich erinnere daran, wie wir die Auferweckung des Gekreuzigten sich zu verstehen suchten, daß da durch Gott etwas Vergangenem Zukunft gewährt worden sei. Dieses Etwas in seiner Washeit ist der Lebenszusammenhang des Menschen Jesus von Nazareth, seine Zeit, die nun gerade nicht als leeres Kontinuum gedacht werden kann, sondern als gefüllte und erfüllte Zeit. Was hier Zukunft hat, das ist diese Zeit. Diese Zeit nun ist wahr in einer zweifachen Hinsicht, wie sich das für die reflexive Struktur des menschlichen Seins nahelegt. Sie ist wahr, sofern das Innen dieses Menschen in der Dauer seiner Zeit übereingekommen ist mit der Wahrheit des ihm begegnenden menschlichen Seins, in dessen gegenwärtiger Not er die zukünftige Abhilfe angebahnt sah. Und ist zugleich darin wahr, daß an diesem mit der Wahrheit übereingekommenen Menschsein diese Wahrheit selbst schon offenkundig geworden ist, wie das der Glaube an die Auferweckung des Gekreuzigten bezeugt. Menschenzeit ist hier im Einklang mit Gottes Zeit, der kommenden Zeit der Gottesherrschaft. Gerade in diesen Einklang mit Gottes Zeit aber läßt sich auch das Gute benennen; nicht einfach als das Gute, das er getan hat, so daß wir sagen könnten: Jesus war ein guter Mensch. Er ist viel tiefer eingelassen in dieses Gute. Es ist die Ermächtigung, Gottes Zeit in Anspruch zu nehmen. Es ist die Wahrnehmung dieser Ermächtigung im Tun. Es ist die Hilfe, in der Heilsames geschehen ist. Dies alles gehört in dieser Zeit zusammen, macht das aus, dem Gott Zukunft gewährt hat, indem er den Gekreuzigten auferweckte. Indem wir auf das Zeugnis der Schrift hören, sind wir bei dieser Zeit Jesu Christi, ihrer gefüllten Ganzheit, ihrer Wahrheit, ihrer Güte.
4.
Wenn wir die Zeit Jesu Christi so verstehen als die Menschenzeit, in der zugleich Gottes Zeit wirklich ist, fällt es nicht schwer, von hier an im Weiterdenken in die Fülle der Zeiten auszugreifen. Wie sich beim Ziehen einer Kerze Schicht um Schicht das Wachs an den Docht anlagert, so wächst Zeit, die dieser Zeit Jesu begegnet, mit ihr zusammen. Die vorwiegend doxologischen neutestamentlichen Formulierungen, die ihn als den Schöpfungsmittler wie den endzeitlichen Vollender preisen, sind ja geläufig. Ich brauche sie jetzt nicht weiter anzuführen. Ich nehme vielmehr die These, mit der ich den dritten Abschnitt begonnen habe, als Frage auf. Wir stellen uns dem, was ist, indem wir die Schrift befragen. Stellen wir uns mit dem, was ich hier christologisch auszuführen suchte, wirklich dem, was ist? Dabei setze ich jetzt einmal voraus, daß wir, die sich so stellen, selbst in dem Zusammenhang mit der Zeit Jesu stehen, im Hören des Evangeliums, in der Feier des Sakramentes. Ich setze damit auch voraus, daß wir bereit sind, uns in die Perspektive dieser Zeit einzustellen, und Wirklichkeit, die uns begegnet, in dieser Zeit wahrzunehmen.
Wir bemerken freilich rasch, daß wir mit einer solchen Bereitschaft in die Strittigkeit hineingeraten, Strittigkeit dessen, was Wahrheit ist, Strittigkeit auch dessen, was gut ist. Das setzt allerdings voraus, daß wir uns dieser Strittigkeit nicht entziehen, indem wir die Wahrheit und das Gute aufteilen: Wahrheit einer weltlichen Vernünftigkeit, die ihrer Eigengesetzlichkeit zu überlassen ist, und Wahrheit des Glaubens, die es mit dem zukünftigen Heil zu tun hat. Das Gute als Wohl des leiblichen, und eben damit auch des gesellschaftlich bestimmten Lebens in dieser Welt, das Gute als Heil der Seelen in er zukünftigen Welt. Die Perspektive, in die uns die Zeit Jesu Christi hineinstellt, nötigt uns dazu, uns zusammenzunehmen, gerade dort, wo wir in Widerspruch zu der gängigen Wahrheit und dem, was als gut gilt, geraten, weil wir uns durch Jesus dazu nötigen lassen, Welthafte Wirklichkeit nicht in ihre Augenblicksgestalt hineinzubannen, sondern mit ihrer Zukunft zusammenzunehmen.
Hier braucht es der Deutlichkeit halber vielleicht doch eine Zwischenbemerkung: Ich rede von welthafter Wirklichkeit. Das ist nicht Natur im modernen Sinne. Aber dabei ist Menschsein nun doch gerade auch im Zusammenhang mit dem es tragenden Leben überhaupt gesehen. Gewiß findet dieses Leben im Neuen Testament im Hinblick auf die Auskunft der eschatologischen Vollendung keine Berücksichtigung, sehen wir einmal ab von der exegetisch umstrittenen apokaradokía tēs ktíseōs, dem ängstlichen Harren der Kreatur, das auf die Offenbarung der Kinder Gottes wartet (Röm 8, 19). Doch läßt sich leibhaftes Menschsein in seiner Zukunft nicht anders als in Gemeinschaft mit anderem leibhaften Leben denken. Unsere Situation nötigt uns dazu, Menschsein in seiner Leibhaftigkeit und darum in seiner Einbettung in das Leben überhaupt wahrzunehmen.
Ich unterstreiche das durch ein Wort von Friedrich Christoph Oetinger:
Geist ist nicht ohne bewegende Kraft, Geist ist nicht ohne leibliches Wesen. Leibliche Unzerstörlichkeit ist das Ende der Werke Gottes. Sie ist im Geist Gottes wesentlich und in Christo körperlich und gehet leiblich und geistlich aus in alle Gläubigen und durchdringt und ergänzt endlich die ganze Kreatur, welche wieder nach ihrem ersten Ursprung seufzt; welches Sehnen nicht umsonst sein kann (WW 1. 3,27f).
Zurück zu der Wahrnehmung welthafter Wirklichkeit in der Perspektive der Zeit Jesu Christi – und darin ja zugleich in ihrer Begründung in Gott. Solche Wahrnehmung kann sich zwar auch auf das Ganze der Wirklichkeit erstrecken und wird sich dann z.B. in kritischem Widerspruch gegen die Weise Richten, wie wir modernen Menschen die Dinge nehmen. Aber zuerst einmal gilt es, die Wahrheit in das Innen hereinzulassen. Es ist gut, wenn wir dabei wahmehmen, daß dieses Innen nicht das selbstherrliche Bewußtsein ist, das sich selbst von dem Draußen abschneidet und in sich seine Gewißheit finden will.
Ego sum res cogitans, id est dubitans, affirmans, negans, pauca intelligens, multa ignorans, volens, nolens, imaginans etiam et sentiens; ut enim ante animadverti, quamvis illa quae sentio vel imaginor extra me fortasse nihil sint, illos tamen cogitandi modos, quos sensus et imaginationes appello, quatenus cogitandi quidam modi tantum sunt, in me esse sum certus.
Ich bin ein Etwas, das denkt, das heißt zweifelt, bejaht, verneint, weniges erkennt, vieles nicht weiß, will, nicht will, auch vorstellt und wahmimmt; wie ich nämlich vorhin bemerkte: wenn auch das, was ich wahmehme oder vorstelle, vielleicht außerhalb meiner nichts ist, so bin ich doch ganz sicher, daß jene Weisen des Denkens, die ich wahrnehmen und vorstellen nenne, sofern sie eben nur Weisen des Denkens sind, in mir sind. (Descartes, Meditationes de prima philosophia III, 1).
Das Innen spürt sein Außen, Leibhaftigkeit. Vielleicht fängt die Wahrnehmung der Wahrheit welthafter Wirklichkeit sogar an im bewußten Erleiden dessen, was meinem leibhaften Menschsein widerfährt. Der Streß, dem ich ausgesetzt bin, wäre dann in der Perspektive der Zeit Jesu gerade nicht Anzeichen für das nahe Ende eines Menschseins, das sich selbst zerstört, sondern Zeichen der Hoffnung. Doch ich kann hier nicht weiter ins Detail gehen.
Wichtig scheint mir, daß wir uns hier in der Anforderung an uns selbst nicht übernehmen. Gewiß ergibt sich aus dem, was ich darlegte, die Forderung, Welt in dieser Perspektive Jesu und also auf ihre Zukunft hin wahrzunehmen. Aber dieser Forderung kommen wir genau dort und nur dort nach, wo uns die Ermächtigung zu solcher Wahrnehmung begegnet. Da kann es dann zu dem Vertrauen kommen, daß diese unsere Welt wahr ist, eine menschliche Welt. Freilich ist das nun nicht eine Wahrheit, die einfach am Tage liegt. Sie zeigt sich vielmehr in der Differenz zwischen dem jetzt und dem dann, dem jetzt, das Not heißt, und dem dann der Abhilfe. Darum braucht es ja die besondere Ermächtigung zu solcher Wahrnehmung, wie sie uns je und je entgegenkommt aus der welthaften Wirklichkeit, um unser Innen zu bestimmen.
Erst recht braucht es diese Ermächtigung, um das Gute geschehen zu lassen, daß das Kommende jetzt schon zum Vorschein bringt. Wieder bemerke ich dazu: Dieses Gute kann und soll auch als allgemeingültige Norm ausgearbeitet werden, z.B. im Widerspruch gegen die hemmungslose Verwandlung der Natur in durch Menschen zu verbrauchende technische Möglichkeiten so: Verbrauche nicht mehr solche Möglichkeiten, als dir zustehen; verbrauche nicht mehr solche Möglichkeiten, als du wieder in den Ablauf der Natur hineingeben kannst!
Aber entscheiden ist doch auch hier wieder die Ermächtigung, in er es allein zum Gelingen kommen kann. Dabei denke ich jetzt nicht nur an das, was wir tun. Wahrscheinlich gehört es zu den Geheimnissen des Reiches Gottes, daß solches Tun in aller Regel verborgen ist (wie das in er Bildrede vom Endgericht Mt 25, 31-46 ausgesprochen ist: Die da die Werke der Barmherzigkeit getan haben, für die war solches Tun gar nichts Besonderers, das sie behalten hätten, ganz gewiß nicht das Tun, das ihre Menschenzeit heilsam mit der Zeit Jesu Christi verbunden hat). Ich denke vielmehr an das Gute, das uns widerfährt, befreiend, beglückend, ermutigend. Auch da braucht es sicher Aufmerksamkeit. Solche Aufmerksamkeit kann man lernen, am leichtesten vielleicht so, daß man danken lernt.
Wenn wir die christologischen Überlegungen so weiterführen, wie ich das andeutete, wenn sie uns aufmerksam machen auf das Wahre und das Gute unserer Welt, wenn wir damit unsere Erfahrungen machen, dann läßt sich die These wohl aufrechterhalten: Wir stellen uns dem, was ist, indem wir die Schrift befragen. Noch einmal: Hier dann aufmerksamer zu leben, das wird uns in Widerspruch bringen zu gängigen Meinungen und Wertungen. Aber solcher Widerspruch kann heilsam sein gerade auch für die, denen widersprochen wird.
Doch genügt dieser Hinweis allein vielleicht noch nicht ganz. Ich muß deshalb noch zu einer neuen Überlegung ansetzen, um das noch etwas abzurunden, was ich sagen möchte.
5.
Der Problemaspekt, an dem wir noch ein Stück weit weiterzudenken haben, läßt sich in einer doppelten Frage formulieren: Können denn ein paar aufmerksame Christen die Titanic von ihrem Kollisionskursabbringen, die selbstzerstörerischen Tendenzen unserer Technik in eine heilsame Richtung wenden, daß sie dem Leben, nicht nur dem menschlichen Leben, dienen statt es zu bedrohen? Oder umgekehrt: Braucht es eigentlich für solche Aufmerksamkeit, die ihr Innen durch die Wahrheit welthafter Wirklichkeit bestimmen läßt, und die darum im Guten mit dem Guten dieser Wirklichkeit umgeht, den christlichen Glauben samt den exegetischen und dogmatischen Überlegungen, um die wir mit unserer Theologie uns bemühen? Wir versuchen auf diese Fragen eine differenzierte Antwort, wobei ich allerdings wie der nur die Richtung andeuten kann, in der weiterzudenken wäre.
Einmal kann es sicher nicht Sache des Glaubens oder der Glaubenden sein, das zu monopolisieren, was ich als Aufmerksamkeit auf die welthafte Wirklichkeit bezeichnet habe. Die Gewißheit, daß Gottes Zeit mit unserer Menschenzeit in Jesus Christus verbunden ist auf die heilsame Zukunft des Gottesreiches hin, fordert vielmehr Vertrauen in die lebendige Einsicht jedes Menschen; ich könnte von Solcher Einsicht, solchem Lebensinstinkt auch in Anlehnung an den schon einmal angeführten Friedrich Christoph Oetinger als von dem sensus communis reden, dem, was das Herz des Menschen bestimmt. Dabei halte ich es für sinnlos, hier dann wieder die alte Streitfrage der „natürlichen Theologie“ aufzuwerfen und also zu behaupten oder zu bestreiten, daß in solcher Einsicht des Lebens Gott in seiner Gegenwart bei der welthaften Wirklichkeit erfaßt werde. Nicht das steht hier in Frage. Es geht vielmehr um Hinweise darauf, daß der Dualismus des modernen Weltverhaltens das Leben nicht einfach so im Griff hat, daß es ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert wäre. Dieser Dualismus stößt auf Widerstand. Darin aber zeigt sich die Macht der einmaligen Lebenszeit, die sich nicht einfach manipulieren und aufbrauchen laßt, sondern die auf ihrem Recht besteht.
Solche Einsicht des Lebens zeigt sich z.B. in der Art und Weise, wie Menschen leiden. Es gibt doch wohl nicht bloß seelisches, innerliches und bloß körperliches, äußerliches Leiden. Vielmehr ist in solchem Leiden – einmal ganz abgesehen davon, welche Ursache wir dafür finden – Menschsein zusammengenommen in die leibhafte Einheit seines Lebens. Dabei ist die moderne Grundhaltung, alles bestimmen zu wollen, wie ich sie durch das Fichte-Zitat illustriert habe, umgekehrt. Leiden ist ein Bestimmtwerden durch das, was wir nicht wollen. Aber gerade dadurch kann sich Leben erneuern; wir wissen, wie Menschen durch Zeiten des Leidens verändert werden können, und Welche Kostbarkeit eine solche Leidenszeit für den sein kann, der auf sie zurückblickt.
Solche Einsicht des Lebens zeigt sich im Mitleiden. Clevere Naturschützer und Showmaster verstehen es, solches Mitleiden zu organisieren und daraus Geld und Popularität zu ziehen. Aber noch in dieser Perversion, die mit dem Mitleiden ihre Geschäfte macht, ist Einsicht des Lebens offenkundig. Menschen können mitleiden, wie sie sich mitfreuen können. Vielleicht ist das, was aus solchem Mitleiden als Tun folgt, unnütz und töricht und ohne Dauer, wie bei einem Kind, das den aus dem Nest gefallenen Jungvogel im Pappkarton bettet und ihm ein paar Brotkrumen als Futter hinlegt, und hat ihn bald über, weil diese gut gemeinte Fürsorge gar nicht angenommen werden kann. Aber solches Mitleiden läßt sich auch belehren.
Einsicht des Lebens zeigt sich im Gefühl für Gerechtigkeit und der Entrüstung über das Unrecht. Solches Gerechtigkeitsgefühl wehrt sich gegen den Zugriff, der Leben, menschliches Leben, aber auch anderes Leben, den Biotop eines stillen Tales etwa, durch das eine Straße geführt werden soll, nur daraufhin nimmt, wie es in technisch auszunützende Möglichkeiten verwandelt werden kann. Ob solches Gefühl für Gerechtigkeit sich durchsetzt, ob das technische Wollen der Entrüstung weicht oder sich über sie hinwegsetzt, fragt sich von Fall zu Fall. Entrüstung über Unrecht, die sich nicht durchzusetzen vermag, verwandelt sich dann wieder in Leiden. Aber darin ist die Einsicht des Lebens nicht weggewischt. Sie bleibt.
Die Aufmerksamkeit, in der der Glaubende sein Innen durch die Wahrheit und Güte welthafter Wirklichkeit und darin durch die Gegenwart der Zeit Gottes bestimmen läßt, sieht sich verbunden und verbündet mit dem, was ich Einsicht des Lebens genannt habe, dem Herzen des Menschen. Gewiß liegt dieses Herz nicht einfach zutage, es ist oft genug überdeckt von dem Willen zu herrschen und zu genießen, von der Verständigkeit, die der eigenen Einsicht mißtraut. Etwa deshalb, weil sie von dem Erfolg der Technik geblendet ist und darum sich gegen ihr eigenes Herz wendet. Aber das muß und wird nicht so bleiben, wo Gott unkenntlich und verborgen wirksam ist und unsere Menschenzeit an sich nimmt und zur Zeit Jesu Christi hinzutut. Das ist der eine Teil der Antwort auf die Frage, on denn die Aufmerksamkeit auf die Wahrheit und Güte welthafter Wirklichkeit allein Sache des Glaubens sei, und was dieser Glaube angesichts der bedrängenden Probleme unserer Situation zu wirken vermöge.
Andererseits aber – ich sprach ja von einer differenzierten Antwort, die wir auf die aufgeworfenen Fragen zu geben haben – kann sich der Glaube nicht einfach mit dem menschlichen Herzen, mit der Einsicht des Lebens identifizieren. Er weiß mehr, weil er her kommt vom Zeugnis der Auferweckung des Gekreuzigten. Das braucht nicht überheblich zu machen gegenüber der Einsicht des Lebens. Aus solcher Einsicht können Kräfte und Taten frei werden, die den Glaubenden beschämen, weil er dort andere Menschen schon lange bei dem Tun sieht, das eigentlich seine Sache wäre. Aber es darf nicht vergessen werden, daß das Leben jetzt seine Zukunft hat. Für diese Zukunft kann nicht das Herz des Menschen, für diese Zukunft kann nur der Glaube einstehen. Das Herz mag sich zwar gegen die wissenschaftliche Prognose wehren, die alles, was ist, im vollendeten Chaos der Entropie verenden läßt. Aber es kann dem modernen Prinzip der Vergänglichkeit, das hier seinen kosmologischen Horizont hat – irgendwann einmal sind eben alle Möglichkeiten der Natur verbraucht – nicht widersprechen. Dazu aber ist der Glaube aufgerufen, der hier dann sagen kann, was Jesus den Sadduzäern entgegenhielt, die an der Auferstehung der Toten zweifelten: „Ihr irret darum, daß ihr die Schrift nicht kennt noch die Kraft Gottes“ (Mk 12, 24).
Quelle: Hervormde Teologiese Studies (HTS), Vol. 42, No. 4 (1986), pp. 652-673.